# taz.de -- Gegenwartskunst in Lübeck ausgestellt: Mr. Mullicans Schatzkammer | |
> Konzept, das auch ignoriert werden darf, und manchmal einfach Trance vor | |
> Publikum: Der Possehl-Kunstpreisträger Matt Mullican stellt in Lübeck | |
> aus. | |
Bild: Mal monochrom, hier bunt und leuchtend: Matt Mullican, „50 Years of Wor… | |
HAMBURG taz | Lübeck ist eine stolze Stadt – stolz auf ihre glorreiche | |
Hanse-Vergangenheit und deren Zeugnisse, die dann in ihrerseits [1][an | |
Patina reichen Gebäuden] auszustellen sind. Da ist die Kunsthalle St. Annen | |
besonders, als sie sich zwar ebenfalls auf altes, spätgotisches Gemäuer | |
stützt, ihren Blick kuratorisch aber nach vorn richtet, oder nach rechts | |
und links: Ausdrücklich der Kunst nach 1945 verpflichtet ist das Haus seit | |
seiner Eröffnung im Jahr 2003. | |
Dort ausgestellt zu werden, ist – neben 25.000 Euro – Teil des nochmal | |
jüngeren Possehl-Preises für internationale Kunst. Das ist folgerichtig: | |
Auch diese erst zweimal (und das alle drei Jahre) vergebene Auszeichnung | |
ist ausdrücklich Gegenwärtigem zugedacht. | |
Nach Doris Salcedo 2019 ist mit [2][Matt Mullican] derzeit noch | |
[3][Preisträger Nummer zwei] in der Kunsthalle zu sehen. Alle vier Etagen | |
bespielt der US-Amerikaner mit einer Auswahl aus inzwischen 50 Jahren | |
künstlerischen Schaffens. Spuren in der Stadt hinterlassen hat der | |
71-Jährige schon eine ganze Weile: Den Sommer über blühte sein „Five Color | |
Garden“ auf der Lübecker Domwiese, eine Anordnung verschiedenfarbiger | |
Blumen nach Mullicans grafischer Vorgabe. | |
Sein „Five World Chart on Brick“ wiederum zierte bis Mitte November das | |
Dach des Europäischen Hansemuseums – tatsächlich: eine nach Kreide | |
aussehende Zeichnung auf dem ortsüblichen Ziegelstein-Grund. | |
Auch in St. Petri hat er ausgestellt, also unter einem der sieben so sehr | |
[4][hansestädtische Identität stiftenden Kirchtürme]: Bis Anfang November | |
war dort unter dem Titel „Church“ eine dreistellige Zahl sechs Meter hoher | |
Leinwände präsentiert, darauf im Prinzip alle seine Arbeit durchziehenden | |
Motive, bloß jeder Farbe beraubt: Frottagen, Abreibungen, grau auf weißem | |
Grund. | |
Für Freund*innen des Anzüglichen: Er schmuggelte darunter auch die kein | |
bisschen pornografische Darstellung eines ejakulierenden Penis ins | |
ehrwürdige Gotteshaus. | |
Dazu stand aber auch eine Art Holzhütte im Kirchenschiff, tapeziert mit | |
sehr frühem, durchaus farbenfrohen Mullican: collagierte Zeitungsschnipsel, | |
mit Schere und Kleber verfertigte Zitate der uns ja immer noch umgebenden | |
Medienwelt. | |
Dieses Aufgreifen und Ansammeln hat Methode: Geehrt werde, so teilte es die | |
Possehl-Stiftung im späten Oktober mit, „einer der wegweisenden Vertreter“ | |
der [5][Pictures Generation], einer Gruppe von Künstler*innen also, die | |
sich nie selbst als solche bezeichnet haben, sondern das durchweg von außen | |
zugeschrieben bekamen. | |
## Strategien der bewussten Aneignung | |
Namensstifterin war eine Gruppenausstellung im Jahr 1977; oder noch mehr | |
doch die etliche der Beteiligten zeigende New Yorker Galerie „Metro | |
Pictures“? Dort habe die künstlerische Postmoderne begonnen, [6][schrieb | |
vielleicht etwas arg vollmundig] mal das Monopol-Magazin. | |
Zumindest aber hallten die damals auch von der Pictures Generation | |
erprobten Mittel lange nach: Nicht ums genialische Schöpfen ging es da, | |
dafür um [7][Strategien der bewussten, dabei mindestens doppelbödigen | |
Aneignung]; eine Stärkung der Rezeption gegenüber der Produktion, | |
inspiriert auch durch die Lektüre etwa von Roland Barthes’ „Tod des | |
Autors“. Bekannteste Angehörige der Gruppe, die keine sein wollte: Cindy | |
Sherman, Richard Prince und Robert Longo | |
Ab Mitte der 70er befasste sich auch Mullican also mit dem Einfluss | |
massenmedialer Bilder auf die alltägliche Wahrnehmung, machte solches ja | |
längst überreichlich zu findende Material zum Gegenstand, auch Material | |
künstlerischer Auseinandersetzungen. | |
Es kommt dabei auch heraus, was einmal als Medienkunst durchging – als sei | |
nicht jede Leinwand auch nur ein Medium. So sind in Lübeck nun einige von | |
Mullicans Computeranimationen zu sehen. Beim Presserundgang deutete er an, | |
dass die in den frühen 90er-Jahren sündhaft teuer gewesen seien; heute nur | |
noch schwer vorstellbar, erklärt sich das über die Leistungssprünge der | |
Hardware. | |
50 Jahre künstlerischen Schaffens haben aber auch ganz anderes | |
hervorgebracht: Eine Möglichkeit, Ordnung zu bringen in das viele Material, | |
liefert die Abstraktion: Wie da ein Motiv, eine Idee, immer reduzierter in | |
Erscheinung tritt, das lässt sich in Lübeck schön nachvollziehen. | |
Gezeichnet hat Mulligan, der auch mal [8][in Hamburg Professor für | |
Zeitbezogene Medien] war, fotografiert, es gibt an Minimal Art Erinnerndes | |
und (beinahe) zahllose Variationen von Mullicans eigenwilliger, dabei aber | |
immer zugänglicher Kosmologie. | |
Er macht Peformances, lässt sich etwa vor Publikum in Trance versetzen, | |
zeigt an Hochofenschlacke erinnernde Metallabgüsse privater | |
Schubladeninhalte und filigrane Glasobjekte, Leuchtkästen und die | |
metallenen Reproduktionen sämtlicher Seiten der [9][Diderot- | |
d’Alembert’schen „Encyclopédie“]. | |
Wie diese ist seines ein in alle möglichen Richtungen wucherndes, aber bei | |
allem Konzepthaften immer anschlussfähiges Œuvre, das der bis 2019 in | |
Hamburg zeitbezogene Kunst lehrende Wahlberliner da ausstellt. Eine Kunst, | |
die sich rezipieren lässt ganz ohne besonderes Wissen, aber auch mit sehr | |
viel davon. | |
25 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Buddenbrook-Museum-in-Luebeck/!5895165 | |
[2] https://www.capitainpetzel.de/artists/47-matt-mullican/biography/ | |
[3] https://www.possehl-stiftung.de/de/wie-wir-gestalten/auszeichnungen-der-pos… | |
[4] /Archiv-Suche/!5644908/ | |
[5] https://www.metmuseum.org/toah/hd/pcgn/hd_pcgn.htm | |
[6] https://www.monopol-magazin.de/metro-pictures-gallery | |
[7] https://magazine.artland.com/art-movement-pictures-generation/ | |
[8] https://www.hfbk-hamburg.de/documents/406/lerchenfeld_HFBK_nr44.pdf | |
[9] /Archiv-Suche/!1135072/ | |
## AUTOREN | |
Alexander Diehl | |
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