# taz.de -- Stiftungschef über Förderentscheidungen: „Kultur ist systemrele… | |
> Max Schön ist Vorstand der Lübecker Possehl-Stiftung. Ein Gespräch über | |
> Hilfe in existenziellen Notlagen und die Frage, woher das Geld dafür | |
> kommt. | |
Bild: Bekam bei der ersten Fridays-for-Future-Demo vor seinem Büro glasige Aug… | |
taz: Herr Schön, warum sind Sie nach Lübeck zurückgekommen? | |
Max Schön: Ich bin nach einem Verkehrsunfall in meine Heimatstadt Lübeck | |
zurückgekommen. Bis vor sieben Jahren habe ich die „Stiftung 2°“ in Berlin | |
geleitet und führte eine Wochenendbeziehung mit meiner Lebensgefährtin, die | |
hier als Bildhauerin arbeitet. Dann hatten wir diesen schweren Autounfall. | |
Ein Wendepunkt? | |
Wir haben gemerkt, wie schnell unser Glück vorbei sein kann, und | |
entschieden, gemeinsam an einem Ort zu leben – Lübeck. Ein Jahr später | |
wählte der Vorstand der Possehl-Stiftung mich zu seinem Vorsitzenden. Ich | |
finde es ist der schönste Arbeitsplatz, den man haben kann. | |
Die Possehl-Stiftung finanziert Projekte für das soziale Leben und das | |
Stadtbild Lübecks. | |
Wir haben einen geschäftsführenden Vorstand, der aus 19 Personen besteht, | |
die sich einmal im Monat zusammensetzen und möglichst im Konsens | |
entscheiden. In der Gründungsphase vor hundert Jahren hat die Stiftung zehn | |
Förderentscheidungen im Jahr getroffen, heute sind es einige hundert. | |
Die Stiftung fördert auch Kulturschaffende, die unter der Corona-Krise | |
leiden. Sehen Sie da viele existentielle Notlagen? | |
Ja, absolut. Dieser Bereich ist besonders empfindlich, denn der Weg zur | |
Bank ist den Kulturschaffenden meistens versperrt. Wenn Kultur so zentral | |
ist, wie oft betont wird, wären von der Politik viel schnellere und mehr | |
Hilfen wichtig gewesen. Auch Kultur ist systemrelevant, und es stehen viele | |
Existenzen auf dem Spiel. Unsere Hilfestellung für die freien | |
Kulturschaffenden ist der „Kulturfunke“: Wir finanzieren 110 Projekte mit | |
jeweils bis zu 6.000 Euro. Das hat viel bewirkt. Überall im Bundesgebiet | |
wird im Moment gejammert, bei uns in Lübeck sprüht es nur so vor neuen | |
Ideen. | |
Lübecks Bürgermeister lehnte städtische Soforthilfen für Kulturschaffende | |
mit dem Argument ab, dass die Stiftung ja den Künstlerinnen und Künstlern | |
hilft. Finanzieren Sie also Bereiche, wo eigentlich die Kommune zahlen | |
müsste? | |
Diese Frage stellen wir uns bei fast jedem Antrag der Stadt. Wir | |
orientieren uns daran, was die Menschen brauchen und ob die Stadt das | |
leisten kann. Ein gutes Beispiel ist das der Geflüchteten, die 2015 | |
ankamen. Wir finanzierten ihnen fünf Tage in der Woche Sprachkurse. Das war | |
ein richtig großer Beschluss, der in den ersten zwei Jahren rund anderthalb | |
Millionen Euro gekostet hat. Doch er hat dazu beigetragen, dass die | |
Integration hier ziemlich gut gelaufen ist. | |
Das war eine besondere Situation. Aber es gibt oft Entscheidungen der | |
Stadt, bei denen die Stiftung offenbar als Backup funktioniert: Wir haben | |
nicht genug Geld, aber wir haben ja Possehl. | |
Ja, das passiert, und es stößt in der Stiftung nicht auf Begeisterung. Es | |
gibt Beschlüsse, in denen steht: Restfinanzierung Stiftungen. Und da weiß | |
man dann, wer gemeint ist. Doch wir fühlen uns frei, zuzusagen oder | |
abzulehnen. | |
Wie sehen Sie Rolle der Stiftung – der Onkel mit der dicken Geldbörse? | |
Nein. Denn wir finanzieren nicht nur, wir vernetzen auch viel. Gerade haben | |
wir ein Projekt mit der Hertz-Stiftung aus Hamburg auf den Weg gebracht, | |
das Stipendien für Berufsschüler finanziert, die beispielsweise ins Ausland | |
gehen oder sich fortbilden wollen. Oder die Buxtehude-Tage, die hier | |
jährlich stattfinden. Dafür hatten sich mehrere Institutionen um Zuschüsse | |
beworben. Wir haben gesagt, wir fördern euch nur alle zusammen. Die | |
Veranstalter mussten also gemeinsam etwas organisieren, und daraus ist eine | |
langjährige Zusammenarbeit entstanden. | |
An vielen Häusern hängen Messingschilder: „Renoviert mit Hilfe der | |
Possehl-Stiftung“. Ohne diese Hilfe wäre das historische Zentrum vermutlich | |
nicht so schick. Wahrscheinlich denken viele Touristen, Lübeck ist eine | |
reiche Stadt. | |
Ob da am Ende an einem Haus „Possehl“ draufklebt, interessiert uns nicht so | |
sehr. Aber im Ernst, Lübeck ist ja eine reiche Stadt. Wir haben | |
Bevölkerungszuwachs, wir haben ein lebendiges Kulturleben, viel Ehrenamt | |
und sind reich an Ideen und Bürgergeist. Der Stadthaushalt ist nicht alles, | |
und auch der sah vor Corona gar nicht mehr so schlecht aus. | |
Die Stiftung gehört zu dem Possehl-Konzern, der aus über 200 Unternehmen | |
weltweit besteht. Diese verdienen zum Teil ihr Geld damit, Bodenschätze | |
auszubeuten. Sie haben sich für Nachhaltigkeit und in Ihrer Zeit als | |
Präsident der Familienunternehmer auch für unternehmerische Werte wie | |
Ortstreue und Integrität stark gemacht. Ist es wichtig, wo das Geld | |
herkommt? | |
Der Teil des Unternehmens, der Rohstoffe handelt, trägt noch unseren Namen, | |
gehört aber nicht mehr der Possehl-Holding. Die heutigen Possehl-Firmen | |
arbeiten unter anderem in der Baubranche, im Spezialmaschinenbau und der | |
Elektronik. Possehl ist das größte Mittelstands-Beteiligungsunternehmen | |
Deutschlands. Anders als bei einer Heuschrecke geht es ihm nicht darum, | |
dass die Firmen möglichst schnell ihren Wert steigern, damit sie mit Gewinn | |
wieder verkauft werden können. Sie sollen ihre Geschäfte weiterentwickeln | |
und vorantreiben und langfristig gesund wachsen, damit sie stabil Gewinne | |
übrigen können für die Stiftung. | |
Sie engagieren sich seit den 1980er-Jahren für nachhaltiges Wirtschaften. | |
Glauben Sie, wir können die Wirtschaft, wie sie jetzt ist, klimafreundlich | |
machen? | |
Es gibt viel Potential bei der Energie-Effizienz und dem Einsatz | |
regenerativer Energien. Bei anderen Themen braucht es politische | |
Begleitung. Zum Beispiel sollte es für nicht nachhaltig gewonnene | |
Produktion Importzölle auf Rohstoffe geben. Überhaupt: Die Politik sollte | |
viel mehr Mut zum Gestalten haben, und Preise müssen endlich die | |
ökologische Realität abbilden. | |
Als Unternehmer waren Sie Befürworter der Wachstumswirtschaft. Wie geht das | |
mit Nachhaltigkeit zusammen? | |
Wachstum ist nicht an sich schlecht. Zum Beispiel hat es ja keine | |
ökologischen Nachteile, wenn mehr Leute Musik machen oder gesunde | |
Lebensmittel verkaufen. Bestimmte Dinge können wachsen und sich | |
weiterentwickeln – andere nicht. Wir brauchen nicht mehr Bier aus Mexiko | |
und Flugtee. Wir versiegeln zu viel Boden für neuen Wohnraum, während | |
gleichzeitig viele ältere Menschen allein in großen Häusern leben. Eine | |
Genossenschaft in Frankfurt gibt Familien große Wohnungen – wenn die Kinder | |
dann flügge sind, ziehen die Mieter automatisch um in zwei oder drei | |
Zimmer, sogar der Umzug wird mitorganisiert. So etwas könnten viele | |
Wohnungsbaugenossenschaften machen. Die Pläne, wie wir nachhaltiger | |
wirtschaften könnten, sind alle da, wir müssen sie nur realisieren. Man | |
muss diesen Gestaltungswunsch haben und ihn kraftvoll umsetzen. | |
Wenn „Fridays for Future“ demonstrieren, kommt der Protestzug direkt unter | |
Ihrem Bürofenster entlang. Wie sehen Sie diese Bewegung? | |
Bei der ersten Demo habe ich glasige Augen bekommen. Ich dachte: Jetzt | |
kommen endlich der Schub und die Kraft, die wir so lange in Deutschland | |
offensichtlich nicht hatten. Oft braucht es eine Generation, bis sie | |
wirklich reif sind und es zu echten Systemveränderungen kommt. Was sich | |
nämlich nicht geändert hat, ist das Wahrnehmungssystem des Körpers. | |
Was meinen Sie damit? | |
Wenn etwas sehr weit weg geschieht, oder etwas sich ganz allmählich ändert, | |
nehmen wir das intuitiv nicht wahr. Wir haben keinerlei Rezeptoren für den | |
Klimawandel, wir können ihn nur intellektuell erfassen, über | |
Temperaturkurven und Fotos von schwindenden Gletschern zum Beispiel. Wir | |
müssen ihn aber verstehen, um unser Verhalten daran anzupassen. | |
9 Dec 2020 | |
## AUTOREN | |
Friederike Grabitz | |
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