# taz.de -- Katastrophe in der Türkei und Syrien: Das Monsterbeben | |
> Schwere Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet töten über 2.000 | |
> Menschen. Die Erschütterungen zählen zu den schlimmsten, die je gemessen | |
> wurden. | |
Bild: Suche nach Überlebenden: Szene aus der syrischen Stadt Harim nahe der t�… | |
Die meisten Menschen, die um vier Uhr früh in der Türkei und Syrien durch | |
den bedrohlich schwankenden Boden unter ihren Füßen wach wurden, schauten | |
zuerst auf Twitter. Noch bevor es offizielle Verlautbarungen gab, zeigte | |
sich hier im Sekundentakt schon das ganze Ausmaß des Grauens. „Adana, es | |
bebt“, dann „Ankara, Erdbeben“, dann „Diyarbakır, hier auch“. Es fol… | |
Mersin, Iskenderun, Malatya, Kahramanmaras, Gaziantep Kahta und Urfa. Schon | |
in einer Stunde stand fest, dass es in insgesamt zehn Städten in der Türkei | |
Tote gegeben hatte. | |
Doch damit begann die Horrornacht und der schlimme Morgen danach auf | |
Twitter erst. Denn schon bald nach den ersten Erdbebenmeldungen kamen die | |
ersten Hilferufe. „Ich stecke unter den Trümmern des Hauses an dieser und | |
jener Stelle fest. Holt mich hier raus.“ Fotos von einem Loch zwischen den | |
Balken und Stahlstreben des zusammengebrochenen Hauses folgten. Solange die | |
Akkus hielten, ging das so weiter. Anders als noch bei dem letzten schweren | |
Erdbeben 1999 war jetzt über die sozialen Medien das ganze Land an den | |
grauenhaften Einzelschicksalen beteiligt. Natürlich wurden auch erste | |
Rettungen gepostet, doch stündlich erhöhten sich die Todeszahlen. | |
Obwohl die Türkei häufig von lokalen Erdbeben erschüttert wird, weil unter | |
ihr die eurasische und die arabische/afrikanische Platte zusammenstoßen und | |
immer wieder für tektonische Erschütterungen sorgen, kommt es doch nur | |
selten zu solchen „Monsterbeben“ wie am Montag im Südosten der Türkei. Mit | |
7,9 beim ersten und 7,6 Punkten auf der Richterskala beim zweiten Beben am | |
Montagmittag gehört die Erschütterung zu den schlimmsten Beben, die jemals | |
gemessen wurden. | |
Das Epizentrum lag jeweils nordwestlich der Millionenstadt Gaziantep in | |
Richtung der zweitgrößten Stadt der Region, Kahramanmaras. Gaziantep liegt | |
nur 60 Kilometer von der Grenze nach Nordsyrien entfernt. Entsprechend | |
massiv wurden deshalb die letzte von den Rebellen noch kontrollierte | |
Provinz Idlib und die von der Türkei besetzen Gebiete zwischen Idlib im | |
Westen und dem Euphrat im Osten betroffen. Aber auch in Aleppo, Homs und | |
Damaskus gab es etliche Tote durch einstürzende Häuser, auch Diktator | |
Baschar al-Assad richtete einen Krisenstab ein. Selbst in Beirut und | |
Jerusalem waren die Erschütterungen zu spüren. | |
## Ganze Häuserzeilen wie wegradiert | |
[1][Im Libanon war das Beben mit einer Stärke von rund 4,7 auf der | |
Richterskala zu spüren], Tote wurden keine gemeldet. Dennoch sitzt der | |
Schock in den Knochen vieler Menschen tief. Sie wurden durch das Erdbeben | |
aufgeweckt, suchten einen sicheren Ort im Haus unter Tischen oder | |
evakuierten sofort ihre Häuser. Die Menschen wurden an Luftanschläge oder | |
die [2][Explosion vom 4. August 2020] erinnert. | |
Die türkische Katastrophenschutzbehörde Afad war schnell vor Ort, aber | |
anfangs natürlich noch mit unzulänglichen Mitteln. Als die ersten Bilder | |
über die Bildschirme flimmerten, zeichnete sich ein grauenhaftes Panorama | |
ab. Die mehr als tausend Jahre Zitadelle über Gaziantep, | |
Unesco-Weltkulturerbe, war zusammengesackt. Ganze Häuserzeilen in | |
Gaziantep, Kahramanmaras, Urfa und Diyarbakır waren wie wegradiert. | |
Die Vorsitzende der deutschen Linken, Janine Wissler, die in der | |
Katastrophennacht in Diyarbakır war, berichtete übers Telefon, wie sie um 4 | |
Uhr früh aus dem Hotel raus wie alle anderen auf die Straße rennen musste; | |
Kälte und Chaos inklusive. Während es ihr noch gelang, mit einem Flug nach | |
Ankara aus Diyarbakır herauszukommen, ging wenig später per Flugzeug gar | |
nichts mehr. Alle Flughäfen in der Region wurden gesperrt, entweder weil | |
wie in Hatay die Landebahnen zerstört waren oder weil der zivile | |
Flugverkehr gesperrt wurde, um Platz für die Anlandung von Hilfsflügen mit | |
Rettungskräften und Material zu schaffen. So konzentrierte sich die Flucht | |
aus der Region auf die Straße. Die Überlandstraßen Richtung Westen waren | |
komplett verstopft. | |
Per Hubschrauber landete als erstes Regierungsmitglied Innenminister | |
Süleyman Soylu noch in der Nacht vor Ort, um die Rettungsarbeiten zu | |
koordinieren. Präsident Recep Tayyip Erdoğan meldete sich per TV am Morgen | |
und kündigte großangelegte Hilfsmaßnahmen an. Noch in der Nacht wurde auch | |
der internationale Hilferuf aktiviert. Erdoğan bat die Partner in Nato und | |
EU um Feldlazarette und Zelte für Erstunterkünfte. Außerdem seien | |
Rettungsteams sehr erwünscht. Mit als Erste meldeten sich trotz der | |
Spannung zwischen den beiden Ländern die Griechen und sagten ihre | |
Unterstützung zu. | |
## Viele Hilfszusagen | |
Auch Israel, mit dem die Türkei gerade erst wieder diplomatische | |
Beziehungen aufgenommen hat, sagte sofort Hilfe zu. Mittlerweile sind | |
Rettungsmannschaften aus zehn EU-Ländern unterwegs, auch Deutschland sagte | |
Hilfe zu. Wie das Auswärtige Amt ankündigte, will man mithilfe des | |
Malteser-Hilfsdienstes auch die Menschen in der syrischen Aufstandsprovinz | |
Idlib unterstützen. Idlib ist die letzte syrische Provinz, die noch von | |
islamistischen Rebellen kontrolliert wird. | |
In der Provinz an der Grenze zur Türkei drängen sich [3][mehr als drei | |
Millionen syrische Binnenflüchtlinge] unter zumeist elenden Bedingungen | |
zusammen, für die das Erdbeben jetzt wie die Apokalypse erscheinen musste. | |
Das Elend in diesen Wintertagen ist unbeschreiblich. Der syrische Staat | |
hilft nicht, für internationale UN-Hilfstransporte gibt es nur einen | |
Grenzübergang aus der türkischen Provinz Hatay, dessen Benutzung der | |
Sicherheitsrat im Januar gerade noch einmal für ein halbes Jahr erlaubt | |
hat. Die in Idlib anwesenden Weißhelme, eine Rettungsorganisation der | |
Rebellen, melden schwerste Schäden und Hunderte Tote in der Region. Überall | |
in der Erdbebenregion steigend die Todeszahlen kontinuierlich. Am | |
Montagnachmittag waren es bereits mehr als 2.300. | |
6 Feb 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/Lebnenihor1/status/1622435280434126848 | |
[2] /Explosion-in-Beirut/!5705673 | |
[3] /Helferin-zur-Situation-in-Syrien/!5913661 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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