# taz.de -- Wahlwiederholung in Berlin: Die offenen Fragen der Berlinwahl | |
> Noch drei Wochen noch bis zur Wiederholungswahl: Wird die Opposition | |
> besonders profitieren? Wir beantworten die wichtigsten Fragen. | |
Bild: Lecker, lecker, Berlin | |
Wer profitiert von einer niedrigen Wahlbeteiligung? | |
Wer wissen will, wie tief die Wahlbeteiligung sinken kann, muss in das Jahr | |
2006 zurückschauen. Damals beteiligten sich nur 58 Prozent der Berliner | |
Wahlberechtigten, in Sachsen-Anhalt waren es gar nur 44 Prozent – ein | |
historisches Tief. Wie tief es diesmal in Berlin geht, bleibt Spekulation, | |
aber als sicher gilt, dass die 75 Prozent von 2021 nicht wieder erreicht | |
werden – damals fielen Abgeordneten- und Bundestagswahlen zusammen. | |
Hinzu kommt: Das Unverständnis über die Wiederholungswahl und der damit | |
zusammenhängende Frust sind hoch. Zur Wahl gehen werden also vor allem die | |
Überzeugten, Stammwähler:innen und solche, die etwas verändern wollen. | |
Der Opposition wird es demnach einfacher gelingen, ihre Anhänger:innen | |
zu mobilisieren, als den Regierungsparteien. | |
CDU und auch AfD werben um jene, die das Gefühl haben, dass in Berlin zu | |
viel schiefläuft. Besonders schwierig ist es hingegen für die SPD, deren | |
Wähler:innen klassischerweise die Partei in Führungsverantwortung sehen | |
wollen. Mit der Aussicht auf Platz zwei oder drei und ohne eindeutige | |
Koalitiospräferenz dürften viele potenzielle Wähler:innen der | |
Sozialdemokrat:innen zu Hause bleiben. | |
Wie sehr schadet Lützerath den Grünen? | |
Bundesweit sind Klimaktivist:innen gerade dabei, die Geschehnisse aus | |
der [1][Schlammschlacht von Lützerath] zu verarbeiten. Besonders wütend ist | |
man auf die Grünen, weil diese einen Deal mit RWE geschlossen haben, der | |
das besetzte Braunkohledorf Lützerath und die Kohle darunter zum Abschuss | |
freigab. Dafür müsse die Partei bestraft werden, um die eigene Macht zu | |
demonstrieren, glauben viele in der Bewegung. | |
Der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer von der Freien Universität | |
Berlin bezweifelt aber, dass das klappt: „Lützerath ist für die Grünen | |
nicht das Hartz IV der SPD“, so seine Analyse; die Partei könne frustrierte | |
bewegungsnahe Wähler:innen kompensieren. „Die Partei hat viele neue | |
Wähler:innen, die nicht aus der Bewegung kommen, die nicht diese gefestigte | |
Identität haben“, meint Neugebauer. Diese könnten Lützerath sogar als Beleg | |
für den „staatstragenden und pragmatischen“ Charakter der Grünen | |
wahrnehmen. | |
Auf dem Parteitag am Wochenende zeigte sich Spitzenkandidatin Bettina | |
Jarasch dennoch bemüht, sich von der Bundespartei abzugrenzen. Plötzlich | |
unterstützt die Partei auch den Klima-Volksentscheid, dem die Partei bisher | |
skeptisch gegenüberstand. Beides kann als Friedensangebot an die Bewegung | |
gelesen werden. | |
Bisher kam es offenbar aber noch nicht zu einer höheren Zahl von | |
Parteiaustritten. „Natürlich sind wir frustriert, aber wir werden deshalb | |
nicht aufgeben, uns in unserer Partei für grüne Grundwerte einzusetzen, die | |
sich auch gegen Profitinteressen stellen“, sagte Luna Evans, | |
Landessprecherin der Grünen Jugend, zur taz. | |
Wie sicher ist es, dass die Wahl am 12. Februar wirklich zählt? | |
Ziemlich sicher. Landeswahlleiter Stephan Bröchler betonte am Montag im | |
Innenausschuss, bei den Wahlpannen, die es bisher gegeben hat, handele sich | |
um „Einzelfälle“. So seien zum Beispiel in Charlottenburg-Wilmersdorf | |
Wahlbenachrichtigungen ohne Dienstsiegel verschickt worden, weil eine | |
Mitarbeiterin schlicht vergessen habe, diese „händisch zu siegeln.“ | |
In Treptow-Köpenick wurden Briefwahlunterlagen doppelt verschickt. Beide | |
Probleme würden die Wiederholungswahl aber nicht gefährden, sie seien | |
inzwischen gelöst. Insgesamt sei man „sehr viel sorgfältiger“ bei der | |
Kontrolle der gedruckten Stimmzettel als 2021: „Wir haben Stichproben | |
verschärft und schauen auch in die unteren Schichten in den Kartons“, sagt | |
Bröchler. | |
Keine Rolle spielen soll der Streik bei den Zusteller*innen der | |
Deutschen Post. Die nächste Tarifrunde ist in zweieinhalb Wochen – also | |
kurz vor dem Wahlsonntag. Bis dahin, hatte Verdi angekündigt, werde es | |
keine Arbeitsniederlegungen geben. Bröchler sagte, es gebe zudem eine mit | |
der Post vereinbarte „Sonderlogistik“ am Wahlwochenende. | |
Inwiefern könnte die Kleinpartei FDP wichtig werden? | |
Nach der Wahl vor über einem Jahr stand die FDP relativ kurz davor, | |
Regierungsverantwortung zu übernehmen; zumindest Franziska Giffey (SPD) | |
hätte lieber mit ihr als der Linken regiert. Doch Mehrheits-SPD und Grüne | |
verhinderten die erste liberale Regierungsbeteiligung in Berlin seit 1989. | |
Bei der Wiederholungswahl sieht es für die FDP derzeit knapp aus, die | |
letzten Umfragen sehen sie zwischen 5 und 7 Prozent. | |
Sollte sie an der 5-Prozent-Hürde hängen bleiben, würden sich die Mandate | |
im Abgeordnetenhaus auf nur noch fünf Parteien verteilen – die Möglichkeit | |
für eine Koalition aus nur zwei Parteien wäre höher. Sollten etwa CDU und | |
SPD jeweils 20 Prozent oder mehr holen, könnte es zu einer Neuauflage einer | |
Großen Koalition – zuletzt bis 2016 – kommen –, sofern die wenig | |
CDU-begeisterte SPD-Basis das mitmachen würde. Auch eine Mehrheit für CDU | |
und Grüne ist möglich, wenn auch zuletzt beide Parteien eher auf Abgrenzung | |
zueinander aus waren. | |
Andersherum wäre ein Einzug der FDP ins Abgeordnetenhaus fast | |
gleichbedeutend mit der Notwendigkeit einer Dreier-Koalition. | |
Möglicherweise könnte die FDP einem Bündnis aus CDU und SPD zur Mehrheit | |
verhelfen. Eventuell aber sind es auch nur Grüne, SPD und Linke, die dann | |
als realistische Koalition über eine sichere Mehrheit verfügen. | |
Was bedeutet ein Wiedererstarken der AfD? | |
Die AfD hofft „auf die zweite Chance“. Gegen die Wahl von 2021 hatte sie | |
geklagt, nun steuert sie auf ein besseres Ergebnis als die mageren 8 | |
Prozent zu, die im Vergleich zu 2016 eine Halbierung ihrer Fraktion | |
bedeuteten. Diese besteht derzeit aus 13 Abgeordneten, von denen zwei ihre | |
Wahlkreise, jeweils in Marzahn, direkt gewinnen konnten. | |
Ihre parlamentarische Bedeutung ist entsprechend gesunken. Der Partei stand | |
nur noch der Vorsitz in einem Ausschuss zu, nachdem es zuvor drei waren. | |
Ausüben konnte sie die Funktion nicht, da der Wirtschaftsausschuss dem | |
AfD-Kandidaten Frank-Christian Hansel die Mehrheit verweigerte. | |
In Umfragen liegt die Partei inzwischen wieder bei über 10 Prozent. Sie | |
inszeniert sich als Protestpartei, die die Aufarbeitung des Wahlchaos | |
erzwungen habe, und dürfte ihre Stammwähler:innen mobilisieren. Mit | |
einer größeren Fraktion dürfte sie auch wieder das Anrecht haben, mehr als | |
einen Ausschuss zu führen. Die [2][Bedeutung der Völkischen, die etwa ein | |
Drittel der Fraktion stellen], könnte sinken, wenn die Fraktion wächst. In | |
der Landesliste stehen ab Platz 12 überwiegend Kandidat:innen, die nicht | |
dem Höcke-Flügel zugeordnet werden. | |
Und wenn die CDU die Wahl gewinnt? | |
Selbst wenn die CDU die meisten Stimmen erhält, leitet sich daraus kein | |
Anrecht auf die Regierungsbildung ab. „Ein solches Modell ist | |
demokratietheoretisch vollkommen legitim“, sagt der Politikwissenschaftler | |
Neugebauer. Auch ein Präzedenzfall wäre das nicht: Schon 1989 koalierte die | |
SPD unter Walter Momper mit der Grünen-Vorgängerpartei Alternative Liste, | |
obwohl die CDU stärkste Kraft wurde. Auch die sozialliberale | |
Bundeskoalition zwischen der SPD unter Willy Brandt und der FDP unter | |
Walter Scheel geschah gegen eine CDU-Mehrheit. | |
23 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Timm Kühn | |
Erik Peter | |
Anna Klöpper | |
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