# taz.de -- Erdbeben in der Türkei: „Wir hören Schreie“ | |
> Die Hilfsbereitschaft in der Türkei ist nach dem Erdbeben enorm. | |
> Rettungsmaßnahmen sind angelaufen – doch die Kälte erhöht den Zeitdruck. | |
Bild: Eingestürzte Gebäude in der Hafenstadt İskenderun in der türkischen P… | |
Mehrere Männer liegen auf dem Bauch vor den Resten eines ehemals | |
zehnstöckigen Hauses. Sie horchen auf die Rufe aus dem Innern des | |
Trümmerberges. „Wir hören die Schreie, aber können nichts machen“, ruft | |
einer. Ein anderer sagt: „Es gibt keine Rettungskräfte, keine Hilfskräfte, | |
keine Soldaten, niemand. Dieser Ort ist von aller Hilfe verlassen“. | |
Die Szene aus der Stadt Antakya in der türkischen Provinz Hatay verbreitete | |
sich am Dienstag in sozialen Netzwerken. Der nahe gelegene Flughafen ist | |
zerstört, viele Straßen sind nicht mehr befahrbar. Die Stadt mit ihren rund | |
200.000 Einwohner*innen hat das [1][Erdbeben vom Montagmorgen] wohl am | |
härtesten getroffen. Auch viele der rund 100.000 syrischen Geflüchteten in | |
Antakya und Umgebung sind gestorben. | |
Warum, fragten am Montagabend verzweifelte Angehörige, schickt der Staat | |
nicht die Marine, um Hilfsgüter und Suchmannschaften in die Region zu | |
bringen? Die ersten Helfer*innen trafen am Dienstag in Hatay ein. [2][Am | |
Morgen erklärte Präsident Recep Tayyip Erdoğan den Ausnahmezustand für | |
Hatay und neun weitere Provinzen.] Die zehn am stärksten betroffenen Städte | |
der Türkei, darunter auch Antakya, wurden zu Katastrophengebieten erklärt. | |
Damit ist die Grundlage geschaffen, dass Soldat*innen in großer Zahl | |
anrücken können. | |
Für viele, die den Zusammenbruch ihrer Häuser zunächst unter den Trümmern | |
überlebten, könnte das Militär aber schon zu spät kommen. Die Nacht auf | |
Dienstag war die kälteste in diesem Winter im Südosten der Türkei. Die | |
Temperaturen fielen bis auf minus fünf Grad. Unter Trümmern begrabene | |
Menschen dürften nach der Katastrophe, die um vier Uhr am Montagmorgen | |
begann, diese zweite Nacht in der Kälte kaum überlebt haben. Jedoch sei es | |
noch zu früh, um aufzugeben, sagt Marten Mylius, Nothilfekoordinator bei | |
der Hilfsorganisation Care gegenüber der taz am Dienstagnachmittag. „Wunder | |
geschehen immer wieder.“ | |
## Bis zu 20.000 Tote | |
Zahlen, wie viele Personen unter ihren Häusern begraben wurden, gebe es | |
nicht, teilte die Koordinatorin des Deutschen Roten Kreuzes, Charlotte von | |
Lenthe, mit. Bilder der Zerstörung lassen aber erahnen, dass es viele | |
Tausend sein müssen. Allein in Antakya hatte man bis Dienstagnachmittag 890 | |
Tote gezählt. Insgesamt sind in der Türkei und Syrien bis | |
Dienstagnachmittag zwischen 5.000 und 6.000 Menschen tot geborgen worden. | |
Hilfsorganisationen befürchten, dass diese Zahl sich noch vervielfachen | |
könnte; Expert*innen rechnen mit bis zu 20.000 Toten. | |
Er arbeite seit zwanzig Jahren in der Nothilfe, doch das Erdbeben vom | |
Montag sei für ihn eine besondere Katastrophe, sagt Mylius. Einerseits | |
bestehe im türkisch-syrischen Grenzgebiet zwar eine ausgezeichnete | |
Hilfsinfrastruktur mit Büros, Mitarbeiter*innen, die bereits vor Ort waren, | |
und Lagerhallen mit Hilfsgütern wie Decken oder Hygienekits. Dies bedeutet | |
andererseits aber auch, dass die Nothelfer*innen selbst betroffen sind. | |
„Unsere Helfer stehen auf der Straße im Schnee, unsere Büros und Lager sind | |
teilweise beschädigt. Die Helfer stecken selber mitten in der Katastrophe.“ | |
Allein der Kontakt zu den Mitarbeiter*innen vor Ort sei schwierig. | |
Telefone gingen aus, weil kein Strom vorhanden sei. Hinzu kommt, dass | |
Straßen nicht befahrbar, Flughäfen beschädigt, Hotels möglicherweise | |
einsturzgefährdet sind. „Eine lange Liste an Problemen“, sagt Mylius. | |
Trotz der Schwierigkeiten konnten etliche Tausend Menschen vom türkischen | |
Katastrophenschutz Afad gerettet werden. Gesundheitsminister Fahrettin Koca | |
hatte am Montagabend von rund 8.000 Geretteten gesprochen. Vor allem diese | |
geglückten Rettungen sind in den regierungsnahen TV-Kanälen zu sehen, | |
während das Internet voll ist von Szenen wie der in Antakya. | |
## Große Solidaritätswelle angerollt | |
Über alle Partei-, Religions- und ethnischen Grenzen hinweg ist eine | |
Solidaritätswelle angerollt. In Istanbul, Izmir und den anderen Großstädten | |
des Landes sind von privaten Initiator*innen, aber auch von | |
Stadtverwaltungen Sammelstellen eingerichtet worden. In Scharen liefern | |
ganze Nachbarschaften warme Kleidung, Kohleöfen, Decken, Verbandszeug oder | |
was sonst gebraucht werden könnte ab. Wer nicht bis zu einer Sammelstelle | |
gehen will, kann einen Sack Kleidung oder Decken bei jeder Poststelle | |
abgeben. | |
Die Schlangen vor den Blutspendestationen in Istanbul sind so lang, dass | |
die Leute gebeten werden, einen Termin für die folgenden Tage zu machen. | |
Als bekannt wurde, dass zu wenige Helfer*innen im Katastrophengebiet | |
sind, fuhren Tausende überwiegend junge Männer in Istanbul zum Flughafen, | |
um in das Krisengebiet zu reisen. Jedoch gibt es zu wenig Flüge und intakte | |
Flughäfen in der Region. Die meisten Helfer*innen landen in Adana. Die | |
Stadt ist zwar auch betroffen, liegt aber am Rand des Katastrophengebiets. | |
Auch die internationalen Katastrophenhelfer*innen – die ersten kamen | |
aus Israel und Griechenland – landeten am Dienstag in Adana. Von dort ist | |
es jedoch wegen der Zerstörungen von Straßen und Brücken schwierig, weiter | |
nach Osten vorzudringen. Die Größe der betroffenen Region ist eine der | |
Hauptschwierigkeiten. Nimmt man noch die verwüsteten Gebiete in Syrien | |
dazu, könnten rund 23 Millionen Menschen von dem Beben betroffen sein, | |
erklärte die Weltgesundheitsorganisation am Dienstag. | |
7 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
Jannis Hagmann | |
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