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# taz.de -- Rituelle Gewalt: Eine ausgeblendete Realität
> Rituelle Gewalt ist eine sehr brutale Form des Missbrauchs. Manche
> zweifeln ihre Existenz an. Julia Winter nicht. Sie hat sie erlebt.
Anmerkung der Redaktion: Nach der Veröffentlichung dieses Textes haben uns
viele Zuschriften erreicht, dankbare, aber auch kritische. Wir haben den
Text an einigen Stellen überarbeitet, um noch deutlicher zu machen, welche
Fakten aus der Erzählung der Protagonistin wir prüfen konnten, und welche
sich allein auf ihre Darstellung beziehen. Die Frage, inwieweit
organisierte Täter*innennetzwerke rituellen sexuellen Missbrauch
betreiben, wird zurzeit intensiv diskutiert. Wir werden diese Debatte
weiter begleiten und in der taz abbilden.
Hinweis: In diesem Text werden Missbrauch und gewalttätige Übergriffe
beschrieben. Seien Sie achtsam, wenn Sie das Thema betrifft.
Für Betroffene sexualisierter, organisierter und ritueller Gewalt gibt es
das Hilfetelefon berta: 0800-3050750. [1][https://nina-info.de/berta]
Kopfsteinpflaster, ein Hauch von Kälte in der Luft. Es ist still an diesem
Ort am Rande einer ostdeutschen Großstadt. Kaum ein Mensch ist auf den
Straßen zu sehen. Hier hat sich Julia Winter entschlossen zu reden. Trotz
der Angst und obwohl sie sich bedroht sieht.
An diesem Tag im Herbst 2022 und in den darauffolgenden Treffen wird Julia
Winter ihre Geschichte offenlegen. Es ist eine Geschichte, die schwer zu
ertragen ist. Sie handelt von Gewalt, die sie von Kindheit an erlitten hat.
Winter sagt, sie sei jahrzehntelang gefoltert, gequält, missbraucht worden.
Die Täter:innen seien ihr eigener Vater und andere Verwandte, aber auch
zahlende Kund:innen gewesen. Ihre Familie gehöre [2][einer faschistoiden
Gruppierung] an; der massive Missbrauch sei mit einer Ideologie von
Herrschaft und Unterwerfung einher gegangen. Es sei dabei vor allem um
Macht und Geld gegangen.
Winter fällt es schwer, ihre Erlebnisse zu schildern. Am einfachsten geht
es schriftlich. In Mails an die wochentaz berichtet sie von Folter durch
Stromschläge, von regelmäßigen Vergewaltigungen, von einem absichtlich
herbeigeführten Herzstillstand durch sadistische Gewalt. Wenn sie sich im
Gespräch zu den Taten äußert, wirkt sie distanziert, fast emotionslos.
„Ich bin in eine Realität hineingeboren, die Missbrauch in vielfältigsten
Formen ausübte“, sagt sie. Mit „Realität“ meint sie ihre Familie. Ihren
Vater nennt sie nur ihren „Erzeuger“. Er habe sie mit Stromschlägen
gefoltert, schreibt Julia Winter, dies habe ihn sexuell erregt. Er habe ihr
dabei Elektroden in ihre Körperöffnungen oder unter die Fingernägel
geschoben. Auf dem ausgebauten Dachboden habe er in einem verschlossenen
Schrank ein Gerät gehabt. Er habe sie geknebelt und mit einem Regler die
Stromstärke reguliert. Daraufhin habe er sie vergewaltigt.
Winter sagt, sie ist Betroffene ritueller Gewalt. Dieser Begriff meint eine
spezielle Form der organisierten, sexualisierten Gewalt, bei der
Täter:innen eine Art Glaubenssystem in faschistoiden, satanistischen
oder religiösen Gruppen schaffen. Julia Winters Familie lebt eine
faschistoide Ideologie, sagt Winter.
Die Betroffenen ritueller Gewalt werden manipuliert, berichten
Therapeut:innen, die mit ihnen arbeiten. Den Betroffenen werde suggeriert,
sie seien auserwählt und [3][der Missbrauch] sei eine Prüfung. Das führe
dazu, dass sich die Betroffenen an die Gruppe binden.
## Hohe Dunkelziffer
Es gibt kaum Zahlen zu ritueller Gewalt. Die [4][Unabhängige Kommission zur
Aufarbeitung von Sexuellem Kindesmissbrauch kam in einem Gutachten im
Auftrag der Bundesregierung im Jahr 2019] zu dem Schluss, dass rund zehn
Prozent aller bekannt gewordenen Missbrauchsfälle in organisierten oder
rituellen Strukturen stattfinden. Die Dunkelziffer dürfte viel höher
liegen.
Das lässt auch die Vielzahl der eingehenden Anrufe [5][beim Hilfetelefon
berta] erahnen. Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung (UBSKM)
bietet es seit 2019 für Betroffene organisierter sexualisierter und
ritueller Gewalt an.
Allein in den ersten zwei Jahren hätten sich über 8.000 Menschen gemeldet,
fast 5.500 Beratungsgespräche seien geführt worden, so die
Missbrauchsbeauftragte. Die Gewalt und die Erfahrungen, die Betroffene
schildern, sind laut Aufarbeitungskommission teilweise so drastisch, dass
sie von Außenstehenden oft nicht für glaubwürdig gehalten werden. Auch
deshalb schaffen es Fälle wie der von Julia Winter selten in die
Öffentlichkeit.
In der Schweiz gab es in den vergangenen Jahren hingegen eine sehr
medienwirksame Debatte über rituelle Gewalt, allerdings mit einer anderen
Sichtweise auf das Thema. Ausgelöst wurde sie durch zwei Dokumentationen
des öffentlich-rechtlichen Schweizer Senders SRF. Der Vorwurf in den
[6][Sendungen:] Patient:innen würden durch suggestive Befragung
Missbrauch erinnern, der nie stattgefunden habe.
Die SRF-Journalist:innen beschuldigten vor allem einen Beratungsverein und
den Oberarzt einer bekannten Schweizer Privatklinik, die sich auf Fälle
schwerer Traumatisierung spezialisiert haben.
Nach der Ausstrahlung der Filme beauftragte das Gesundheitsamt des Kantons
Thurgau ein offizielles Gutachten zu der Arbeit in der Privatklinik. Das
Gutachten bestätigte die Vorwürfe aus den Dokumentationen: Auf den
Traumatherapie Stationen sei die „Verschwörungserzählung „rituelle
Gewalt/Mind Control““ vorhanden. Mind Control bezeichnet die absichtsvolle,
systematische Spaltung Betroffener in verschiedene Persönlichkeitsanteile.
Heißt, dass es möglich sei, Kinder für den Missbrauch zu deutsch „mental zu
kontrollieren“, also zu manipulieren.
Gegen die Chefärztin der Klinik wurde ein Strafverfahren eingeleitet, sie
wurde freigestellt. Der Oberarzt verlor seinen Job. Die Klinikleitung
entschuldigte sich. Patient:innen der Klinik wiederum ergriffen Partei
für die Klinik und die freigestellten Ärzt:innen. Sie kritisierten die
„tendenziösen Medienberichte“. Im Januar 2023 strahlte das SRF eine dritte
Dokumentation aus.
## Leben unter neuer Identität
Julia Winter hat oft erlebt, dass ihr nicht geglaubt wird. Sie wird Mitte
der Siebzigerjahre in Ostdeutschland geboren. Wo und wann soll hier nicht
stehen, genauso wie der richtige Name von Julia Winter. Name und Ort sind
der Redaktion bekannt. Mittlerweile hat sie ihren Geburtsnamen geändert und
lebt in einer Stadt irgendwo in Deutschland. Trotzdem hat sie Angst, dass
ihre Familie sie aufsucht.
Diese lebe noch heute in einem Einfamilienhaus in einem idyllischen Dorf in
Ostdeutschland, erzählt Winter bei einem Treffen mit der taz. Ihre
Verwandten genießen Ansehen im Ort, erzählt Winter. „Nach außen hin waren
wir eine Vorzeigefamilie“, erinnert sie sich. „Wir Kinder galten als fromm,
brav, hatten gute Schulnoten und ein Lächeln ins Gesicht getackert.“
Ab ihrem sechsten Lebensjahr habe sich Winter um den Haushalt und die
depressive Mutter gekümmert: „Waschen, kochen, die Mutter überreden, etwas
zu essen, ihr das Messer aus der Hand nehmen, wenn sie an ihren Pulsadern
herumschnitt – das war alles meine Aufgabe.“
Ihren Vater beschreibt Winter als manipulativ, sadistisch und zugleich als
einen angesehenen und einflussreichen Mann, der eine wichtige Position in
der Kirchengemeinde innehatte. Er habe die Familie kontrolliert und auch
die Mutter missbraucht. Winter selbst, so sagt sie, sei aus einer
Vergewaltigung entstanden.
Ihre ersten Erinnerungen im Alter von drei Jahren beschreibt sie so: „Meine
Mutter saß nach einem Gewaltexzess meines Vaters auf der Couch. Ich habe
einen Waschlappen geholt, um ihr zu helfen, weil sie verletzt war.“ Doch
auch ihre Mutter erlebt Winter als unberechenbar: Manchmal habe sie mit
allem, was sie in die Hand bekam, auf sie eingeschlagen. Liebe und
Zuwendung habe Julia Winter nicht gekannt: „Mein Alltag war geprägt von
Angst.“
Wenn Winter von der Gruppierung spricht, der auch ihre Familie angehöre,
nennt sie diese einen „germano-faschistischen Kult“. Die Mitglieder
betrachteten sich als Herrenmenschen, als Vertreter einer auserwählten und
zum Herrschen bestimmten Rasse. Es existiere ein Zwang zum Gehorsam, jede
Abweichung werde bestraft. Schwäche gelte als verwerflich, nur die Starken,
die „Rasse-Reinen“ kämen in der Welt voran.
Um welche Gruppierung es sich genau handelt und wie viele Mitglieder sie
hat, will Winter nicht sagen. Ihr Opa habe Kontakt zu Josef Mengele gehabt
und öfter gesagt, „er sei froh, dass er das Wissen von ihm weitertragen
darf“, so Winter. Mengele, der deutsche Arzt, führte zu NS-Zeiten
medizinische Experimente an KZ-Insass:innen durch, darunter auch
Folter. An Mengeles Methoden hätte sich auch die Gruppierung orientiert, um
sie gefügig zu machen.
Julia Winter erinnert sich an einen Akt des Folterns, als sie noch Kind
war: Sie sei nackt in eine Gefriertruhe gesteckt worden. „Es war dunkel und
furchtbar kalt. Nach einer Weile wurde die Luft knapp, dann wurde ich
bewusstlos.“ Die Erinnerung habe erst wieder eingesetzt, als ein Täter die
Gefriertruhe geöffnet habe. Er habe sich als Retter dargestellt, sie müsse
ihm von nun an gehorchen. Als er sie mit einem Ruck aus der Truhe gezogen
habe, seien einige festgefrorene Stellen Haut abgerissen.
## Aus Angst geschwiegen
„Einmal muss die Gewalt so schlimm gewesen sein, dass ich zum Arzt gebracht
wurde, da war ich 14“, erzählt sie. Ihr Vater war dabei. Der Arzt habe
gefragt, ob irgendetwas nicht in Ordnung sei, aus Angst habe sie
geschwiegen. Mit 16 habe sie zum ersten Mal versucht, sich umzubringen.
Zwei weitere Suizidversuche seien gefolgt.
Was Julia Winter erzählt, lässt sich schwer überprüfen. Es gibt kaum
Zeugen, die nicht selbst Täter:innen waren. Normalerweise [7][gehört es
zu einer ausgewogenen Berichterstattung und zur journalistischen Fairness,
auch die anzuhören, gegen die Vorwürfe erhoben werden]. Julia Winter lehnt
das strikt ab. Auf keinen Fall will sie, dass die Redaktion Kontakt mit
ihrer Familie aufnimmt.
In diesem Text stehen also ein Stück weit journalistische Sorgfaltspflicht
gegen den Schutz der Betroffenen. Die Redaktion hat sich für den Schutz der
Betroffenen entschieden, denn es gibt Hinweise und Belege, die Winters
Erzählung stützen.
Da ist zum Beispiel ein Haushaltsbüchlein aus ihrer Kindheit. Julia Winter
hat es zu einem Treffen mitgebracht: Ein kleines DIN-A5-Heft, es sieht
abgenutzt aus und ist bis zur Hälfte in einer ordentlichen
Kinderhandschrift beschrieben. Winter sagt, sie habe es zwischen ihrem 11.
und ihrem 14. Lebensjahr geführt. Sie blättert es auf.
Darin verzeichnet sind ihre Ein- und Ausgaben: Geldgeschenke von Verwandten
etwa und Belege über kleinere Besorgungen. Auch ein „Urlauberzimmer“ ist
darin aufgeführt. Das sei ein Ort gewesen, an dem sie missbraucht wurde.
Die „Urlauber“, das waren ihre Vergewaltiger. „Nach dem Missbrauch musste
ich das Zimmer selbst aufräumen und säubern, dafür habe ich ein Taschengeld
von 5 DDR-Mark bekommen.“ In einer Zeile in dem Heft steht eine routinierte
Handschrift, wie eine Unterschrift unter einem Dokument: „Mein Erzeuger
zeichnete die Einträge gegen.“
## Posing für die Kunden
Julia Winter hat außerdem ein Zeugnis mitgebracht, 7. Klasse,
polytechnische Oberschule. Nur Einsen und Zweien. Doch eine Zahl sticht ins
Auge und passt nicht in das Bild einer Vorzeigeschülerin: Fast 40
entschuldigte Fehltage stehen da. Winter erklärt die vielen Fehltage so:
„Mein Erzeuger nahm mich während der Schulwochen häufig mit auf
Geschäftsreisen.“
Dort sei sie an zahlende Kunden „abgegeben“ worden, die sie nach
Verhandlung über den „Preis“ und „spezielle Wünsche“ vergewaltigten. …
dem Missbrauch habe ihr Vater sie wieder abgeholt und nach Hause gebracht.
Sie zeigt Fotos von früher: ein kleines Mädchen, süß, blond, im kurzen
Röckchen. Diese „Posingbilder“ habe ihr Vater machen lassen, um bei den
potenziellen Freiern damit zu werben.
Sabine Bender kennt Julia Winter schon seit ihrer Kindheit. Die beiden sind
Mitte der Achtzigerjahre zusammen zur Schule gegangen. Sie sind bis heute
befreundet. Auch Bender heißt eigentlich anders, zum Schutz von Winter
trägt sie einen anderen Namen. Nur einmal sei sie damals bei Winter zu
Hause gewesen.
„Mich hat schon gewundert, dass in Julias Zimmer ein Doppelbett stand. Als
Kinderzimmer war der Raum nicht erkennbar.“ Ihre Eltern hätten nicht
gewollt, dass sie wieder zu dieser Familie gehe, warum, hätten sie nicht
gesagt. Julia Winter hat ihrer Freundin Bender erst spät von ihrer
Geschichte erzählt. Noch immer kann Bender das kaum fassen. Sie ringt um
Worte oder weint, wenn sie erzählt, wie Winter mit ihrer Herkunft lebt.
Julia Winter ist noch Jugendliche, als sie von zu Hause auszieht, um eine
Ausbildung zu beginnen, so erzählt sie das der taz. Die Ausbildung habe der
Vater bestimmt, die Gruppierung sie nicht in Ruhe gelassen, der Missbrauch
und die Zwangsprostitution seien weiter gegangen.
Regelmäßig hätten die Mitglieder der Gruppe sie aufgesucht und mitgenommen.
In den Phasen dazwischen habe sie sich in die Arbeit geschmissen. Das sei
oft die einzige Möglichkeit gewesen, den Täter:innen zu entfliehen.
## Anzeige gegen den Vater
Mit der Polizei sei Winter nur einmal in Kontakt gekommen. Ende der 1990er
Jahre hatte sich ein thüringischer Pfarrer an das Bundeskriminalamt
gewandt, so steht es in einem Schreiben der Staatsanwaltschaft von damals.
Das BKA habe daraufhin wegen sexueller Nötigung gegen ihren Vater
ermittelt. Winter sagt, dass sie bis heute nicht weiß, wer dieser Pfarrer
war.
Zu dem Zeitpunkt ist Julia Winter Mitte 20 und schon ausgezogen, aber die
Täter:innen hätten sie weiterhin missbraucht. Die Staatsanwaltschaft, so
steht es in dem Schreiben, legte dem Beschuldigten sowie weiteren
unbekannten Tätern zur Last, Winter mindestens seit 1983 bis in die 1990er
Jahre in ihrem Heimatort und nicht näher bekannten Tatorten sexuell
missbraucht zu haben.
Die Polizei habe Winter daraufhin vernommen. „Das war schon ein großer
Kraftakt für mich“, erinnert sie sich. Die Beamten hätten ihr Fotos
gezeigt, sie sollte Täter identifizieren, habe aber niemanden erkennen
können. Die Polizist:innen seien einfühlsam gewesen. „Aber ich wurde
überflutet von den Erinnerungen, die mich unglaublich getriggert haben.“
Winter habe sich übergeben und die Vernehmung abbrechen müssen.
Auch ihre Verletzungen wurden gerichtsmedizinisch untersucht. Man sieht bis
heute noch Narben: Die Unterarme sind übersät mit Brandnarben, die von
Zigaretten stammen müssen. Ganz nah beieinander, als solle es ein Muster
ergeben. „Am Rücken habe ich auch welche“, sagt Winter.
Sie holt einen Brief heraus, den sie 2002 von der Staatsanwaltschaft ihres
damaligen Wohnorts geschickt bekommen hatte. Er sieht aus wie frisch
geöffnet. Die Staatsanwaltschaft kommt darin zu dem Schluss, dass die
Verletzungen wahrscheinlich nicht selbst beigebracht worden seien.
Darin steht aber auch, dass das Verfahren eingestellt werde. In der
Begründung heißt es: Beide Sachverständigengutachten, die zur
Glaubhaftigkeitsbeurteilung von Winters Aussagen veranlasst wurden, seien
zu dem Ergebnis gelangt, „dass die Geschädigte an einer dissoziativen
Identitätsstörung leide“.
Die „Explorierbarkeit der Zeugin“ sei „aufgrund ihrer psychischen
Instabilität, derzeit nicht in hinreichendem Maße gegeben“, um Anklage zu
erheben. Mit anderen Worten: Die Hauptbelastungszeugin ist derzeit nicht
vernehmungsfähig, also stellen wir das Verfahren ein.
Die Staatsanwaltschaft bestätigt auf Anfrage der taz, dass es dieses
Ermittlungsverfahren wirklich gab. Auch, dass es eingestellt wurde, „da ein
hinreichender Tatverdacht im Ergebnis der durchgeführten Ermittlungen nicht
begründet werden konnte.“ Mehr Details will die Staatsanwaltschaft nicht
nennen. Das Verfahren sei zu lange her, die Persönlichkeitsrechte der
Beteiligten müssten gewahrt bleiben.
Einen neuerlichen Versuch sich juristisch zu wehren, habe sie danach nicht
mehr wagen wollen, sagt Julia Winter. Zu groß seien die Belastungen während
der Vernehmung gewesen.
Dissoziative Identitätsstörung. Julia Winter lebt heute auch offiziell mit
der Diagnose aus dem Schreiben der Staatsanwaltschaft von 2002.
Eva Roth ist Traumatherapeutin, sie arbeitet seit vielen Jahren mit
Betroffenen von organisierter ritueller Gewalt. Auch sie heißt eigentlich
anders. Roth hat Julia Winter zehn Jahre lang [8][durch die Therapie]
begleitet. Als Therapeutin hat sie oft erlebt, dass Menschen, die so
massive Gewalt erfahren haben wie Winter, eine solche Identitätsstörung
entwickeln, erzählt sie.
„Wenn die eigene Familie missbraucht und misshandelt, lernt das Kind die
Erfahrungen abzuspalten: in einen Persönlichkeitsanteil, der das Schlimme
erlebt, und einen, der es nicht erlebt. Gibt es mehrere Täter:innen oder
unterschiedliche Situationen, in denen das Kind den Missbrauch erlebt,
entstehen mehrere Teilpersönlichkeiten.“
Die frühe Gewalt verhindere die Entwicklung des Gehirns. Bei den Kindern
könne das Gefühl entstehen, mehrere Personen zu sein. „Sie wissen dann nur
bruchstückhaft über ihren Alltag Bescheid, weil nicht immer alle
Persönlichkeitsanteile bewusst sind und es somit viele Erinnerungslücken
gibt“, sagt Roth.
Der Anteil, der den Alltag bestreitet, kann in besonderen Belastungen also
Gedächtnislücken haben, ohne bewusstlos zu sein. Ein anderer übernimmt in
dieser Zeit die Kontrolle über den Körper. Lange Zeit sprachen
Expert:innen von einer Multiplen Persönlichkeitsstörung. Mittlerweile
diagnostizieren Psychotherapeut:innen eine Dissoziative
Identitätsstörung (DIS).
## „Wie in Watte“
Bei fast 95 Prozent der Patient:innen entstehe die Störung nach einer
schweren frühkindlichen Traumatisierung durch sexuellen, physischen,
psychischen und/oder rituellen Missbrauch vor allem im Elternhaus.
Wenn Julia Winter die Kontrolle über ihr Bewusstsein verliert, fühle es
sich „wie in Watte“ an, sagt sie. „Es ist hell, es muss tags sein. Wie sp…
ist es? Warum stehe ich in der Küche, und was ist passiert?“, so beschreibt
sie ihr Erleben mit dissoziativer Identität. „Das macht mir Angst.“
Diese Angst, der fortbestehende Missbrauch und die wiederkehrenden
Erinnerungslücken seien der Grund gewesen, weshalb Winter in Therapie ging.
Im Jahr 2008 – sie ist jetzt Anfang 30 – sucht sie eine Therapeutin auf, in
den Anamnesebogen, der der taz vorliegt, schreibt sie: „Ich komme nicht
klar mit dem, was ich selbst erlebt habe. Alles, was ich weiß, sind bislang
nur Bruchstücke. Macht mir unglaubliche Angst, weil mir das jetzige Wissen
schon zu viel ist und es mir schwer macht, Tag für Tag weiter zu leben.“
Sie schreibt auch, dass es zur Zeit mehrfach zu „ungewolltem Täterkontakt“
komme.
Für die Therapie dokumentiert Winter monatelang ihre Erinnerungslücken.
„Sie hat akribisch angefangen, das aufzuschreiben“, erzählt ihre spätere
Therapeutin Eva Roth. Beide merkten, dass die Amnesie vor allem die
Wochenenden betraf. An den Wochenenden hätten die Täter sie oft aufgesucht,
erzählt sie.
Julia Winter erzählt: „Ich erinnere Situationen, als ein Auto anhielt und
ein Mitglied der Gruppierung aus dem Autofenster einen Satz sagte. Zunächst
wirkte das harmlos. Aber danach war ich weg, ich wusste tagelang nichts
mehr.“ Wenn sie wieder zu sich gekommen sei – meist in ihrer Wohnung – ha…
sie sich erholen müssen. Sie habe Schmerzen gehabt, Verletzungen, von denen
sie nicht wusste, wo sie herkamen. Meist seien sie schon verarztet gewesen.
Die Therapeutin Eva Roth erklärt dies so: „Nach dem Missbrauch hat sie
Verbandsmaterial von den Tätern bekommen. Ein Persönlichkeitsanteil nähte
sich immer selbst, ihre Dammrisse zum Beispiel, wenn sie nach Hause
gekommen ist. Dieser Anteil wusste genau, wie er das desinfiziert und
versorgt.“ Rund um bestimmte Feiertage passierten zusätzlich heidnische
Rituale, sagt die Therapeutin. Diese würden dann in den Dienst der
Ideologie gestellt.
## Beratungsstelle Karo
Die Hauptarbeit während der Therapie habe darin bestanden, den Kontakt zu
den Tätern zu beenden, sagt Roth. Unter Folter habe Winter verinnerlicht,
dass sie sterben würde, wenn sie wagte sich der Gruppierung zu widersetzen.
Durch diese „Erziehung“ sei sie vermeintlich freiwillig immer wieder zu
Täter:innen und sei im Sinne der Ideologie gehorsam gewesen.
Winter habe lernen müssen, gegen ihre inneren Zwänge anzukämpfen und sich
nicht manipulieren zu lassen. Winter sagt, irgendwann sei es ihr gelungen,
sich den Täter:innen zu entziehen. Diese hätten sie in Ruhe gelassen –
obwohl sie gewusst hätten, wo sie lebt, so Winter.
Für Menschen, die wie Julia Winter systematisch ausgebeutet werden, gibt es
nur wenige Beratungsstellen. Eine ist Karo e. V. im sächsischen Plauen. Der
Verein kümmert sich seit 1994 vorwiegend um Frauen, die gezwungen werden,
sich zu prostituieren und von Menschenhändlern wie Ware benutzt werden.
Karo betreibt ein Schutzhaus und zwei Wohnungen speziell für Betroffene
ritueller Gewalt.
Die Geschäftsstelle am Rande von Plauen liegt in einem Altbau in einem
Wohngebiet. Die Haustür ist abgeschlossen, an der Hausecke hängt ein
Leuchtkasten mit der Aufschrift „Babyklappe“, ein Pfeil weist in die
Richtung, wo das Wärmebettchen zu finden ist. Im Flur hängen Bilder, die
Frauen gemalt haben, die hier Zuflucht fanden. Es sind bunte,
hoffnungsvolle Bilder, eines auch in Gedenken an eine durch die Gewalt
Verstorbene.
Cathrin Schauer-Kelpin ist Sozialarbeiterin und leitet die Beratungsstelle.
In ihrem Büro steht eine Couch, Schauer-Kelpin bietet Kuchen an. Gemütlich
wirkt das. „Das erste Mal mit ritualisierter Gewalt in Kontakt gekommen bin
ich 1998“, erzählt sie. Damals kam die erste Betroffene durch ihre Tür,
deren Geschichte Schauer-Kelpin kaum habe glauben können.
## Hinweise auf organisierte Netzwerke
In ihren 29 Jahren als Sozialarbeiterin hat sie zahlreiche ähnliche
Berichte wie die von Julia Winter gehört. Wenn sie über ihre Erfahrungen
spricht, wirkt sie abgeklärt. In ihrem Büro stehen Ordner dokumentierter
Fälle organisierter und auch ritueller Gewalt.
An der Not der Betroffenen habe sich seitdem nicht viel geändert: Immer
noch gibt es zu wenig adäquate Versorgung. Rituelle Gewalt würde noch zu
oft für eine Verschwörungserzählung gehalten – das schütze die Täter, so
Schauer-Kelpin. Die Menschen bräuchten bei dieser Form der Gewalt
spezifischere Hilfen.
Sie seien darauf angewiesen, dass sich Helfende damit auskennen. Es bedürfe
spezieller Therapien, unter anderem auch wegen der so häufig auftretenden
Dissoziativen Identitätsstörung. Laut einer Studie der
Aufarbeitungskommission beträgt die durchschnittliche Zeit professioneller
Unterstützung von solchen Betroffenen 9 Jahre, während die Unterstützung
sonst durchschnittlich 5 Jahre dauert.
„Die Betroffenen wollen oder können oft gar nicht anzeigen oder aussagen.
Oft sind in der Vergangenheit schon Anzeigen und polizeiliche Vernehmungen
gelaufen, die nicht optimal waren, bei denen ihnen nicht geglaubt wurde“,
sagt Schauer-Kelpin. Die Gründe dafür seien immer wieder die Gleichen:
mangelnde Beweislage, psychische Instabilität.
Das bestätigt auch Manfred Paulus. Mehr als 25 Jahre lang war er
Kriminalhauptkommissar in Ulm, im Dezernat Sexualdelikte und
Rotlichtkriminalität. Heute reist er durch ganz Europa, um über
Pädokriminalität aufzuklären. Anzeigen seien sehr selten, sagt Paulus. Es
gebe aber oft Hinweise auf organisierte Netzwerke ritueller Gewalt.
Auch Verurteilungen habe es gegeben, dann aber nur wegen sexuellen
Missbrauchs, Körperverletzung oder Mordes. Der ideologische Überbau
organisierter Gewalt ist kein strafrechtliches Tatbestandsmerkmal und sei
allenfalls von sekundärer Bedeutung – und das, sagt Paulus, obwohl sich
Täter:innen mittlerweile auch international vernetzen, um Kinder zu
jagen und auch auf rituelle Weise zu missbrauchen.
Einer der größten Fälle sexualisierter Gewalt in Deutschland wurde in
Bergisch-Gladbach seit 2019 aufgedeckt. Doch auch hier ermittelt die
Staatsanwaltschaft in Köln nur gegen Einzeltäter:innen.
## „Satanic Panic“
Doch manche, die sich mit dem Thema beschäftigen, sind auf ganz andere Art
alarmiert als Paulus oder Schauer-Kelpin. Nicht nur in der Schweiz hat die
bereits erwähnte SRF-Dokumentation rituelle Gewalt infrage gestellt. Auch
in Deutschland gibt es Vereine, die erklären, rituelle Gewalt sei ein
längst widerlegtes Konstrukt aus den USA, das von einigen
Psychotherapeut:innen kultiviert werde. „Satanic Panic“ ist so zu
einem Stichwort geworden.
Das beschreibt die Angstmacherei insbesondere vor ritueller Gewalt durch
Satanist:innen, für die es keine Anhaltspunkte gebe. Vereine wie die
Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften e.
V. (GWUP) stellen die rituellen Aspekte als eine Verschwörungserzählung
dar.
Dieser Verein setzt sich kritisch mit pseudo- und parawissenschaftlichen
Themen auseinander. Darunter fällt laut GWUP auch, dass Menschen durch
organisierte Gruppen psychisch manipuliert und ausgebeutet werden könnten.
Sie warnen vor Therapeut:innen, die das behandeln. Diese würden den
Betroffenen Erinnerungen suggestiv einreden.
Für Julia Winter sind solche Aussagen schwer zu ertragen. „Es bedrückt
mich, wenn rituelle Gewalt als Verschwörung abgetan wird“, sagt sie. Das
sei „ein Totschlagargument“.
Eine sachliche Diskussion zu führen, ist gar nicht so einfach, denn es gibt
kaum Forschung.
Für die Zukunft sei eine verbesserte Aufklärungsarbeit in der Gesellschaft
sowie eine intensivierte Forschungsarbeit unter psychosozialen Fachpersonen
zu empfehlen, erklärt ein Projektteam des Universitätsklinikums
Hamburg-Eppendorf, das als eines der wenigen zum Thema rituelle Gewalt
forscht. An der Uniklinik Ulm sollte 2022 im Auftrag der UBSKM ein
Forschungsprojekt starten, um die Anrufe des Hilfetelefons berta
auszuwerten.
Die Ethikkommission lehnte das Projekt auch nach Überarbeitung definitiv
ab. So etwas sei statistisch eher die Ausnahme, sagt der Ärztliche Direktor
der Klinik. Die Kommission könne keine wissenschaftliche Fragestellung
erkennen. Er habe der UBSKM empfohlen, das Projekt einer anderen
Forschungseinrichtung vorzulegen, die keine Ethikkommission hat.
## Sie will Öffentlichkeit
Mittlerweile kann Julia Winter ein halbwegs normales Leben führen, sagt
sie. Ihre Freundin versucht sie seit Jahren zu unterstützen, doch mehr als
Verständnis und Ablenkung zu bieten, ist ihr kaum möglich. Sie sagt: „Da
ist ein Leben von Anfang an zerstört worden, und andere Leute, die laufen
scheinheilig durch den kleinen Ort.“ Sie trifft Winters Familie heute noch
ab und an, wenn sie ihre eigenen Eltern in dem Heimatort besucht. „Ich übe
mich da in Selbstbeherrschung und sage nichts, außer freundlich Guten Tag.“
Zu groß sei die Angst, dass Julia noch mal etwas zustoße.
Julia Winters Therapeutin berichtet von einigen Patient:innen aus ganz
Deutschland, deren Geschichten sich ähnelten. Die Betroffenen seien Teil
organisierter Netzwerke – vermutlich ähnlich wie in Bergisch-Gladbach.
Im Rahmen der Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs durch die
Bundesregierung gibt es seit 2013 einen Hilfsfonds. Laut Jahresbericht von
2021 dieses Fonds sind 6,7 Prozent der Antragsteller:innen Betroffene
ritueller Gewalt mit gleichmäßiger Verteilung auf die Bundesländer.
Anfang 2022 hat Julia Winter ihre Geschichte in einem öffentlichen Vortrag
bei einem Symposium erstmals geteilt. Kurz zuvor sei sie telefonisch
bedroht worden. Den Vortrag hielt sie trotzdem. Denn sie will, dass das
Thema bekannter wird.
11 Feb 2023
## LINKS
[1] https://nina-info.de/berta
[2] /Faschistische-Symbole-erkennen/!5512652
[3] /Sexueller-Missbrauch/!5757146
[4] https://www.aufarbeitungskommission.de/mediathek/bilanzbericht-2019-band-1/
[5] https://nina-info.de/berta
[6] https://www.srf.ch/sendungen/dok/rituelle-gewalt-mind-control-an-schweizer-…
[7] https://www.presserat.de/pressekodex.html
[8] /Nutzen-einer-Therapie/!5825164
## AUTOREN
Sean-Elias Ansa
Ruth Lang Fuentes
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