Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ein Geflüchteter und sein Helfer: „Mensch, nicht Tier“
> Im Irak hat Haidar Obaidi alte Autos hergerichtet, in Hamburg arbeitet er
> in einer Fahrradwerkstatt. Christian Saß hat das vermittelt.
Bild: Haidar Obaidi und Christian Saß bei den „Schnackschraubern“
Als wir das Gespräch mit Haidar Obaidi vereinbaren, ist die Idee, dass
Christian Saß dabei ist, weil Obaidis Deutsch nicht flüssig genug ist, um
seine Geschichte wirklich zu vermitteln. Christian und Haidar kennen sich
über die Schnackschrauber, eine Initiative von Ehrenamtlichen, die
gemeinsam mit Geflüchteten Fahrräder reparieren. Am Ende ist aus dem
geplanten Zweier-Gespräch eines zu dritt geworden und nebenbei auch eines
über Freundschaf t.
wochentaz: Welche Rolle spielen Fahrräder im Irak, Haidar Obaidi?
Haidar Obaidi: Nicht sehr viel, weil wenige, alte Fahrräder.
Wer fährt Fahrrad? Junge oder Alte, Reiche oder Arme?
Junge und Kinder. Fünf Kinder haben ein Fahrrad. Aber teuer.
Haben Sie das Fahrrad-Reparieren erst in Deutschland gelernt?
Ich arbeite seit fünf, sechs Jahre bei den Schnackschraubern. Ich habe dort
alles gelernt, sechs Jahre arbeite und helfe ich, ohne Bezahlung.
Als was haben Sie im Irak gearbeitet?
Als ich zehn Jahre alt war, habe ich im Karosseriebau gearbeitet.
Mit zehn Jahren?
Ja, ich habe in meiner Heimat gelernt Karosseriebauer.
War es ungewöhnlich, dass Sie schon als 10-Jähriger gearbeitet haben?
Das ist egal. Das machen viele Kinder im Irak. Wenn es sieben oder zehn
Kinder gibt, wenn mein Papa und meine Mama alt werden – was macht man?
Können Sie Ihre Familie beschreiben?
Christian Saß: Haidars Eltern sind tot. Sein Vater ist ermordet worden.
Seine Mutter ist gestorben und die Schwester ist erschossen worden. Und
sein Bruder ist verschwunden, der war Taxifahrer. Das ist der Hintergrund.
Und als ihm die Drohungen zugestellt wurden, dass er demnächst dran ist,
ist er abgehauen. Wenn er Familie meint, meint er auch die Großfamilie.
War die Familie politisch engagiert?
Haidar hat in einem gemischten Viertel gewohnt, in Bagdad, wo 80 Prozent
Schiiten sind, er ist ein laizistischer, also nicht religiöser, Sunnit.
Solche Leute haben jetzt im Irak einfach Probleme. Kunden haben ihm
erzählt: In der Moschee hängt eine Liste und darauf steht auch dein Name.
Wann kam für Sie der Entschluss, den Irak zu verlassen?
Haidar Obaidi: Es war Krieg und immer Krieg. Und auf den Straßen lagen
Tote. Ich war in der Türkei und in Kurdistan zwei Mal. Ich habe gesagt:
Bitte, ich brauche Platz. Sie haben Nein gesagt. Ich war ein Jahr in der
Türkei und dachte, mit Arbeit ist es besser, und in der Türkei kommt die
Frage: Bist du Moslem? Ich denke Europa, das ist einfach Demokratie. Und
ich lag gut damit.
Warum?
Ich bin seit sieben Jahren hier. Christian und Marie, seine Frau, haben mir
geholfen. Immer. Und die Schnackschrauber in der Regerstraße auch. Jetzt
habe ich Arbeit im Fahrradladen und diese Einzimmerwohnung mit Ruhe. Das
ist besser als in meiner Heimat. Ich denke an Arbeit. Ich war in der Türkei
und danach mit Schlauchboot nach Griechenland. Im Wasser ging es kaputt,
ich habe eine halbe Stunde geschwommen, die türkische Polizei kam und
sagte: Es ist verboten. Ich habe es fünfmal probiert.
Wie war das Ankommen in Europa?
Ich dachte, alles sehr schön. Es war schwierig. Drei Jahre bin ich in die
Ausländerbehörde gegangen: Bitte, ich brauche Arbeit. Bitte, ich brauche
Schule. Ich muss lernen, weil ich in Deutschland bin. Ich bin gegangen zur
Zahnärztin und ich habe gesagt: diese Zahnschmerzen. Und dann waren zwei
Zähne raus, weil ich es nicht erklären konnte.
Christian Saß: Ich hake da noch einmal ein. Also Haidar hat das ganze
Kontingent an Unterricht bekommen, das man als Asylbewerber kriegt. Das
Asyl ist abgelehnt worden, er ist geduldet.
Warum?
Er konnte für das Gericht nicht glaubhaft machen, dass er bedroht war. Er
ist als Analphabet hierher gekommen, er ist einfach kein Mensch, der das
auch rhetorisch so rüberbringt und hat von der Bedrohung, diese Art Fatwa,
die über ihn verhängt ist, erst hinterher erfahren. Ich habe noch nie einen
Menschen gesehen, der so viel Angst hatte, als er mir gesagt hat: Heidar
nicht zurück in den Irak. Er hat gezittert wie Espenlaub.
Wie haben Sie sich kennengelernt?
Haidar Obaidi: Ich habe geholfen im Café für Flüchtlinge, eine Freundin von
Marie hat gesagt, dass Christian bei den Schnackschraubern arbeitet. Ich
habe ihn am Bahnhof Altona getroffen, er hat ein Buch getragen. „Haidar?“,
hat er gefragt, ich habe ja gesagt. Seit fünf Jahren machen wir Unterricht
und wir sind bei den Schnackschraubern, langsam verstehe ich alles und
jetzt arbeite ich im Fahrradladen. Was mache ich in Deutschland, wenn ich
keine Arbeit habe, wenn ich nur im Bett liege?
Es klingt so, als hätten die Schnackschrauber die Türen für vieles
geöffnet.
Ich habe meine Familie verloren. Alle tot. Ich habe gefunden neue Familie.
Wenn ich bei den Schnackschraubern bin, habe ich Kontakt mit Leuten, die
Leute gefallen mir sehr.
Christian Saß: Es ist ihm wirklich die Decke auf den Kopf gefallen. Er hat
immer sein Handy gezückt und dann war wieder ein Anschlag im Irak und er
ist da nicht rausgekommen. Ich habe ihn ein bisschen bei der Arbeitssuche
betreut, er hat mehrere Versuche in Autowerkstätten gemacht. Bei Haidar
gibt es eine Traumatisierung – wenn er in einer bestimmten Art und Weise
angeredet wird, dann ist Feierabend. So, und dann war mir klar, dass eine
konventionelle Werkstatt mit diesem Kasernenhofton, wie er hier in
Deutschland gepflegt wird, nicht das Richtige ist. Er braucht eine Arbeit
wie bei den Schnackschraubern, das ist unsere ehrenamtliche
Fahrradwerkstatt, wo alles sehr gutwillig ist. Er war auch noch bei einem
Autoladen, wo die Millionärsoldtimer auseinandergenommen werden. Der Mann
wollte ihn behalten, aber Haidar sagte: Ich möchte nicht. Der hatte auch so
einen barschen Tonfall drauf.
Haidar Obaidi: Ich habe gesagt: Mensch, nicht Tier. Ich will wie Mensch
behandelt werden, egal, ob Ausländer oder Iraki, ich helfe dir ohne
bezahlen.
Christian Saß: Ja, das waren zwei Wochen, und dann haben wir das versucht
beim Karosseriebauer. Die haben abgewunken: Wir haben einen Materialmix, da
muss man ellenlange Handbücher lesen und die modernsten Techniken
beherrschen. Und Heidar hatte eher amerikanische alte Modelle, die ohne
Elektronik sind. Er hat Schrottautos angekauft und karosseriemäßig
aufgearbeitet. Alles, was sonst zu machen war, haben andere gemacht. Und
dann hat er sie am Ende verkauft, oder Teile davon.
Haidar Obaidi: Die Autos sind nicht gleich in meiner Heimat, mit Elektro
und Computer. Ich habe gemacht Praktikum, alte Autos von Chef hier.
Christian Saß: Wir haben auch mal in Bergedorf eine große
Karosseriewerkstatt besucht, die haben gleich abgewunken. Sie sagen, es
gibt halt in vielen Ländern des globalen Südens viele Jobs, die man ohne
Ausbildung macht. Das gibt es hier nicht. Und da werden Technologien
angewandt, die hier schon seit zig Jahren nicht mehr benutzt werden. Wenn
man keine Schule abgeschlossen hat, dann kann man im Irak Autos reparieren.
Hier in Deutschland kann man das in einer seriösen Karosseriewerkstatt
nicht. Da Zeit Geld ist, wird ausgebaut und dann werden Neuteile eingebaut,
und wenn mal etwas richtig repariert wird, dann muss man genau wissen, was
da zu tun ist, da benötigt man theoretische Kenntnisse.
Angesichts des Fachkräftemangels würde man denken, dass die Leute sagen:
Lasst uns ausbilden und dann haben wir jemanden für die nächsten 15 Jahre,
der motiviert ist.
Christian Saß: Ich habe früher mal nach dem Studium sechs Jahre in einer
Möbelwerkstatt gearbeitet und war auch Ungelernter – in allen Werkstätten
ist Zeit Geld – und die Leute müssen reinhauen, die müssen schnell
arbeiten, dann wird das Geld verdient. Und wenn das Deutsch so ist, wie es
jetzt ist, dann sagen viele einfach nein. Deswegen ist die Stelle im
Radladen jetzt ein Sechser im Lotto. Ich kenne den Inhaber schon ewig. Es
war unsere Hoffnung, dass es eine Arbeitsatmosphäre ist, wo Haidar zur Ruhe
kommt und aufgehoben ist. Wo er etwas lernen kann und sich seinen
Lebensunterhalt mal selber verdienen kann – wobei es natürlich erschreckend
ist, dass es so wenig Knete ist, weil das Leben hier so teuer ist. Vorher
hat Haidar immer Asylbewerberleistungen bekommen und jetzt ist es kaum
mehr.
Der große Schritt jetzt ist die Arbeitserlaubnis, die gekommen ist.
Christian Saß: Wir haben einen Antrag gestellt, als das klar war mit der
Arbeitsmöglichkeit im Radladen, und dann haben wir nichts gehört. Uns wurde
von einer sehr freundlichen Dame bei der Arbeitsagentur gesagt, das dauert
mindestens sechs Wochen. Das liegt aber nicht an uns, sondern es liegt an
der Ausländerbehörde. Jetzt kommen ja viele Ukrainer:innen und man hörte
nix und nach fast zwei Monaten war immer noch nichts zu hören. Auf E-Mails
reagieren sie nicht, anrufen kann man auch nicht. Dann haben wir auf
Empfehlung einer Abgeordneten eine Eingabe beim Eingabenausschuss der
Bürgerschaft gemacht, da haben die dann gesagt: Oh, das tut uns leid, das
ist aus dem Blick geraten.
Das ist eine schöne Formulierung.
Christian Saß: Wir machen es sofort, haben sie gesagt, aber es kam immer
noch nichts. Dann war die Abgeordnete schon genervt und hat gesagt: Ihr
müsst da halt mal hingehen. Dann haben wir da nochmal zwei, drei Stunden
gesessen und dann war da ein junges Mädchen, das sagte: Ja, ja, das ist
kein Problem. Da stand vorher: „Zugang zum Arbeitsmarkt nur mit Erlaubnis
der Ausländerbehörde“. Und jetzt stand da nur noch: „Zugang zum
Arbeitsmarkt“ und das war es.
Man merkt, wie viel es ausmacht, dass einem jemand vor Ort hilft.
Christian Saß: Es liegt auch an Haidar, er ist so was von hilfsbereit. Er
hat die Küche im Café für Geflüchtete gemacht, er hat mit den Kindern
geredet und gespielt. Es war natürlich auch Glück: eine Freundin von uns,
die gegenüber der Unterkunft wohnt, hat ein Café für Geflüchtete mit
anderen zusammen aufgemacht und dann kamen wir in Kontakt.
Haidar Obaidi: Einmal im Monat gibt es das Café, afghanische, irakische
Gäste, ich arbeite in der Küche, draußen, habe Kontakt, ich habe immer
geholfen, seit sieben Jahren. Sie sagen immer: bitte Haidar, komm. Im
Fahrradladen ist es wunderbar. Und nach dem Fahrradladen bin ich bei den
Schnackschraubern mit Leuten, ein bisschen nach Sprachunterricht suchen und
fertig. Nur Elektroräder kann ich nicht verstehen.
Christian Saß: Kommt noch, Haidar.
Haidar Obaidi: Später, aber jetzt im Fahrradladen lerne ich viele neue
Modelle kennen.
Christian Saß: Sie bringen ihm auch etwas bei. Und das finde ich ganz toll,
dass sie nicht nur sagen: Ja, mach mal das, was du kannst und den Rest
machen wir. Eigentlich gibt es ja eine Ausbildung und wenn man damit fertig
ist, dann macht man das, was man gelernt hat – er macht sozusagen beides.
Das ist das Beste, weil eine reguläre Ausbildung nicht in Frage kommt, weil
er dem theoretischen Unterricht nicht folgen könnte. Zu den schönsten
Erlebnissen gehörte, wie Heidar im Sommer draußen schraubte und gesungen
hat. Er hat arabisch gesungen und das habe ich vorher nie gehört. Da dachte
ich: Oh, jetzt geht es ihm gut.
Auch weil die Duldung verlängert wurde?
Haidar Obaidi: Mein Kopf war richtig kaputt: immer alle drei Monate,
Duldung, Duldung.
Christian Saß: Jetzt haben sie es auf sechs Monate erweitert. Das Ganze
dient auch dazu, dass er ein Aufenthaltsrecht aufgrund nachhaltiger
Integration bekommt. Zur Ausländerbehörde zu gehen, das war immer ein
Stressprogramm, jetzt kann er sogar alleine hingehen.
Haidar Obaidi: Ich habe jetzt sechs Jahre geholfen. In der Regerstraße bei
den Schnackschraubern und auch im Heim, immer geholfen. Wenn ich keine
Duldung mehr habe, bin ich besser tot. Dann Fenster aufmachen, fertig. Ich
habe keinen Kontakt in den Irak, dann schlafe ich nicht. Es ist besser
hier, ich habe Kontakt hier, Arbeit, eine kleine Wohnung und Ruhe. Sieben
Jahren im Container konnte ich nicht schlafen. Sieben Leute in einem
Container.
Christian Saß: Als ich Haidar nach der Ablehnung vor Gericht getroffen
habe, habe ich verstanden: der erzählt nichts.
Haidar Obaidi: Wenn ich höre, ich muss zurück, kann ich nicht schlafen.
Vielleicht schlafe ich heute nicht.
Christian Saß: Niemand hat das gesagt. Es war nur die Frage: was wäre,
wenn.
Haidar Obaidi: Ich habe ein Fahrrad geschenkt bekommen, aus der
Regerstraße. Die Polizei kommt zu mir und sagt: Das ist geklaut. Ich sage:
Bitte, ich helfe da seit sechs Jahren, das ist ein Geschenk. Sie haben es
nicht geglaubt und alle Leute gucken. Ich habe jetzt ein grünes Rad aus der
Regerstraße und ich habe Angst, ich kann nicht damit fahren, weil
vielleicht die Polizei sagt: Das Fahrrad ist geklaut.
Christian Saß: Wir haben das jetzt immer nachgeguckt in der großen Liste,
Haidar, ob es geklaut ist oder nicht.
Haidar Obaidi: Ich brauche ein Leben ohne Probleme. Ich möchte nur
schlafen, arbeiten. Jochim, mein Vermieter, sagt: Warum gehst du nicht
raus. Es ist besser: arbeiten, schlafen.
Christian Saß: Haidar heute und damals, das ist ein Unterschied wie Tag und
Nacht. Er war wirklich durch den Wind und und das ist jetzt doch trotz
dieser ganzen Einschränkungen, die er sich selbst auch auferlegt, doch ein
viel besseres Gefühl.
7 Dec 2022
## AUTOREN
Friederike Gräff
## TAGS
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Stadtland
wochentaz
Geflüchtete
Arbeitsmigration
Duldung
Migration
Irak-Krieg
Migration
Hamburg
## ARTIKEL ZUM THEMA
Perspektiven für Geduldete in Bayern: Ohne Pass keine Chance
Der Chancenaufenthalt soll geduldeten Migranten eigentlich neue
Perspektiven geben. In Bayern ist die Sache jedoch nicht so einfach.
US-Invasion im Irak: Auftrag nicht ausgeführt
Vor 20 Jahren begann die „Operation Iraqi Freedom“. Sie beschädigte die
Idee der Demokratie in der arabischen Welt für lange Zeit.
Debatte um Chancenaufenthaltsrecht: Perspektive für langjährig Geduldete
Der Bundestag beschließt mehrere Änderungen im Aufenthaltsrecht. Die
Debatte verdeutlicht: Auch das Parlament ist heute so vielfältig wie nie
zuvor.
Biowarenhändler über Neuland aller Art: „Ich sehe die Leute gern fröhlich�…
Ali Shahandeh sieht sich mit seinem Bioladen in Hamburg-Altona als
Gentrifizierungsgewinner. Ein Gespräch über Rassismus und sandige
Biomöhren.
Roma-Familie droht Abschiebung: Ein Leben auf Abruf
Safeta lebt seit 15 Jahren in Deutschland. Sie muss eine Arbeit finden,
sonst droht ihr samt Tochter die Abschiebung nach Bosnien. Dort wären sie
fremd, würden als Roma diskriminiert.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.