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# taz.de -- Italien erlässt Dekret zur Seenotrettung: Meloni ändert den Kurs
> Bisher hat die italienische Regierung die Seenotrettung im Mittelmeer
> durch Ignorieren behindert. Nun versucht sie es mit einer neuen
> Strategie.
Bild: Mit einem neuen Dekret macht die italienische Regierung es der zivilen Se…
Berlin/Rom taz | Im Umgang mit Seenotrettungsorganisationen legt die
italienische Regierung einen entscheidenden Strategiewechsel hin. Statt den
im letzten Wahlkampf angekündigten geschlossenen Häfen hat die neugewählte
postfaschistische Führung unter Giorgia Meloni am Mittwoch per
Gesetzesdekret einen sogenannten Verhaltenskodex verabschiedet. Der
erschwert die Arbeit ziviler Rettungsschiffe deutlich.
Im Kern beinhaltet das Dekret von [1][Innenminister Matteo Piantedosi]
dabei drei Punkte: Die Schiffe müssen erstens nach einer Rettungsaktion
direkt einen vorgegebenen Hafen ansteuern und dürfen keinem weiteren Notruf
folgen. Das Dekret verbietet zweitens, dass Schiffe ihre Geretteten auf ein
anderes Schiff übertragen, sogenanntes Transshipment. Drittens sollen die
Geflüchteten Asyl bei den Staaten beantragen, unter deren Flagge die
NGO-Schiffe segeln.
Wenn die NGOs den Kodex missachten, sieht das Dekret Geldbußen von bis zu
50.000 Euro vor. Obendrein droht ihnen, dass ihre Schiffe bis zu zwei
Monate an die Kette gelegt werden. Im Wiederholungsfall könnte die
italienische Regierung sie sogar endgültig beschlagnahmen. Für Wasil
Schausil, Sprecher der Organisation SOS Humanity, ist das Ziel der
italienischen Regierung klar: „Sie wollen uns aus dem Verkehr ziehen und
unsere Arbeit behindern.“
Damit rückt die italienische Regierung deutlich von ihrer bisherigen
Strategie ab. Als im [2][November mehrere NGO-Schiffe vor der italienischen
Küste trieben], mit mehr als 1.000 Menschen an Bord, ließ die neugewählte
italienische Regierung sie dort wochenlang ausharren.
## Weniger Zeit auf See
Schließlich bat eines der Schiffe Frankreich um einen sicheren Hafen. In
Marseille konnten die Geflüchteten nach drei Wochen Warten an Land gehen.
In der EU hagelte es Kritik. Frankreich zog sich als Reaktion aus dem
„freiwilligen Solidaritätsmechanismus“ zurück, der EU-Staaten entlasten
soll, die besonders viele Geflüchtete aufnehmen.
Anders lief es dann in der vergangenen Woche. Statt die Schiffe zu
ignorieren, forderte die italienische Regierung von [3][der „Sea Eye 4“ mit
108 Menschen an Bord] unmittelbar in einen bestimmten Hafen in Italien
einzulaufen. Die „Ocean Viking“ erhielt am Mittwoch die Erlaubnis, mit den
zwei Tage zuvor geretteten [4][113 Geflüchteten an Bord einen italienischen
Hafen] anzulaufen. Doch was wie eine Verbesserung schien, bereitet den NGOs
mehr Sorgen.
Der Hafen, welchen die Meloni-Regierung der „Sea Eye 4“ zugewiesen hat,
gehört zur weit entfernten Stadt Livorno in der Toskana. Vier Tage dauerte
die Überfahrt der „Sea-Eye 4“. Ebenfalls vier Tage kalkuliert die „Ocean
Viking“, um den weit im Norden in der Adria gelegenen Hafen von Ravenna zu
erreichen. Zwei [5][weiteren NGO-Schiffen erging] es ähnlich.
Ein deutliches Muster, erklärt die italienische Rechtsanwältin und
Aktivistin Lucia Gennari im Gespräch mit der taz. Durch die schnell
zugewiesenen sicheren Häfen gebe die italienische Regierung vor, sich an
internationales Recht zu halten. Doch die weiten Entfernungen behinderten
NGOs bei ihrer Arbeit.
Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye, verdeutlicht das anhand der Folgen
der langen Fahrten: „Das führt zu einer höheren Abwesenheit von
Rettungsschiffen im Einsatzgebiet, höheren Kosten für die Organisationen
und zur Verkürzung der Missionen.“
Weil dem Dekret entsprechend NGOs Geflüchtete direkt nach dem Einsatz an
Land bringen müssten, würden sie auch weniger retten. Als die „Sea-Eye 4“
auf der Rückfahrt von einem Seenotfall auf einen weiteren stieß, reagierten
die italienischen Behörden entsprechend. Sie wiesen die Crew der „Sea-Eye
4“ mehrfach darauf hin, direkt auf Livorno zuzusteuern statt zum Notfall.
Unterdessen wies auch Malta zwei Handelsschiffe an, den Fall zu ignorieren,
und drohte bei Nichteinhaltung mit Konsequenzen.
Durch die Asylanträge an Bord möchte Italien offenbar auch andere Staaten
in die Verantwortung nehmen. „Wir können keine Migranten aufnehmen, die von
ausländischen Schiffen auf See aufgegriffen werden, die systematisch ohne
vorherige Abstimmung mit den Behörden operieren“, erklärte Piantedosi noch
im November.
Dass die Geflüchteten auf den Schiffen Asylanträge für die Staaten stellen
sollen, hält Rechtsanwältin Gennari für schwer umsetzbar. NGOs seien keine
staatlichen Institutionen. „Allein die Bereitstellung der erforderlichen
Informationen ist an Bord nicht möglich.“ Sie verweist darauf, dass nicht
alle Schiffe der zivilen Flotte unter europäischen Flaggen fahren. So ist
der Flaggenstaat der NGO Emergency Panama.
## NGOs retten nicht am meisten
Der dritte Punkt des Dekrets, die verbotenen Transshipments, trifft vor
allem kleinere Schiffe der zivilen Flotte. Sie greifen häufig darauf
zurück, Geflüchteten in Not erst an Bord zu nehmen und sie anschließend an
größere NGO-Schiffe abzugeben. So können die kleineren Schiffe auf See
bleiben, während große Schiffe wie die „Sea-Eye 4“ mit den Geflüchteten …
die Zuweisung eines Hafens warten. Die Methode ist nun verboten.
Caroline Günther, Pressesprecherin der Organisation r42, bereitet das große
Sorgen: „Für Organisationen wie unsere, die mit kleinen Schiffen unterwegs
und deren Konzept an die Kapazitäten dieser Schiffe angepasst sind, kommt
ein Verbot des Transshipments einer Festsetzung gleich.“
Rechtsanwältin Gennari kritisiert außerdem, es stehe im Kontrast zu
internationalem Recht. „Sollte ein Kapitän einschätzen, dass die Sicherheit
der Menschen an Bord gefährdet ist, bleibt es seine Entscheidung, ein
Transshipment durchzuführen.“
Im Wahlkampf war Migration [6][eines der Kernthemen von Ministerpräsidentin
Giorgia Meloni]. Sie sprach davon, Bootsmigrant*innen gar nicht mehr an
Land zu lassen, und hetzte öffentlich gegen Seenotrettungsorganisationen.
Ihretwegen würden sich viele Geflüchtete überhaupt erst auf die oft
tödliche Überfahrt über das Mittelmeer begeben.
Dabei belegen die Zahlen: Die zivile Flotte rettet nur einen Bruchteil der
Geflüchteten. Viele schaffen es von allein, viele retten Schiffe der
italienischen Küstenwache oder Handelsschiffe. Laut Angaben des
italienischen Innenministeriums sind in diesem Jahr knapp 102.600 Menschen
über den Seeweg nach Italien gekommen. Nur 13 bis 14 Prozent davon trafen
auf NGO-Schiffen ein.
Transparenzhinweis: Paula Gaess ist in einem im Text ungenannten Verein für
zivile Seenotrettung aktiv.
29 Dec 2022
## LINKS
[1] /Regierungsbildung-in-Italien/!5886927
[2] /Seenotrettung-im-Mittelmeer/!5894799
[3] /Gefluechtete-im-Mittelmeer/!5904573
[4] /Seenotrettung-im-Mittelmeer/!5905560
[5] /Mehr-als-500-Menschen-an-Bord/!5898889
[6] /Fluechtlingspolitik-in-Italien/!5890318
## AUTOREN
Paula Gaess
Michael Braun
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