Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Rassismus in „Tauben im Gras“: Aus Fehlern darf gelernt werden
> Ein Wolfgang-Koeppen-Roman soll Abiturlektüre werden, trotz rassistischer
> Passagen. Doch ihre Reproduktion taugt nicht für antirassistische
> Bildung.
Bild: Die Vermittlung von Vergangenheit ist wichtig, sollte aber zeitgemäß se…
Abiturient:innen an beruflichen Gymnasien in Baden-Württemberg sollen
für das Abitur 2024 Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ [1][als
Pflichtlektüre lesen]. Aufgrund des Rassismus in diesem Roman hat die Ulmer
Deutschlehrerin Jasmin Blunt gegen diese Vorgabe eine Petition auf den Weg
gebracht.
Das Kultusministerium in Stuttgart hat bisher abwehrend reagiert. Offenbar
gibt es keinen Grund zur Sorge, weil Lehrer:innen in Fortbildungen
ausreichend geschult worden seien und den Roman im Unterricht zum Anlass
nehmen könnten, um über Rassismus zu sprechen.
Die Frage, ob der Roman für die Schullektüre überhaupt geeignet ist, wird
nicht ernsthaft gestellt. Um sie zu beantworten, müssten allerdings ganz
andere Fragen gestellt werden, nämlich erstens, was gemeint ist, wenn von
Rassismus in Koeppens [2][Roman gesprochen wird], und zweitens, mit welchem
Ziel in der Schule eigentlich Literatur gelesen werden soll und welche
Konsequenzen das für die Textauswahl hat.
Zur ersten Frage: In rassistischer Sprache drücken sich Einstellungen und
Weltvorstellungen aus, die Menschen ihre Ebenbürtigkeit und Menschlichkeit
absprechen. Entsprechend taucht Rassismus in Koeppens Roman auf, wenn
Gefühle und Phantasmen von weißen zu Schwarzen Figuren beschrieben werden.
## Reproduktion von Rassismen
Sie werden nicht einfach erzählt, sondern mittels einer Montagetechnik
zusammengestellt, mit dem Effekt, dass ein sehr verdichtetes Porträt der
Figuren wie auch ihrer Vorstellungswelt entsteht.
[3][Die rassistischen Einstellungen] der Figuren sollen durch diese
Zuspitzung im Roman sicherlich kritisch vorgeführt werden. Wenn der Roman
für seine Rassismuskritik jedoch im Modus der Verdichtung arbeitet, dann
reproduziert er Rassismen (und Sexismen) in konzentrierter Form. Das macht
ihn sehr gewalttätig.
Es sind zum Teil verstörende Passagen, wenn es zum Beispiel um die Figur
Carla geht, die lustvoll von ihrer Vergewaltigung träumt: „In der sechsten
Woche hielt Carla es nicht mehr aus. Sie träumte von N*****. […] Schwarze
Arme griffen nach ihr: wie Schlangen kamen sie aus den Kellern“. – Es sind
Passagen, die man eigentlich nicht mehr zitieren möchte oder zitieren
sollte, aber offenbar angesichts des Insistierens vonseiten der
Verantwortlichen in ihrer Drastik noch einmal zitieren muss.
Auch die Erzählinstanz selbst findet keine antirassistische Sprache, wenn
sie Schwarze Figuren beschreibt – obwohl sie zu den „positiv“ gestalteten
gehören sollen. Mit Blick auf den Versuch einer Rassismuskritik scheint
dieser Rassismus ungewollt zu sein. Dennoch werden zentrale Schwarze
Figuren vor allem über Körperlichkeit, Sexualität und Animalität bestimmt.
Wenn der Roman dazu das ganze Arsenal exotistischer und primitivistischer
Stereotype der Moderne benutzt, von „Lendenstärke“ oder „Tierhaftigkeit�…
spricht, dann zeigt sich vor allem, wie tief rassistische Vorstellungen in
den 1950er Jahren verwurzelt sind – und wie schwierig es ist, eine
nichtrassistische, gewaltfreie Sprache zu finden, um über Rassismus zu
sprechen.
## Wirkung muss kritische reflektiert werden
Ein literaturwissenschaftliches Lesen ist immer ein zweifaches: ein
analytisch-distanzierendes und ein ästhetisches, das den Wirkungen eines
Textes folgt – auch wenn sie dann kritisch reflektiert werden. Ästhetische
Wirkungen sind trotzdem da und lassen sich nicht einfach ausklammern. Sie
in einer gewaltfreien Sprache zu formulieren, ohne sie zu reproduzieren,
ist eine große Herausforderung, auch in der Hochschullehre.
Wenn Menschen in unserer Gesellschaft nun sagen, dass sie sich durch die
Sprache des Romans verletzt fühlen, haben sie möglicherweise
Diskriminierungserfahrungen, die beim Lesen des Romans aktualisiert werden.
Das nicht ernst zu nehmen, bedeutet, ihre Erfahrungen nicht ernst zu nehmen
und andere Lebenserfahrungen und Lernbiografien bei der Auswahl der
Pflichtlektüre zu privilegieren: solche, in denen Diskriminierung keine
Rolle spielt.
Das widerspricht dem Grundsatz der Chancengleichheit und nimmt in Kauf,
dass sich Schüler:innen mit Diskriminierungserfahrung erst durch
ihre verletzenden, vielleicht traumatischen Erfahrungen hindurcharbeiten
oder sie verdrängen müssen, bevor sie sich analytisch mit dem Text
auseinandersetzen können.
Abgesehen davon ist es vielleicht auch für Schüler:innen ohne
Diskriminierungserfahrung nicht erstrebenswert, auf diese Weise mit
Rassismus konfrontiert zu werden.
Zur zweiten Frage: Was soll Schüler:innen im Literaturunterricht
eigentlich vermittelt werden, wenn historische Texte gelesen werden?
## Ein Literaturkanon muss inklusiv sein
Literatur hat ja keinen Wert an sich. Und unser Blick auf Literatur ist
auch nicht unveränderlich. Im Gegenteil, mit der Veränderung unserer
Gesellschaft verändert sich auch unser Blick auf das kulturelle Erbe und
Gedächtnis.
Wie die gegenwärtige Restitutionsdebatte ist auch die Literatur von diesem
Prozess nicht ausgenommen. Wenn Literatur ein positiver Bezugspunkt sein
soll – und zwar für alle –, weil sie Wissen und Erfahrungen aus anderen
Zeiten vermitteln kann, dann müssen wir mit Blick auf die gegenwärtigen
Veränderungen und nicht zuletzt mit Blick auf die Diversität und Pluralität
unserer Gesellschaft entsprechend auswählen.
Wir müssen überlegen, was wir dafür tun können und müssen, damit unser
Literaturkanon auch in historischer Perspektive inklusiv und nicht exklusiv
ist. Angesichts der Weltlage ist die Entscheidung, die Trümmer- und
Nachkriegsliteratur in der Pflichtlektüre präsent zu halten, sicherlich
richtig.
Aber es muss nicht unbedingt Koeppens Roman sein. Und ja, Rassismus gehört
als Thema auch an die Schule und in den Deutsch- und Literaturunterricht.
Wenn aber Lernen vor allem am Modell geschieht, dann macht es mehr Sinn,
Texte zu wählen, die Rassismus in einer nichtrassistischen Sprache
verhandeln. Dann wäre der Lernweg auch kürzer.
Darüber hinaus frage ich mich, warum wir Jasmin Blunt nicht danken.
Offenbar ist keinem bei der Textauswahl aufgefallen, wie kontrovers die
Koeppen’sche Rassismuskritik aus heutiger Perspektive diskutiert werden
muss. Offenbar haben die, die wir – wie ich – zur weißen
Mehrheitsgesellschaft ohne Diskriminierungserfahrung gehören, selbst
nach den vielen Black-Lives-Matter-Protesten 2020 auch in Deutschland immer
noch nicht genügend Sensibilität und Erfahrung, es von allein zu bemerken.
Die Autorin ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an
der Universität Tübingen
28 Mar 2023
## LINKS
[1] /Debatte-ueber-Koeppen-Lektuere/!5921999
[2] /Buch-ueber-antirassistische-Kaempfe/!5844511
[3] /Rassismus-in-Kinderbuechern/!5826402
## AUTOREN
Sigrid Köhler
## TAGS
deutsche Literatur
Schwerpunkt Rassismus
Antirassismus
Deutsche Geschichte
Schlagloch
Diskriminierung
Schwerpunkt Rassismus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Debatte um rassistische Sprache: Höllen der Väter
Wolfang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ ist eine Zumutung. Aber mit
semantischen Schonzonen lassen sich andere Realitäten nicht durchdringen.
Antidiskriminierungsgesetz: Appell an Ataman
Wer rassistisch oder ableistisch diskriminiert wird, kann in Deutschland
klagen. Ein Bündnis sieht Lücken und fordert eine Neuerung des Gesetzes.
Buch über antirassistische Kämpfe: Wenn Weiße Retter spielen
Die nigerianisch-irische Autorin Emma Dabiri rechnet in ihrem Buch mit
Rassismus ab. Ins Gericht geht sie auch mit falsch verstandenem
Antirassismus.
Kommentar zum Kunstfund: Restitution geht vor Bodenfund
Die Funde bedeuten eine hohe Verantwortung, die Berlin für die Objekte,
deren Geschichte und Zukunft wahrzunehmen hat. Der Skulpturenfund verweist
auf die Moral und die Praxis, wie wir mit dem Raub und dem Unrecht der
Nazis umzugehen haben.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.