| # taz.de -- Stendal und sein Biomassekraftwerk: Es stinkt, aber das Kraftwerk l… | |
| > Industrieanlagen nutzen viel zu wenig grünen Strom. Außer in Stendal. Wo | |
| > einst ein AKW geplant war, steht nun Deutschlands größtes | |
| > Biomassekraftwerk. | |
| Bild: Das Biomassekraftwerk in Stendal | |
| Arneburg taz | Wäre der Energiemix der Industrie ein Schulfach, müssten | |
| alle [1][294 deutschen Landkreise nachsitzen], bis auf einen. Nur in | |
| Stendal verbraucht die Industrie überwiegend erneuerbare Energie. Sonst | |
| wird sie in Deutschland [2][in erster Linie von Erdgas angetrieben] und | |
| bezieht im Schnitt 4 Prozent erneuerbare Energien. Stendal sticht aus der | |
| Masse hervor: Hier sind es 73 Prozent. Wie kann das sein? Was macht den | |
| Landkreis in Sachsen-Anhalt zum Energiestreber? | |
| Fragt man beim Landkreis Stendal nach, wird man nach Arneburg geschickt, | |
| einer kleinen Stadt westlich der Elbe. Wo mal das größte Atomkraftwerk der | |
| DDR geplant war, ragt heute der 72 Meter hohe Laugenturm von Deutschlands | |
| größtem Biomassekraftwerk in den Himmel. Eine Mischung aus faulen Eiern und | |
| gekochtem Kohl hängt in der Luft – der Geruch von Schwefelwasserstoff, vor | |
| dem schon in der Sicherheitsunterweisung gewarnt wird, durch die man sich | |
| vor einem Besuch im Werk klicken muss. | |
| Den „Resteverwerter des Waldes“ nennt Frank Wegener das 2004 erbaute | |
| Biomassekraftwerk. Er ist Energiemanager, ein nüchterner Typ mit eisblauen | |
| Augen, grauen Haaren und dudelndem Handyklingelton. „Aus faulendem Holz, | |
| aus Bäumen, die vom Borkenkäfer befallen sind, und den Resten der | |
| Schreinereien erzeugen wir grünen Strom“, erzählt Wegener, während er | |
| mehrere Anrufe wegdrückt. Er hat sich etwas Zeit freigeschaufelt, | |
| eigentlich ist er mit den Vorbereitungen des planmäßigen vorübergehenden | |
| Werksstillstands beschäftigt. Neben einigen Tanks stehen schon Gerüste, | |
| damit verschlissene Teile ausgetauscht werden können. | |
| Wegener ist um die Ecke aufgewachsen. Vor sieben Jahren kam er zu Mercer | |
| Stendal, zuvor hatte er jahrelang in Ecuador, Ägypten und Mexiko als | |
| Ingenieur dabei geholfen, Dampf- und Heißwasserkraftwerke aufzubauen. Als | |
| Wegener im Flieger zufällig einen der Chefs des Stendaler Kraftwerks traf, | |
| holte der ihn zurück in die Heimat. Bis 2030 soll er das Werk | |
| dekarbonisieren – dafür darf aus dem Turm nur noch heiße Luft und kein | |
| Kohlenstoff aufsteigen. Der Kalkofen, die einzige Stelle im Werk, an der | |
| noch fossile Energie genutzt wird, darf dann nicht mehr mit Erdgas erhitzt | |
| werden. | |
| Wie viel und welche Energie die Industrie verbraucht, ist wichtig, weil es | |
| für die Energiewende nicht reicht, nur auf die Glühbirne im Bad und den | |
| Heizkörper im Wohnzimmer zu schauen. Denn die Industrie verbraucht ungefähr | |
| genauso viel Energie wie private Haushalte. | |
| ## Lauge, Zellstoff, Waschstraße | |
| In Stendal ist die grüne Energie allerdings nur ein Nebenprodukt, denn hier | |
| wird der Baum in seine Einzelteile zerlegt. Aus dem Holz werden Zellstoff | |
| und Biochemikalien wie Terpentin und Seife gewonnen. Wo gerade wie viel | |
| Energie verbraucht oder erzeugt wird, kontrolliert Wegener vom Laptop aus. | |
| Es blinkt in Blau, Gelb, Grün. Wegener wirft mit Kilo- und Megawattangaben | |
| um sich. Gleichzeitig werden 770 Liter Wasser pro Sekunde aus der Elbe | |
| entnommen, 530 Liter fließen zurück in den Fluss, liest er vor. | |
| Um nicht nur anhand physikalischer Einheiten auf dem Bildschirm zu erahnen, | |
| wie ein Baum in seine Bestandteile zerlegt wird, muss man eine Schutzmontur | |
| anziehen: Plastikhelm, Warnweste, Schutzbrille. Bevor Wegener die Tür zur | |
| ersten Fabrikhalle öffnet, sagt er noch: „Wenn es von oben tropft, nicht | |
| dem Reflex nachgehen und nach oben gucken.“ Im Zweifelsfall könnten giftige | |
| Flüssigkeiten tropfen. Weißlauge ätzt die Haut zum Beispiel nach rund fünf | |
| Minuten weg. | |
| Hinter der Tür ist es warm, die Luft riecht beißend sauer. In zwölf | |
| silbernen Tanks, hoch wie zwei Stockwerke, kocht das gehäckselte Holz in | |
| Lauge. So lösen sich Harze und Öle von der Pflanzenfaser, zurück bleibt ein | |
| Zellstoffbrei. In Stendal werden vor allem Nadelhölzer verarbeitet, Fichte | |
| etwa. Ihre Fasern sind besonders lang, daher saugstark und werden für die | |
| Herstellung von Toilettenpapier, Verbandsmaterial oder Schutzmasken | |
| benötigt. | |
| Wegener bewegt sich zügig durch ein Labyrinth aus Kesseln und Rohren, | |
| vorbei an den Sortierern, wo der Zellstoff von unbrauchbaren kleinen Ästen | |
| getrennt wird. Auf dem Boden weisen grüne Pfeile den Weg zur nächsten | |
| Notfalldusche. Es geht Metalltreppen hoch, runter, wieder hoch. Angekommen | |
| bei den Waschpressen, macht Wegener mit seinen Armen rotierende Bewegungen | |
| und versucht gegen die Maschinen anzuschreien. Im Inneren drehen sich die | |
| riesigen Röhren, will er erklären. Wie in einer Waschmaschine wird der | |
| Zellstoff in sieben Gängen gereinigt. Vor der ersten Waschpresse liegt ein | |
| brauner Zellstoffhaufen. Noch hat er die Farbe der Baumrinde und ist | |
| bröselig. Am Ende der Waschstraße zieht Wegener einen Stopfen aus der | |
| Waschpresse und nimmt eine Probe des gewaschenen Zellstoffs in die Hand. | |
| Wie Popcorn sieht es aus, aber flauschig. | |
| Eine Halle weiter steht eine wohnhausgroße Laufbandmaschine. Es riecht nach | |
| Pressspan, als würde man die Selbstbedienungshalle bei Ikea betreten, wo | |
| man in ähnlich überdimensionierten Regalen auf der Suche nach Kallax und Co | |
| verzweifeln kann. Dazu Dampfbadfeeling: Aus dem gewaschenen Zellstoff | |
| steigt heißer Wasserdampf auf, prompt beschlägt die Schutzbrille. Über 700 | |
| Meter läuft die Zellstoffmasse kreuz und quer durch die Halle, dabei wird | |
| das Wasser herausgepresst, bis die Zellstoffbahn nur noch drei Millimeter | |
| dick ist und maschinell in verpackungsgerechte Quadrate geschnitten wird. | |
| Parallel zur Zellstoffproduktion werden die aus dem Holz herausgekochten | |
| Biochemikalien voneinander getrennt. Nur die Überreste des Baums werden im | |
| Laugenkessel verbrannt. Dabei entsteht Dampf, der auf zwei Turbine strömt, | |
| wodurch der grüne Strom erzeugt wird. Im Jahr wird so rund eine | |
| Terawattstunde Strom gewonnen. 9.000 Festmeter Holz kommen dafür in Stendal | |
| jeden Tag an. 50 Prozent des Stroms versorgen das Werk selbst, die andere | |
| Hälfte wird ins Netz gespeist, damit können die 41.000 Einwohner:innen | |
| Stendals versorgt werden. | |
| ## Problematischer Trend an neuen Holzkraftwerken | |
| Trotzdem antwortet Wegener auf die Frage, welche Form der Energiegewinnung | |
| die beste sei, schnell: „Wind und Sonne“, und schiebt hinterher: „Holz nur | |
| zu verbrennen ist es jedenfalls nicht, dafür ist es viel zu schade.“ Das | |
| CO2, das ein Baum über 80 Jahre gespeichert hat, werde so in Sekunden | |
| freigesetzt. | |
| Dass immer noch [3][Holzkraftwerke zur Wärmegewinnung] gebaut werden, nennt | |
| Frank Wegner deshalb einen „absoluten Wahnsinn“. „Das Problem ist, in | |
| solchen Kraftwerken wird das Holz nur einstufig verwertet. Es entsteht zwar | |
| Wärme, aber die im Holz enthaltenen Biochemikalien gehen verloren.“ | |
| Außerdem kostet CO2, das durch grüne Energiegewinnung freigesetzt wird, | |
| nichts. Der Anreiz sei daher zu groß. Im Vergleich kosten die | |
| Emissionszertifikate für eine Tonne CO2 fossile Energieproduzenten in | |
| Europa aktuell um die 80 Euro. | |
| Gleichzeitig freut sich Wegener über den Strom, der in Stendal durch die | |
| Verbrennung der Holzüberbleibsel entsteht. Da sich das Werk selbst | |
| versorgt, wirken sich die steigenden Energiepreise nicht auf die | |
| Zellstoffproduktion aus. Im Gegenteil, für den Strom, den sie einspeisen, | |
| bekommen sie [4][mehr Geld als vor der Energiekrise]. | |
| Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sieht man die Ruine der | |
| Reaktorblöcke des Atomkraftwerks, das hier einst geplant wurde, aber nie | |
| fertiggestellt wurde. Ob vor 30 Jahren jemand damit gerechnet hätte, dass | |
| an diesem Standort überhaupt einmal Strom gewonnen werden würde? Das | |
| einstige Prestigeprojekt wurde zur teuersten Baustelle der DDR. | |
| Die Technik war durch die lange Bauzeit überholt, nach der Währungsunion | |
| explodierten die Baukosten, zudem entwickelten die Stendaler:innen nach | |
| der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl Bedenken gegenüber einem Atommeiler | |
| in ihrem Vorgarten. Vielleicht hat auch ihr Argwohn dafür gesorgt, dass | |
| Stendal heute der grünste Industriestandort Deutschlands ist. | |
| In Stendal planen sie, in den kommenden Tagen einen sogenannten Inseltest | |
| durchzuführen, erzählt Wegener. Sie testen ein Szenario: Wenn die Energie | |
| in Deutschland wirklich knapp wird und die Regierung beschließt, den Strom | |
| als Sparmaßnahme für ein paar Stunden vom Netz zu nehmen, könnten sie das | |
| Biomassekraftwerk abkapseln und sich gleichzeitig selbst versorgen. „Wenn | |
| draußen alles dunkel ist, laufen wir weiter“, sagt Wegener und grinst. | |
| 12 Dec 2022 | |
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| [3] /Streit-um-die-Energiewende/!5762933 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sophie Fichtner | |
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