| # taz.de -- Freiheitskampf in der Ukraine und Iran: Angst als faule Ausrede | |
| > Mutlosigkeit ist ein Luxus, den sich Ukrainer und Iranerinnen nicht | |
| > leisten können. Von ihnen sollten wir lernen, an die Kraft zum Wandel zu | |
| > glauben. | |
| Bild: Bewohner von Cherson feiert ukrainischen Soldaten nach der Befreiung der … | |
| Muss nur noch kurz die Welt retten, sang Tim Bendzko vor über zehn Jahren, | |
| und gefühlt lief [1][dieser Song] seit einem Jahrzehnt in Dauerschleife und | |
| machte die Runde um die Welt: Fast alle sind für irgendeine Weltrettung | |
| zuständig, und obwohl ich dankbar bin für jene Menschen, die unermüdlich | |
| wirken, macht sich in meinem Kopf zum Ende des Jahres die vollkommene | |
| Weltrettungsmüdigkeit breit, obwohl ich weiß, davon kommt nichts. | |
| Ich versuche meistens auch, den Funken Hoffnung zu finden, die | |
| Handlungsfähigkeit des Einzelnen zu betonen, an die vereinte Kraft der | |
| vielen zu glauben. Vielleicht ist es zum Ende des Jahres aber auch möglich, | |
| gewisse Gefühle von Mut- und Machtlosigkeit auszusprechen, statt immer nur | |
| den Mutmuskel zu beschwören, wie so viele das derzeit notgedrungen tun. Zum | |
| Ende des Jahres das Zweifeln eingestehen, auch jene Momente zuzulassen, in | |
| denen ich denke, es führt doch alles zu nichts. | |
| Warum sollte ich mich nicht einem Moment lang der Dystopie hingeben, zumal | |
| mich das neue Jahr mit seinen guten Vorsätzen bald schon einholen wird. Es | |
| gab zu Beginn dieses Jahres drei Tage, in denen mich Gefühle von Mut- und | |
| Machtlosigkeit völlig in Besitz nahmen. | |
| Das war, als die ersten Bilder von russischen [2][Panzern zu sehen waren, | |
| wie sie auf Kiew zurollten]; ein taubes Gefühl von Ohnmacht, das sich | |
| einstellte, weil man denkt, man hat das Leid, das auf solche Bilder folgt, | |
| schon einmal gesehen und niemand wird es verhindern. Man zuckt nach dem | |
| Massaker von Butscha nur mit den Schultern, weil es niemand verhindert hat, | |
| es war ja vorhersehbar. | |
| ## Mehr Respekt für die Ukrainer | |
| Es sind Momente, in denen Begriffe wie Weltgemeinschaft wie Hohn | |
| erscheinen. Man könnte sich in Zynismus flüchten, bis man die Ukrainer | |
| selbst kämpfen sieht, bis man sieht, wie [3][die Menschen dort] die Kraft | |
| finden, sich zur Wehr zu setzen und uns so in die Pflicht nehmen: Wie | |
| können wir, die wir in Frieden leben, in Mutlosigkeit verharren, wenn die | |
| Ukrainer an der Hoffnung festhalten? Ist es für uns, die wir in Frieden | |
| leben, zu viel verlangt, mit den Kämpfenden zu hoffen? | |
| Es hätte im deutschen Diskurs dieses Jahr viel mehr Respekt geben sollen | |
| vor dem Mut der Ukrainer, anstatt dass wir Debatten darüber führen mussten, | |
| wie viel Angst manche in Deutschland vor Putin haben. Die Debatten über die | |
| Ukraine zeigten, wie bequem wir Deutschen es uns gemacht haben mit unseren | |
| Ängsten, wie legitim es geworden ist, die eigenen Ängste öffentlich zu | |
| betrachten und sie trophäenartig als Entschuldigung für | |
| Handlungsunfähigkeit anzuführen. | |
| Wer Angst hat, muss nicht handeln, wer Angst hat, der muss seine eigenen | |
| Ängste tätscheln. In den deutschen Dauerschleifen der Pseudodifferenzierung | |
| entsteht jedoch nichts als Lethargie. Manchmal, wenn deutsche Diskurse in | |
| dieser Selbstreferenzialität jedes Handeln zum Erliegen bringen, spüre auch | |
| ich, wie das Nichthandeln zur reizvollsten, selbstgefälligsten Option wird, | |
| weil man nicht mehr daran glaubt, etwas bewegen zu können. | |
| In diesem Sinne war die Radikalität der [4][Letzten Generation], ganz | |
| gleich wie umstritten manche Aktionen sind, ein Hoffnungsschimmer inmitten | |
| einer politischen Landschaft, in der sich die meisten mit den | |
| Beharrungskräften längst arrangiert haben. Sie lassen sich in ein Gefängnis | |
| sperren, obwohl sie wissen, dass es diese Gesellschaft mehrheitlich nicht | |
| interessieren wird, denn die klebt an ihren Routinen und würde lieber die | |
| Welt untergehen sehen als ihre liebgewonnen Gewohnheiten. | |
| ## Machtlos zusehen müssen | |
| Wenn in Deutschland Menschen, die für das Klima kämpfen, plötzlich [5][zur | |
| RAF erklärt] werden können, während Rechtsextreme und das Ausmaß ihrer | |
| Gewalt oft jahrelang im Verborgenen den Staat bedrohende Strukturen | |
| schaffen können, dann überrollt mich ein Gefühl von Mutlosigkeit, weil es | |
| zeigt: Auch ohne Horst Seehofer lebt der Irrsinn beliebiger | |
| Hufeisenvergleiche weiter. | |
| Es war ein Jahr, in dem ich oft Angst hatte, meinen Twitter- oder | |
| Instagram-Account zu öffnen, weil die [6][Freiheitskämpferinnen im Iran] | |
| ihre Geschichten auf den sozialen Plattformen in die Welt setzten. Ja, die | |
| verfluchte Angst, die ich anderen so gerne ankreide, die mich überkommt, | |
| wenn ich weiß, ich sehe Bilder und Videos von Menschen, die um ihr Leben | |
| kämpfen und ich kann nicht viel mehr tun, als ihre Gesichter in meinen | |
| Texten teilen, eine Petition unterschreiben oder Menschen loben, die ihre | |
| Geschichten verbreiten helfen. | |
| Nichts davon wird viel ändern. All die Momente, in denen es mir peinlich | |
| war, dass sich meine Hilfe im Teilen von Social-Media-Posts erschöpfen | |
| sollte, und doch schrieben Iranerinnen: „Thank you for being our voice.“ | |
| Jenseits des Zynismus, jenseits der Abgeklärtheit glauben sie an die | |
| Veränderung zum Besseren, während wir in den freieren Teilen der Welt den | |
| Kopf über ihre Freiheitsbewegung beugen und richten, ob sie es dieses Mal | |
| schaffen, das Regime zu stürzen oder ob es „wieder nur“ ein Aufbäumen ist. | |
| Die Bilder aus Afghanistan, die zeigen, wie die Taliban in Schulen tanzen, | |
| weil sie Mädchen und jetzt auch [7][Frauen den Zugang zu Universitäten] | |
| verweigern. Ich denke dabei auch an deutsche Soldaten, die dort im Einsatz | |
| waren, die ihre Lebenszeit gaben, weil sie dachten, sie bauen ein | |
| lebenswerteres Afghanistan auf. Diese Mutlosigkeit, wenn ich denke, alles, | |
| was man tun kann, ist das Elend der Welt über Posts und Kacheln mit in die | |
| Welt zu schreien, weil auch ich kurz die Welt retten will, wie viele andere | |
| auch. | |
| Ich wünsche mir fürs nächste Jahr, dass wir mehr Kraft finden, die Welt | |
| nicht nur zu retten, sondern eine neue Ordnung zu schaffen. So mutlos, dass | |
| ich vergesse, jeder entscheidende politische Wandel ging von Menschen aus, | |
| bin ich selbst Ende des Jahres nicht. Wir müssen nur noch lernen, so sehr | |
| an die Kraft zum Wandel zu glauben wie jene Menschen, die in Regimen leben, | |
| in denen sie alles für ihre Überzeugungen aufs Spiel setzen. | |
| 28 Dec 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=NYVA9GMsnbQ | |
| [2] /Nachrichten-zum-Angriff-auf-die-Ukraine/!5837492 | |
| [3] /Stimmen-aus-der-Ukraine/!5901216 | |
| [4] /Blockaden-der-Letzten-Generation/!5896676 | |
| [5] /Ex-RAFler-ueber-Letzte-Generation/!5891843 | |
| [6] /Frauen-in-Iran/!5901169 | |
| [7] /Univerbot-fuer-afghanische-Frauen/!5900883 | |
| ## AUTOREN | |
| Jagoda Marinić | |
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