| # taz.de -- Nach dem Erdbeben in der Türkei: Politisches Nachbeben | |
| > Die Kritik gegenüber Präsident Erdoğan wird immer lauter. Vor allem in | |
| > der Baubranche seien in den letzten Jahren Vorschriften gebrochen worden. | |
| Bild: Wie ein Kartenhaus: Ein Anwohner trägt sein Hab und Gut aus seinem zu Ha… | |
| Istanbul taz | Kaum Strom, wenig fließendes Wasser, so gut wie keine | |
| Ordnung: Weite Teile des Südostens der Türkei liegen in Trümmern. Die | |
| katastrophalen Ausmaße der Erdbeben vom Montag und den vielen Hundert | |
| Nachbeben werden mit jedem weiteren Tag sichtbar: Auf einer Fläche von mehr | |
| als 110.000 Quadratkilometern sind manche Dörfer und zahlreiche Stadtteile | |
| quasi ausgelöscht. Laut der türkischen Regierung haben bisher 16.546 | |
| Menschen ihr Leben verloren. Die Angaben der Opfer werden fast stündlich | |
| [1][nach oben] korrigiert. | |
| Die Zerstörung sei ein „Plan des Schicksals“ gewesen, erklärte | |
| Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan in der Stadt Kahramanmaraş. Er fuhr am | |
| dritten Tag nach dem Unglück erstmals ins Krisengebiet. In Hatay, einer | |
| Provinz im Westen von Südanatolien, versicherte Erdoğan den Überlebenden: | |
| „Wenn die Autorität über mir nicht verantwortlich gewesen wäre, würde ich | |
| heute nicht so sprechen, ich würde ganz anders sprechen.“ | |
| Zahlreiche Menschen stimmen seinen Worten zu und beklagen gottergeben ihr | |
| Schicksal. Es gibt aber auch viele, die mit jedem weiteren Tag | |
| [2][wütender] werden. „Wo ist diese Regierung? Wo ist dieser Recep Tayyip | |
| Erdoğan?“, brüllt ein Mann vor den Überresten einer Nachbarschaft in | |
| Kahramanmaraş. Sein Video verbreitet sich schnell über die sozialen Medien. | |
| „Wo ist der Mann, der das Erdbeben von 1999 kritisiert hat?“, schreit der | |
| Mann verzweifelt weiter. | |
| Bisher hat kein anderes Beben in der Türkei so viele Todesopfer gefordert | |
| wie die [3][Erschütterung von 1999]. Das Epizentrum lag bei der Stadt Izmit | |
| in der Westtürkei und zerstörte auch weite Teile Istanbuls. Mehr als 17.000 | |
| Menschen starben. Viele Häuser stürzten ein, weil sie nicht solide gebaut | |
| waren. Als Experten später die Bausubstanz untersuchten, fanden sie oft | |
| eine Mischung aus verunreinigtem Meeressand und wenig Beton. Erdoğan | |
| versprach damals, sein Bestes zu geben, damit eine solche Tragödie nicht | |
| wieder passiere. | |
| Korruption weit verbreitet | |
| Tatsächlich hat sich in der Baugesetzgebung seitdem viel getan. Es wurden | |
| zum Beispiel Richtlinien erlassen, um Neubauten und ältere Häuser | |
| erdbebensicher zu machen. Trotzdem stürzten in den zehn von den Erdbeben | |
| betroffenen Provinzen des türkischen Südostens unzählige junge wie alte | |
| Gebäude in sich zusammen. Schnell gebaute Privathäuser und von der | |
| Regierung erst vor ein paar Jahren eingeweihte Rathäuser, Krankenhäuser und | |
| selbst Straßen hielten den Erschütterungen nicht stand. | |
| Selbst die Landebahn des Flughafens in Hatay brach auf. Bevor der Flugplatz | |
| gebaut wurde, hatten Wissenschaftler gewarnt, dass dieser auf einer | |
| Verwerfungslinie liege. Das sind die Berührungslinien der Platten, die | |
| besonders erdbebenanfällig sind. | |
| Dr. Ali Sonay vom [4][Institut] für Studien zum Nahen Osten und zu | |
| muslimischen Gesellschaften der Universität Bern sieht das Problem im | |
| System: Die Bauvorschriften und Kontrollmechanismen seien in der | |
| Vergangenheit nicht immer umgesetzt worden. „In der Folge konnte zum Teil | |
| nicht kontrolliert werden, welche Baufirmen zum Beispiel welche Substanzen | |
| einsetzen.“ | |
| Die Konstruktionswirtschaft sei in den vergangenen Jahren explodiert. Sonay | |
| geht davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass die Umgehung von | |
| Sicherheitsregularien und Korruption weit verbreitet sind. | |
| „Kontrollmechanismen haben nicht immer funktioniert.“ | |
| Ein Anwohner aus den betroffenen Gebieten bestätigt das: „Unser Haus war | |
| für vier Stockwerke zugelassen. Später wurden ohne Erlaubnis zwei weitere | |
| Stöcke draufgesetzt, und jetzt ist alles zusammengefallen“, erzählt ein | |
| Mann aus Gaziantep, der anonym bleiben möchte. Dass höher als erlaubt | |
| gebaut wird, ist in einigen Gegenden der Türkei keine Ausnahme. Genauso ist | |
| es üblich, dass alle paar Jahre Amnestien durchgeführt werden – auch für | |
| Gebäudeteile ohne Sicherheitsgenehmigung. Laut einer Untersuchung der | |
| Ingenieur- und Architektenkammer der Stadtplaner Istanbul sollen bis zu | |
| 75.000 Gebäude in der Erdbebenzone solche Bauamnestien erhalten haben. | |
| 35 Milliarden Dollar für Erdbebensteuer | |
| Das ist sicher kostengünstiger, als nach Vorschrift zu bauen. Nach dem | |
| 1999er Beben hatte man aber für die Finanzierung der Sicherheit von | |
| Gebäuden und beim Ausbau der Infrastruktur für den Katastrophenfall | |
| gesorgt: Landesweit wurde die „Besondere Kommunikationssteuer“ eingeführt. | |
| In der Türkei ist sie als „Erdbebensteuer“ bekannt. Seit ihrem Bestehen | |
| sind Schätzungen zufolge umgerechnet rund 35 Milliarden US-Dollar | |
| zusammengekommen. | |
| Viele Menschen fragen sich jetzt, was mit dem Geld passiert ist. Die | |
| Opposition beschuldigt die Regierung, es zweckentfremdet zu haben. Manche | |
| Kritiker verweisen auf ein Fernsehinterview eines früheren Ministers unter | |
| Erdoğan aus dem Jahr 2011. Darin erklärt er, dass man das Steuergeld für | |
| Gesundheit, Straßen, Bahnstrecken, Luftfahrt, Landwirtschaft, Bildung und | |
| Rückzahlung der Schulden beim Internationalen Währungsfonds ausgegeben | |
| habe. Von Bausicherheit sprach der Minister in dem Interview nicht. | |
| Mitarbeit: Lisa Schneider | |
| 9 Feb 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Marion Sendker | |
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