# taz.de -- Podcast „Geteiltes Leid“: Wenn Hilfe schadet | |
> „Geteiltes Leid“, erzählt von mutmaßlichen Opfern ritueller Gewalt. Auch | |
> wenn die Metaebene nicht tief genug geht, überzeugt der Vierteiler. | |
Bild: Allein wegen der Host Olga Herschel lohnt sich das Hören | |
Leonie ist 11, als sie das erste Mal in eine Klinik muss: Magersucht. Es | |
folgen weitere Diagnosen wie Depressionen, Borderline. Immer wieder muss | |
Leonie wegen autoaggressiven Verhaltens und Alkoholmissbrauchs ins | |
Krankenhaus. Dann, mit 19, bekommt sie von ihrer Psychotherapeutin eine | |
Erklärung: Sie soll jahrelanges Opfer ritueller sexualisierter Gewalt in | |
ihrer Kindheit sein. Der Täter: ihr Vater. Für diese Anschuldigungen gibt | |
es keine Beweise, aber es gibt schwerwiegende Folgen. | |
Von ihnen erzählt der [1][Undone-Podcast] „Geteiltes Leid“. In vier Folgen | |
führen Host Olga Herschel und Reporter Sören Musyal durch die Geschichte | |
von Leonie und durch die fragwürdigen Behandlungsmethoden. So nähern sie | |
sich einem Thema an, das es seit Jahrzehnten in die Medien und in die Köpfe | |
der Menschen schafft, aber in der Realität viel, viel kleiner ist: | |
[2][rituelle sexualisierte Gewalt]. | |
Leonie selbst will nicht mit dem Podcast-Team reden. Nicht darüber, dass | |
sie keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern hatte. Nicht über ihr Netz aus | |
Helfer*innen, das sie angeblich unterstützen wollte und deswegen | |
abgeschirmt hat. Auch nicht darüber, wie ihre Süchte eskaliert sind, sie | |
ins Krankenhaus musste, inzwischen körperlich und geistig behindert ist, | |
wieder Kontakt mit ihren Eltern hat. Nicht darüber, ob sie noch immer | |
glaubt, dass ihr Vater ihr Gewalt angetan hat. | |
## Verdammt gut und glaubhaft | |
Stattdessen sitzen die Hörer*innen am Tisch mit ebendiesem Vater. Werden | |
mitgenommen, wenn er erzählt, dass Leonie als Kind ein Zeitfresser war, der | |
aber gleichzeitig auch immer wieder versucht hat, ihr zu helfen. Der auch | |
erzählt, dass Leonie als junge Frau vergewaltigt wurde. Aber nicht groß | |
weiter darauf eingeht. Wichtig ist in der Erzählung vielmehr: Wann hat | |
Leonie welche Therapie gemacht? Wer hat sie in die Isolation gedrängt? Und | |
wieso konnte sie so schwer Kontakt zu ihrer Mutter aufbauen? | |
Dafür gehen Leonies Eltern ihre SMS durch, lesen Nachrichten samt Emojis | |
vor. Eltern und Podcast wollen zeigen: Die Gewalt war reine Einbildung. Und | |
sie machen das verdammt gut und glaubhaft. In Polizeiakten blickt der | |
Podcast allerdings nicht. | |
Dafür erzählen Musyal und Herschel von weiteren Fällen, etwa einem, in dem | |
einem Mann ritualisierte Gewalt gegen seinen jetzt erwachsenen Sohn | |
vorgeworfen wird. In seinem Umfeld: Personen, die auch bei Leonie | |
auftauchen. Und am Ende redet dann Amelie. Auch ihr wurde in einer Therapie | |
in einer Klinik nahegelegt, dass sie rituellen sexualisierten Missbrauch | |
erfahren habe. Doch sie kann sich nicht erinnern. Wochenlang setzt sie sich | |
in der Klinik damit auseinander, spielt mit, obwohl sie zweifelt. Heute | |
spricht sie reflektiert über die Zeit, ordnet ein, ist kritisch gegenüber | |
dem, was sie erfahren hat, woran sie sich erinnert oder eben nicht. | |
Diese Einordnung einer Betroffenen ist die Rettung für den Podcast, der in | |
den Folgen davor droht zu zerfransen. Er will die Hörenden auf eine | |
Metaebene hieven, die er aber nicht erreicht. Expert*innen kommen zwar | |
zu Wort, erzählen vom Kampf zwischen jenen, die an abgespaltene | |
Persönlichkeiten und rituelle Gewalt glauben, und ihren Gegner*innen. Es | |
wird ein erzählerischer Ausflug gemacht zu [3][Jan Böhmermanns gelöschter | |
„ZDF Magazin Royal“-Folge zum Thema]. Sowie zum US-amerikanischen | |
Vorläufer der Verschwörungserzählung über rituelle Gewalt, der „Satanic | |
Panic“. Spannend, aber für einen genauen Blick auf die Gesellschaft zu | |
kurz. Wieso glauben nicht nur (vermeintliche) Opfer an derlei Taten, | |
sondern auch Wissenschaftler*innen und wir als Gesellschaft? Liegt es | |
an der Brutalität oder am Faktor Religion? | |
Dass „Geteiltes Leid“ trotz allem zu empfehlen ist, liegt nicht nur am | |
starken Ende mit Amelie, sondern vor allem auch an Herschel. Sie hat selbst | |
als Ärztin 5 Jahre lang in Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie | |
gearbeitet. Ihr Blick auf das Thema sind ein Glücksfall für den Podcast und | |
den Journalismus. | |
5 Dec 2024 | |
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## AUTOREN | |
Johannes Drosdowski | |
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