| # taz.de -- Ökonom zur Inflation in Deutschland: „Der Höhepunkt ist wohl ü… | |
| > Die Inflation ist im November auf 10 Prozent gesunken. Das sei nicht | |
| > überraschend, sagt der Ökonom Jens Südekum. 2023 könnte der Höhepunkt | |
| > überwunden sein. | |
| Bild: Dönerflation: Der Frankfurter Ton Bul Grill, berühmt für seinen Zehn-E… | |
| taz: Herr Südekum, Sie waren vor einem Jahr einer der Ökonomen, die vor | |
| einer langatmigen, hohen Inflation warnten. Nun sagen Sie, der Höhepunkt | |
| sei womöglich schon überschritten. Tatsächlich lag die Inflation im | |
| November laut Zahlen vom Dienstag bei 10 Prozent – und damit 0,4 | |
| Prozentpunkte unter dem Vormonat. Kommt diese Entwicklung überraschend? | |
| Jens Südekum: Nein. Wir sehen seit einigen Wochen, dass die Gaspreise und | |
| damit auch die Strompreise an den Großmärkten fallen. Der zweite | |
| wesentliche Preistreiber waren die gestörten Lieferketten. Und auch da gibt | |
| es Entspannung, wir haben da fast schon wieder Vor-Corona-Niveau erreicht. | |
| Dass in der Summe die Erzeugerpreise jetzt im Monatsvergleich um 4 Prozent | |
| gefallen sind, mag in dieser Größenordnung überraschen, nicht aber die | |
| Richtung. | |
| Der Krieg in der Ukraine hält weiter an, Zerocovid in China ebenso, uns | |
| steht ein eisiger Winter bevor. Die Krisen halten alle noch an. | |
| Was die Lieferketten angeht, haben viele Händler Wege gefunden, wie sie den | |
| Warenverkehr gerade mit China trotz dortiger Lockdowns organisiert | |
| bekommen. Das scheint im dritten Jahr der Pandemie gut zu funktionieren. | |
| Die fallenden Energiepreise könnten in der Tat trügerisch sein. Momentan | |
| sind unsere Speicher voll. Der Verbrauch ist fast 30 Prozent niedriger als | |
| in den Vorjahren. Das hat die Märkte entspannt, die Preise sinken. | |
| Aber natürlich kann es jederzeit zu Rückschlägen kommen. Sollte der Winter | |
| doch sehr lang und kalt werden, sind die Speicher schneller leer als | |
| geplant. Dann könnten die Preise rasch wieder in die Höhe schießen. Noch | |
| schlimmer: Putin könnte mit weiteren Sabotageakten für Unsicherheit sorgen | |
| und unsere Versorgung bedrohen. Wenn es aber zu keinen weiteren Schocks | |
| kommt, rechne ich damit, dass sich die Inflationsrate bereits im Laufe des | |
| nächsten Jahres deutlich zurückentwickelt. | |
| Aber was macht Sie so optimistisch, dass das derzeitige Abflauen der | |
| Inflation nicht nur vorübergehend ist? | |
| Die große Befürchtung war ja, dass die Inflation sich verselbstständigen | |
| könnte, dass die Akteure in Erwartung an steigende Inflation ihre Preise | |
| vorsorglich anheben. Das hat nicht stattgefunden. Es ist auch nicht wie | |
| befürchtet eine Lohn-Preis-Spirale in Gang gekommen. Beim jüngsten | |
| Abschluss der IG Metall in Süddeutschland, immerhin einer der am stärksten | |
| gewerkschaftlich organisierten Branchen Europas, gibt es auf das Jahr | |
| gerechnet eine Lohnerhöhung von 4 Prozent. Das ist absolut im Rahmen. | |
| Aber hat die IG Metall dann nicht schlecht verhandelt? Für die | |
| Arbeitnehmer*innen sind das ja harte Reallohneinbußen. | |
| Ja, bei nominal 4 Prozent Lohnsteigerungen und etwa 8 Prozent Inflation | |
| bleibt eine Reallohnlücke von 4 Prozentpunkten. Die Metaller können sich da | |
| noch recht glücklich schätzen. Auch Geringverdiener trifft es anteilig | |
| nicht am schlimmsten, weil bei ihnen die Erhöhung des Mindestlohns zugute | |
| kommt. Die heftigsten Reallohnverluste dürfte die untere Mittelschicht | |
| erleben, also Arbeitnehmer aus Wirtschaftszweigen, die nicht stark | |
| gewerkschaftlich organisiert sind, vor allem also der | |
| Dienstleistungssektor. Mit der steuerfreien Einmalzahlung der Arbeitgeber | |
| an die Arbeitnehmer in Höhe von 3.000 Euro hat die Bundesregierung zwar die | |
| Brücke geschlagen, dass der externe Preisschock zumindest ein Stück weit | |
| ausgeglichen wird. Doch auch von dieser Regelung machen vor allem Betriebe | |
| Gebrauch, in denen die Arbeitnehmer gut organisiert sind. Im | |
| Dienstleistungssektor ist das nicht der Fall. | |
| Gleichen die Einmalzahlungen die Inflation nicht aus? | |
| Nein, wahrscheinlich nicht. Aber wenn wir ehrlich sind: Die Gewerkschaften | |
| sind in Deutschland längst nicht mehr so mächtig wie in den 1970er Jahren, | |
| als es ihnen tatsächlich gelang, den vollen Lohnausgleich für die hohen | |
| Preissteigerungen zu erkämpfen. Damals hatten die Gewerkschaften noch einen | |
| sehr viel höheren Organisationsgrad. So gesehen waren die Unkenrufe vor | |
| einem Jahr für eine Lohn-Preis-Spirale unrealistisch. Dafür fehlt den | |
| Gewerkschaften die Macht von damals. | |
| Auf ein Preisniveau wie vor einem Jahr werden wir nicht wieder | |
| zurückkommen, oder? | |
| Wahrscheinlich noch nicht im nächsten und vermutlich auch noch nicht im | |
| darauffolgenden Jahr. Aber bei Strom- und Gaspreisen gibt es durchaus | |
| Projektionen, wo wir bis 2025 wieder das Preisniveau haben könnten wie in | |
| der Zeit vor Russlands Angriffskrieg. | |
| Kommt das billige Gas aus Russland irgendwann zurück? | |
| Ein Zurück zum russischen Pipelinegas wird es auf absehbare Zeit nicht | |
| geben. Vielleicht irgendwann, wenn am Sankt Nimmerleinstag lupenreine | |
| Demokraten in Moskau regieren. Doch der kurzfristige Ersatz wird LNG, also | |
| Flüssiggas, sein. Das hat höhere Transportkosten und ist deswegen teuer. | |
| Daher könnten wir gar nicht auf das alte Preisniveau kommen. Das hört man | |
| jetzt oft. Meines Erachtens nach ist das aber zu kurz gedacht. Denn auf der | |
| Nachfrageseite haben viele Unternehmen ihre Hausaufgaben gemacht und ihre | |
| Produktion technologisch umgestellt. | |
| Schon jetzt hat die Industrie rund die Hälfte ihrer Gaseinsparungen ohne | |
| Produktionseinbußen bewältigt. Dieses erreichte Ziel wird man nicht | |
| zurückdrehen wollen, zumal diese Transformation aus Gründen des | |
| Klimaschutzes ohnehin erwünscht ist. Zweitens kommt Entspannung von der | |
| Angebotsseite. Gas gibt es auf den Weltmärkten genug – zumal die USA ihre | |
| Fracking-Industrie ausweitet. Bislang fehlte es an der für LNG notwendigen | |
| Infrastruktur. Doch jetzt baut Deutschland vier LNG-Terminals, die | |
| teilweise schon in Betrieb sind. Das Gasangebot, das uns zur Verfügung | |
| steht, wird also wieder steigen. Und bei insgesamt sinkender Nachfrage | |
| müssen die Gaspreise dann nicht exorbitant höher sein als früher. Für den | |
| Industriestandort und die Arbeitsplätze ist das eine gute Nachricht. | |
| Wir erleben die schlimmste Inflation seit 40 Jahren. Zu sozialen | |
| Verwerfungen scheint es bislang aber noch nicht gekommen zu sein. Oder | |
| merken wir das nur noch nicht? | |
| In gewisser Hinsicht haben wir Glück gehabt, dass diese kriegsbedingte | |
| getriebene Angebotsinflation unmittelbar der Pandemie gefolgt ist. Viele | |
| Leute haben in der Pandemie viel Geld angespart, weil die | |
| Konsummöglichkeiten fehlten. Dieses Geld hat für einen gewissen Puffer | |
| gesorgt. Der ist jetzt allerdings aufgebraucht. Was die hohen Energiepreise | |
| betrifft, ist vieles bei den Leuten tatsächlich noch gar nicht angekommen. | |
| Die Abschlagszahlungen werden meistens mit Verzögerung angepasst. Das | |
| heißt, die wirklichen Anstiege werden gerade Mieter erst im Laufe des | |
| nächsten Jahres erleben, das Schlimmste kommt für viele also noch. Die nun | |
| von der Bundesregierung beschlossene Gas- und Strompreisbremse ist aber ein | |
| kraftvolles Gegeninstrument, das die schlimmsten sozialen Verwerfungen | |
| abfedern dürfte. | |
| 29 Nov 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Felix Lee | |
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