# taz.de -- Sozialwissenschaftler über Rente mit 70: „Kein Sachzwang, das Re… | |
> Die Diskussion um das Renteneintrittsalter blende manches aus, sagt | |
> Florian Blank von der Hans-Böckler-Stiftung. Er fordert, mehr über die | |
> Gestaltung von Arbeit zu sprechen. | |
Bild: Im Homeoffice für die Elektronikwerkstatt | |
taz: Herr Blank, neue Zahlen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung | |
(BiB) zeigen, dass weniger Menschen im höheren Alter im Beruf bleiben. Das | |
hat eine Debatte über das Renteneintrittsalter ausgelöst. | |
Florian Blank: Die Daten bestätigen erst einmal den Trend des letzten | |
Jahrzehnts, dass die Erwerbstätigkeit älterer Menschen deutlich zugenommen | |
hat. Gleichzeitig zeigen sie, dass diese Erwerbstätigkeit aktuell nicht | |
mehr so stark ansteigt – [1][in der Pressemitteilung wurde das als | |
Stillstand beschrieben]. Allerdings wurden die Coronajahre 2020 und 2021 | |
auch in die Auswertung einbezogen: Da die Pandemie ein externer Schock war, | |
ist nicht sicher, ob es sich wirklich um eine Stagnation handelt oder | |
lediglich um eine Schwächung oder kurze Unterbrechung des Aufwärtstrends. | |
Wie kam es zu dem Trend, dass ältere Menschen länger arbeiten? | |
In der Nachwendezeit wurde die Frühverrentung verwendet, um | |
Arbeitslosigkeit zu bekämpfen oder unsichtbar zu machen. Dieser Zugang | |
wurde abgelöst durch Regelungen, die auf ein längeres Erwerbsleben | |
abzielen. Nun steigt das Renteneintrittsalter stetig an und Menschen | |
arbeiten tatsächlich länger. Außerdem haben ältere Menschen aufgrund einer | |
höheren Nachfrage an Arbeitskraft heute bessere Chancen, länger im Beruf zu | |
bleiben. Aus Forschungsergebnissen wissen wir aber auch, dass gerade Ältere | |
oft keinen Berufseinstieg mehr schaffen, wenn sie arbeitslos werden. Es | |
gibt immer noch viele Fälle von Menschen, die aus der Arbeitslosigkeit in | |
die Rente wechseln. Es gibt also noch Luft nach oben, über 50-Jährige | |
länger in Arbeit zu halten. | |
Ist es also irreführend, jetzt über ein höheres Renteneintrittsalter zu | |
diskutieren? | |
Natürlich sind die Themen Erwerbstätigkeit von älteren Menschen und Rente | |
eng miteinander verbunden, aber trotzdem unabhängig voneinander zu | |
behandeln. Die vom BiB ausgewerteten Zahlen berichten erst einmal nur über | |
Erwerbstätigkeit, nicht aber darüber, ob Menschen, die aufhören zu | |
arbeiten, direkt in die Rente gehen, erst mal arbeitslos sind oder auf die | |
Enkel aufpassen, was ja auch eine Art der Arbeit ist. Mich ärgert es, dass | |
wir so schnell über die Rente und die Finanzierung des Sozialsystems reden, | |
anstatt darüber, wie wir Menschen darin unterstützen können, möglichst | |
lange arbeitsfähig zu bleiben. Was können Arbeitgeber tun, um Menschen | |
länger im Betrieb zu halten, wie müssten der Gesundheitsschutz und die | |
Weiterbildungsmöglichkeiten reformiert werden? Die Forschung zeigt ja, dass | |
der Ausstieg aus dem Erwerbsleben ganz stark mit den Arbeitsbedingungen | |
verbunden ist. | |
Ähnlich [2][äußerte sich Bundeskanzler Olaf Scholz] (SPD). Er sagte, es | |
gelte den Anteil derer zu steigern, die wirklich bis zum | |
Renteneintrittsalter arbeiten können – was vielen bis heute schwerfalle. | |
CSU-Politiker Stefan Müller kommentierte sogleich, damit beginne die SPD, | |
„ihr Prestigeprojekt Rente mit 63 abzuwickeln“. | |
Ich finde, Scholz’ Aussage ist erst mal nicht verwerflich. Er hat ja auf | |
die Beschäftigungsmöglichkeit hingewiesen, spricht von „können“. In sein… | |
Aussage geht es also eher darum, wie man die Einsatzfähigkeit älterer | |
Beschäftigter sichern kann. Darum direkt eine [3][Debatte über das | |
Renteneintrittsalter] loszutreten, finde ich falsch. | |
Die Debatte kommt aber immer wieder hoch. Warum ist die Sorge, dass | |
Renteneintrittsalter würde in Deutschland zu niedrig liegen, so groß? | |
Es gibt verschiedene Stellschrauben, um das Rentensystem in Einklang zu | |
bringen: Man kann über den Beitragssatz, die Leistungshöhe und den | |
Renteneintritt nachjustieren. Die Ampelkoalition hat festgelegt, den | |
Beitragssatz in dieser Legislaturperiode nicht über 20 Prozent ansteigen zu | |
lassen – das sollten sie vermutlich auch erreichen. Das Rentenniveau soll | |
über 2025 hinaus stabilisiert werden. Und das Renteneintrittsalter soll | |
nicht länger angehoben werden. Vielen in der Wissenschaft und Politik ist | |
das ein Dorn im Auge: Sie fordern, dass wir länger arbeiten sollten, weil | |
wir heutzutage auch länger leben. Sonst, so die Logik, könnte ein | |
„tragbares“ Verhältnis zwischen Beitragszahler:innen und | |
Renter:innen nicht mehr aufrechterhalten werden und das Rentensystem | |
würde kollabieren. | |
Und ist da was dran? | |
Was häufig in der Debatte ausgeblendet wird, ist, dass die „Tragbarkeit“ | |
oder „Bezahlbarkeit“ des Rentensystems im Grunde politische Begriffe sind. | |
Denn eigentlich geht es doch darum, was wir uns als Gesellschaft leisten | |
wollen. Rein technisch betrachtet ist es nützlich für das Rentensystem, | |
wenn die Menschen länger arbeiten. Es gibt aber keinen Sachzwang, das | |
Rentenalter beispielsweise auf 70 anzuheben. Eine Ausweitung | |
sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung auch unterhalb der | |
Altersgrenze kann ebenfalls die Einnahmen der Sozialversicherung erhöhen. | |
Wir könnten die gewonnen Jahre auch beispielsweise für längere | |
Bildungszeiten oder Familienphasen nutzen. Und dass der Ruhestand wirklich | |
ruhig ist, ist doch auch ein Klischee: Viele Menschen arbeiten bei der | |
Betreuung der Enkel, der Unterstützung der Kinder oder in sozialen und | |
politischen Ämtern weiter. | |
Der Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Christian Dürr, wünscht sich | |
ein „[4][flexibles Renteneintrittsalter] und verschiedene | |
Arbeitszeitmodelle“. Ermöglicht Flexibilisierung wirklich mehr Freiheit? | |
Ich sehe die Forderung der FDP nach mehr Flexibilität eher als Versuch, das | |
System so zu verändern, dass mehr Arbeitskräfte verfügbar sind. Das | |
aktuelle Rentensystem gibt Menschen bereits verschiedene Möglichkeiten, um | |
die Bedingungen ihres Renteneintritts zu bestimmen und auch länger zu | |
arbeiten, wenn sie können und wollen. | |
Wie zum Beispiel? | |
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, über den Renteneintritt zu bestimmen. | |
Zum einen gibt es die Altersrente, die ab einer gewissen Altersgrenze | |
bezogen werden kann – gerade liegt sie bei 65 Jahren und elf Monaten. Die | |
Rente für langjährig Versicherte darf man ab einem Alter von 63 Jahren und | |
nach 35 Versicherungsjahren mit Abschlägen beziehen. Dafür müssen es sich | |
die Menschen aber leisten können, auf einen Teil ihrer Rente dauerhaft zu | |
verzichten. Drittens gibt es die Rente für besonders langjährig | |
Versicherte: Nach 45 Versicherungsjahren können Menschen aktuell mit 64 | |
aufhören zu arbeiten. | |
Ab einem gewissen Alter ist aber Schluss? | |
Nein, es gibt kein Gesetz, das den Menschen verwehrt, länger zu arbeiten, | |
vorausgesetzt, sie wollen, sind körperlich und psychisch in der Lage und | |
der Arbeitgeber beschäftigt sie auch weiter. Nachdem Sie die | |
Regelaltersgrenze erreicht haben, können sie sowohl ihre Rente beziehen als | |
auch arbeiten und unbegrenzt dazuverdienen. Auch bei den vorgezogenen | |
Altersrenten sollen die Hinzuverdienstgrenzen wegfallen. Sollten Menschen | |
sogar ihren Renteneintritt nach hinten verschieben, werden sie durch | |
Aufschläge belohnt. Insgesamt bietet unser Rentensystem also sehr viel | |
Flexibilität. | |
Was wären sinnvolle Maßnahmen, die statt einer Flexibilisierung getroffen | |
werden können, um Menschen länger im Beruf zu halten? | |
Wir müssen über die Gestaltung von Arbeit sprechen. Arbeitsplätze sollten | |
nicht kaputt machen, Menschen müssten beispielsweise frühzeitig aus der | |
Schichtarbeit genommen werden können. Und wir sollten auch an die | |
Arbeitgeber appellieren, das Potenzial, das in älteren Menschen steckt, zu | |
nutzen. Bei einem sektorübergreifenden Fachkräftemangel ist es | |
unverständlich, warum ältere Beschäftigte entlassen werden, die dann | |
geringere Chancen haben, auf dem Arbeitsmarkt eine neue Stelle zu finden. | |
Durch den demografischen Wandel wird sich das Verhältnis von | |
Rentner:innen auf Beitragszahlende verschieben. Gibt es eine Alternative | |
zum längeren Arbeiten, um das Rentensystem zu finanzieren? | |
Ganz grundsätzlich sollte sozialversicherungspflichtige Beschäftigung | |
gestärkt werden. Wenn es darüber hinaus um die Details der Finanzierung der | |
Rente geht, muss vor allem gefragt werden, wer genau die Lasten trägt und | |
tragen soll. Die Rentenversicherung finanziert sich aus zwei Töpfen: den | |
Beiträgen der Beschäftigten und der Arbeitgeber auf der einen Seite und | |
einem Zuschuss durch den Staatshaushalt auf der anderen. Häufig wird | |
argumentiert, dass ein Anstieg der Beiträge als Teil der Lohnnebenkosten | |
dazu führt, dass Arbeitskraft in Deutschland zu teuer wird und damit | |
Entlassungen oder weniger Neueinstellungen möglich sind – weil Arbeitgeber | |
entweder den Standort verlagern oder rationalisieren. So einfach ist das | |
aber nicht. Viele Arbeitgeber haben Spielräume: Wenn der Beitragssatz zur | |
Sozialversicherung hochgeht, könnten andere Ausgaben eine Nummer kleiner | |
ausfallen. Und volkswirtschaftlich gesehen können höhere Rentenausgaben die | |
Nachfrage stärken. Es gibt eine ganze Reihe von Möglichkeiten und | |
Unwägbarkeiten, die sich in manchen ökonomischen Rechnungen einfach nicht | |
niederschlagen. Häufig werden auch die Potenziale des Arbeitsmarktes | |
vernachlässigt. Stattdessen reden wir immer wieder über das | |
Renteneintrittsalter. Das ist doch verkürzt. | |
20 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.bib.bund.de/DE/Presse/Mitteilungen/2022/2022-12-10-Renteneintri… | |
[2] /Olaf-Scholz-Rentenappell/!5898784 | |
[3] /Rentenalter-Debatte/!5902541 | |
[4] /Rentenalter-Debatte/!5902541 | |
## AUTOREN | |
Tatjana Söding | |
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