| # taz.de -- Staat und Kanon: Wie wir zu lesen haben | |
| > In Deutschland und der Türkei stehen zwei Bücher zur Diskussion, oder | |
| > besser: wie wir sie lesen sollen. Dabei ist das von unserem Erlebten | |
| > geprägt. | |
| Bild: Beneidenswerte Konzentrationsfähigkeit: eine Romanleserin in der U-Bahn | |
| Jedes Mal, wenn ich in der U-Bahn oder im Wartezimmer einer Arztpraxis | |
| jemanden in einen aufgeschlagenen Roman vertieft sehe, spüre ich ein | |
| leichtes Kribbeln und packe beschämt mein Smartphone weg. Es ist eine Art | |
| Ehrfurcht, als stünde ich vor einem Zeitreisenden, als platzte ich in | |
| dessen Tempel und entweihte ihn mit dem Vibrieren des profanen Geräts, das | |
| wie eine kantige Verlängerung aus meiner Handfläche ragt. Und es ist ein | |
| bisschen Neid auf die Konzentrationsfähigkeit der Lesenden, die nicht erst | |
| an den See fahren oder einen freien Tag haben müssen, um sich in Literatur | |
| zu versenken. | |
| Romane können Unterhaltung sein, klar, aber sie verlangen uns eine ganz | |
| andere Verbindlichkeit ab als das, was uns heute viel eher als Unterhaltung | |
| in den Sinn käme. Romane zu lesen erfordert eine Aufmerksamkeit, die für | |
| [1][das Bingen einer Serie] völlig unnötig wäre. Spätestens am Anfang der | |
| nächsten Folge wird mir ohnehin nacherzählt, was mir beim Wäschefalten | |
| womöglich entgangen ist. Dafür geben uns Romane in gewisser Weise aber auch | |
| mehr: mehr Deutungsmöglichkeiten, mehr Verspieltheit und mehr Raum für das | |
| eigene Erlebte, das in der Begegnung mit Romanfiguren und deren Konflikten | |
| immer nachhallt. | |
| Insofern ist die Annahme, man könne vorgeben, wie ein Roman zu lesen und | |
| verstehen sei, nicht nur falsch, sondern geradezu lächerlich. Das soll kein | |
| Affront gegen die Literaturwissenschaft sein, deren Aufgabe ja eher im | |
| Auffächern verschiedener Deutungsebenen in bestimmten kulturhistorischen | |
| und ästhetischen Kontexten besteht. | |
| Wenn es sich jedoch nicht um Möglichkeiten, sondern um Vorgaben handelt, | |
| die auch noch von staatlicher Seite kommen, ist stets äußerste Vorsicht | |
| geboten. Denn diese übergestülpte Lesart übergeht nicht nur | |
| Gewalterfahrungen eines Teils der Leser_innenschaft, die beim Lesen | |
| ebenfalls nachhallen. Sie erzählt uns auch etwas über den Umgang eines | |
| Staats mit seinen Minderheiten, wie zwei aktuelle Fälle zeigen. | |
| ## Zwei Fälle von Anmaßung | |
| So beschloss vor wenigen Wochen ein türkisches Gericht, dass ein vor neun | |
| Jahren erschienener Roman („Rüyasi Bölünenler“) [2][des kurdischen | |
| Schriftstellers Yavuz Ekinci] nicht mehr gedruckt und verbreitet werden | |
| darf, weil er angeblich Propaganda für die PKK betreibe. Etwa zur selben | |
| Zeit entbrannte hierzulande eine Debatte um [3][Wolfgang Koeppens | |
| Nachkriegsroman „Tauben im Gras“ von 1951], weil er trotz rassistischer | |
| Sprache und Protest von Schwarzen Lehrer_innen, Schüler_innen sowie | |
| Verbündeten in Baden-Württemberg Abi-Pflichtlektüre bleiben soll. | |
| Zugegeben, der eine Fall lässt sich nicht direkt mit dem anderen | |
| vergleichen, wird auf der einen Seite doch das emanzipatorische Werk eines | |
| Autors von einem autoritären Staat zensiert, auf der anderen Seite die | |
| Forderung nach einem rassismuskritischen Pflichtlektüre-Kanon an Schulen | |
| abgelehnt und als „Zensur“-Versuch verteufelt. | |
| In beiden Fällen jedoch maßt sich eine staatliche Institution an, bestimmen | |
| zu können, wie eine literarische Erzählung zu deuten sei – und in beiden | |
| Fällen will sich die Leser_innenschaft ein eigenes Bild davon machen. So | |
| verraten Suchmaschinen-Statistiken, dass seit zwei Wochen wie verrückt nach | |
| einer PDF-Version von Yavuz Ekincis verbotenem Roman gegoogelt wird. Der | |
| Klassiker „Tauben im Gras“ wiederum schoss über Nacht auf die | |
| Bestsellerliste von Amazon. | |
| Wie aufregend, dass in einer Zeit, in der angeblich kaum mehr jemand liest, | |
| solche Debatten geführt werden. Wie richtig, dass wir anhand von Literatur | |
| diskutieren, wie wir uns eine bessere Gesellschaft vorstellen. Natürlich | |
| stimmt es, dass ein literarisches Werk immer auch ein Dokument seiner | |
| Entstehungszeit ist. Die Behauptung und Verteidigung eines Kanons gegenüber | |
| emanzipatorischer Kritik sagt jedoch genauso viel über das | |
| Selbstverständnis einer Nation zum jeweiligen Zeitpunkt aus. | |
| 8 Apr 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Fatma Aydemir | |
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