# taz.de -- Erdbeben und Verantwortung: Die Sache mit dem Schicksal | |
> Höhere Gewalt entzieht sich der Einflussnahme. Doch das Ausmaß der | |
> Erdbebenkatastrophe in der Türkei hat von Menschen gemachte Ursachen. | |
Bild: Erdoğan in Kahramanmara am Mittwoch, 3 Tage nach dem Erdbeben | |
Im Türkischen gibt es diese Redewendung: Geografie ist Schicksal. Es ist | |
ein wehmütiger Spruch, einer, der sich vor allem auf die negativen | |
Einflüsse bezieht, die die geografischen Bedingungen eines spezifischen | |
Orts auf die dort lebenden Menschen haben. Unausgesprochen impliziert er, | |
dass es dem Menschen in einer anderen Region, einer westlicheren etwa, | |
besser ergehen würde. | |
Zugleich verneint aber der Schicksalsgedanke, dass die Situation änderbar | |
ist. Die Vorbestimmung entzieht sich der Entscheidungsfreiheit des | |
Menschen, weshalb eine Auflehnung oder Vorkehrungen sinnlos sind: Es ist | |
schrecklich, wie es ist, aber so ist es nun einmal. | |
Von Schicksal sprach auch der [1][türkische Präsident Erdoğan am Mittwoch], | |
als er mit drei Tagen Verspätung im Epizentrum des verheerenden Erdbebens, | |
im kurdisch-alevitischen Pazarcık, eintraf. Keine Frage, das Wort passt | |
wunderbar zur religiösen Haltung der Regierungspartei AKP sowie zum | |
politischen Vokabular eines Staatsoberhaupts, das die eigene Autorität mit | |
dem Gehorsamsprinzip der Gottesfürchtigen zu rechtfertigen sucht. | |
Aber es gehört schon eine besondere Dreistigkeit dazu, vor eine Gruppe von | |
Menschen zu treten, die seit Tagen [2][bei Minusgraden auf den | |
Katastrophenschutz warten], weil ihre Angehörigen in den Trümmern ihrer | |
Häuser begraben sind, vielleicht noch schreiend, vielleicht bereits | |
erfroren, und von Schicksal zu reden – anstatt von Verantwortung. | |
Gewiss lässt sich der genaue Zeitpunkt und Ort eines Erdbebens nicht | |
berechnen, verhindern lässt sich ein Erdbeben auch nicht. Insofern entzieht | |
es sich jeder Willenskraft, existiert als höhere Gewalt. Doch lässt sich | |
durchaus erforschen, in welchen Regionen stärkere Erdbeben erwartet werden, | |
und dass die Türkei sich in einer tektonischen Hochrisikozone befindet, ist | |
hinlänglich bekannt. Vorkehrungen können getroffen werden. | |
## AKP und Korruption | |
Das Erdbeben mag ein naturgegebenes Schicksal sein, das [3][Nichteintreffen | |
des Katastrophenschutzes] in weiten Teilen des Landes ist es nicht. Das | |
Einstürzen angeblich erdbebensicherer Hochhäuser ist es auch nicht. Und die | |
Einschränkung der sozialen Netzwerke, wo Betroffene Informationen mit | |
potenziellen Helfer_innen teilten, ist alles andere als Schicksal. Die | |
Sperrung wurde staatlich angeordnet, wie das Ministerium für Kommunikation | |
am Mittwochabend bestätigte. „Desinformation“ lautet die offizielle | |
Begründung; Regierungskritik unterbinden, vermuten Oppositionelle. | |
Unterlassene Hilfeleistung ist das Eine. Vorkehrungen bewusst abzulehnen, | |
um sich an den dafür nötigen Ressourcen zu bereichern, das Andere. Seit dem | |
[4][Korruptionsskandal Ende 2013] ist bekannt, dass die Familie Erdoğan und | |
einige AKP-Minister profitable Beziehungen zum Bausektor pflegen. Zudem | |
werden Fragen laut, wo die seit dem letzten großen Erdbeben 1999 erhobenen | |
Erdbebensteuern abgeblieben sind. 37 Milliarden US-Dollar sollen seitdem | |
von den Bürger_innen eingesammelt worden sein, für eine erdbebensichere | |
Bebauung. | |
Ex-Finanzminister Mehmet Şimşek behauptet in einem gerade wieder | |
aufgetauchten Video von 2011, das Geld sei zweckentfremdet und teilweise | |
für das Rückzahlen von Staatsschulden verwendet worden. Allein die | |
Gegenüberstellung der staatlichen Haushaltsmittel der Religionsbehörde | |
Diyanet (35 Milliarden türkische Lira) und des Katastrophenschutzes Afad (8 | |
Milliarden) verdeutlicht, wie wenig den Staat das körperliche Wohlergehen | |
seiner Bürger_innen kümmert. | |
„Der Mensch braucht Gott. Er ist machtlos gegen das Schicksal“, heißt es an | |
einer Stelle in Bertolt Brechts „Die Mutter“. Brecht, [5][dessen 125. | |
Geburtstags dieser Tage gedacht wird], begreift das Schicksal aber nicht | |
als unabwendbares Los, sondern als ein durch Humanismus formbares, wenn er | |
antworten lässt: „Wir sagen: Das Schicksal des Menschen ist der Mensch.“ | |
10 Feb 2023 | |
## LINKS | |
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[3] /Erdbeben-in-der-Tuerkei/!5910955 | |
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[5] /125-Geburtstag-von-Brecht/!5914586 | |
## AUTOREN | |
Fatma Aydemir | |
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