| # taz.de -- Debatte ums Bürgergeld: Der Klang einer Beförderung | |
| > Ist das Bürgergeld echter Fortschritt? Oder Upgrade des längst Bekannten? | |
| > Eine kleine Geschichte der Unterschichtsverachtung. | |
| Bild: „Deutschlands bekanntester Arbeitsloser“: Arno Dübel bei der Party (… | |
| Arno Dübel freut sich aufs kommende Jahr. Denn dann werde er „zum Bürger | |
| befördert“. So [1][steht es auf der Facebookseite] des Mannes, der vor gut | |
| 20 Jahren als „Deutschlands frechster Arbeitsloser“ bekannt wurde, als | |
| „Sozialschmarotzer vom Dienst“ und „berühmtester Hartz-IV-Empfänger“. | |
| Ach, was waren das aufregende Zeiten, damals, unter rot-grüner Regierung. | |
| Nach 16 Jahren Helmut Kohl schien alles neu. Eine Neue Mitte hatte Gerhard | |
| Schröder 1998 bei seinem Einzug ins Kanzleramt beschworen und die Menschen | |
| ermuntert, ihr Erspartes in die New Economy zu stecken, etwa in nagelneue | |
| Telekom-Aktien. „Achtung, wir haben jetzt Neoliberalismus!“, warnten kluge | |
| Leute, und wer nicht auf Anhieb kapiert hatte, was das wohl heißen mochte, | |
| bekam es 2001 von Gerhard Schröder noch mal erklärt: „Es gibt kein Recht | |
| auf Faulheit in unserer Gesellschaft.“ Just in jenem Jahr begann die kleine | |
| Medienkarriere des Arno Dübel. | |
| Dessen beruflicher Werdegang ist schnell erzählt: 1974 brach er eine | |
| Malerlehre ab – Punkt. Seither lebt Dübel von dem, was einem | |
| Langzeitarbeitslosen an Sozialleistungen zusteht. Erst hieß es Sozialhilfe. | |
| Dann Hartz IV. Nun also [2][bald Bürgergeld]. „Wer arbeitet, ist blöd“: So | |
| hat Dübel es in Dutzenden Talkshows verkündet. So gab er es der Bild zu | |
| Protokoll. Und so postet er es jetzt, mit 66, [3][bei Facebook]: „Das neue | |
| Bürgergeld ist die Chance auf ein noch schöneres Leben auf Kosten vom | |
| Deutschen Staat. Lasst die Leute arbeiten und nehmt mehr Geld ab 1. 1. 2023 | |
| mit.“ | |
| Vor lauter Krisen schien der Sozialschmarotzer zuletzt vergessen – doch | |
| nun, da es an die Abschaffung von Hartz IV geht, kehrt er auf die | |
| öffentliche Bühne zurück. Das ist nicht Arno Dübels Schuld, viele kennen ja | |
| nicht mal seinen Namen. Nein, der „Sozialschmarotzer“ kann heute Heiko, | |
| Helga oder Hassan heißen, er muss kein dürrer Kettenraucher sein, damit | |
| wieder über ihn geredet wird. | |
| Da ist etwa Mario Lochner, Finanzblogger und Redakteur bei Money, Ableger | |
| des Magazins Focus, das schon 1995 „Das süße Leben der Sozialschmarotzer“ | |
| zur Titelstory erhob. Neulich, zu Halloween, [4][verglich Lochner bei | |
| Twitter] die Menschen, die bald Bürgergeld beziehen werden, mit faulen | |
| Kindern, die anderen die Süßigkeiten klauen. | |
| Die Junge Freiheit raunte vor drei Monaten mal wieder von der „sozialen | |
| Hängematte“, und der Vize-Fraktionschef der AfD im Bundestag, Norbert | |
| Kleinwächter, dachte laut über Menschen nach, die verlernt hätten, „in der | |
| Früh aufzustehen“ und stattdessen beigebracht bekämen, „auf der Couch zu | |
| liegen“. | |
| Eleganter und behutsamer – fast schon zärtlich – klang es bei CDU-Chef | |
| Friedrich Merz, als er über den Menschentypus „Versorgungsempfänger“ | |
| sinnierte. Oder bei Michael Kretschmer, sächsischer Ministerpräsident, der | |
| im MDR herumdruckste: „Die Menschen, die jeden Tag arbeiten gehen, die | |
| etwas leisten, die fragen doch: Ist dieser Sozialstaat wirklich richtig | |
| austariert?“ Immerhin steht es schon in der Bibel: „Wer nicht arbeitet, | |
| soll nicht essen.“ August Bebel, Adolf Hitler, Josef Stalin und Franz | |
| Müntefering haben das zitiert – warum nicht auch ein Christdemokrat? | |
| Die einen beklatschen das rhetorische Nachuntentreten. Die anderen | |
| verurteilen es als Zynismus im Trump-Stil. Manche sprechen von | |
| „Kulturkampf“. Viele tragen dieser Tage wieder das Wort „Sozialschmarotze… | |
| auf der Zunge, aber sie spucken es nicht aus. Man hört es trotzdem. | |
| Schließlich wissen heute alle Bescheid über die Symbolkraft von Namen und | |
| Vokabeln, über „Hate Speech“ und Klassismus, Wording und Framing. | |
| Mit dem Bürgergeld will die Ampel-Koalition die Lebensumstände derjenigen, | |
| die aus dem geregelten Arbeitsmarkt geglitten sind oder nie drin waren, ein | |
| bisschen verbessern. Mit einem Hauch mehr Geld und Weiterbildungsangeboten, | |
| besseren Zuverdienstmöglichkeiten, einem höheren Schonvermögen, mit etwas | |
| mehr Zeit, Raum, Ruhe, um finanziell und sozial wieder auf die Beine zu | |
| kommen – bevor das Jobcenter den Druck dann doch wieder erhöhen kann. | |
| Skeptiker und Zweiflerinnen sprechen von Hartz V: einem billigen Upgrade | |
| des längst Bekannten. | |
| Gewerkschaften und Sozialverbände jedoch begrüßen das Projekt. Es | |
| „reformiert ein Menschenbild“, [5][meinte unlängst auch taz-Kollegin Anna | |
| Lehmann]: „Der antriebslose Arbeitslose, der lieber Tiefkühlfritten vor der | |
| Glotze konsumiert, als sich um Arbeit oder Schulabschluss zu bemühen, ist | |
| passé. Stattdessen traut die Ampel den Menschen, wenn auch zaghaft, zu, | |
| dass sie tätige Mitglieder der Gesellschaft sein wollen.“ | |
| Anhaltende Arbeitslosigkeit und Aufstockungsbedarf haben viele Ursachen. | |
| Krankheit, die Alleinverantwortung für ein Kind, psychische Belastungen, | |
| eine Sucht, eine gescheiterte Freiberuflichkeit. Und eben die | |
| Arno-Dübel-Jahre, die Schröder-Ära. Hartz IV ist (auch) eine Folge von | |
| Hartz I bis III: Leiharbeit, Zeitarbeit, Scheinselbständigkeit – ideale | |
| Voraussetzungen für die Vermehrung der working poor, Menschen, die von | |
| ihren Jobs nicht leben können. Rund acht Millionen abhängig Beschäftigte | |
| arbeiten heute auf Niedriglohnniveau, 46 Prozent mehr als 1995. | |
| ## Die Neue Mitte: Sie verdünnisiert sich | |
| Seit 2005, der Einführung der Hartz-Gesetze, habe sich die Mitte „nicht | |
| wieder erholt“, ist bei der nicht gerade kommunismusverdächtigen | |
| Bertelsmann-Stiftung zu lesen. 1995 zählten demnach 70 Prozent der | |
| Bevölkerung zu den mittleren Einkommensgruppen, inzwischen sind es knapp | |
| über 60. Laut Statistischem Bundesamt ist heute jeder Fünfte „von Armut | |
| oder sozialer Ausgrenzung bedroht“. | |
| Die „Multijobberin“, der „Flaschensammler“, die „Tafel-Kundin“: Sie… | |
| sind in den Nullerjahren geboren und leben nun mitten unter uns. Anders | |
| gesagt: Die Wahrscheinlichkeit, selbst eines Tages zum | |
| „Versorgungsempfänger“ (Merz) zu werden, ist den Deutschen näher an die | |
| Pellen gerückt. | |
| Karl Marx schimpfte auf das „Lumpenproletariat“, die „passive Verfaulung | |
| der untersten Schichten“. Der SPD-Mann Alfred Grotjahn sah in | |
| „Arbeitsscheuen“ und „Verwahrlosten“ 1912 „eine Gefahr und eine Bürd… | |
| jedes Gemeinwesen“. Die Nazis hetzten gegen „Ballastexistenzen“ und | |
| „Asoziale“. In den frühen Hartz-Jahren übernahmen sogenannte „Neue | |
| Bürgerliche“ den Job. Ihr Spektrum reichte von „altfränkisch bis | |
| exzentrisch, lokal bis global“, wie der Sozialwissenschaftler Wolfgang | |
| Kaschuba konstatierte: eine „Bourgeoisie ohne Bürgerlichkeit“. | |
| Der Publizist Norbert Bolz, einst im Beirat des CDU-Wirtschaftsrats, | |
| lästerte 2009 über eine sozialstaatliche „Tyrannei der Wohltaten“, die ei… | |
| „Sklavenmentalität“ hervorbringe. 2010 setzte der damalige Focus-Chef | |
| Wolfram Weimer eine Tirade über einen „linksliberalen, feministischen, | |
| sozialstaatsfixierten Multikulti-Wischiwaschi-Mainstream“ in sein Blatt. | |
| FDP-Mann Guido Westerwelle brachte die „spätrömische Dekadenz“ ins Spiel, | |
| sein Parteikollege Daniel Bahr grämte sich: „In Deutschland bekommen die | |
| Falschen die Kinder.“ | |
| Nur in der Feststellung, wer alles nicht dazugehörte, ließ dieses | |
| neu-bürgerliche „Wir“ sich fassen, und das SPD-Problem Thilo Sarrazin war | |
| dabei besonders akribisch: „Menschen, die in Trainingsanzügen | |
| rumschlurfen“, Langzeitarbeitslose („regulieren die Temperatur mit dem | |
| Fenster“), Hartzerinnen, die „durch Kinder ihren Lebensstandard | |
| verbessern“, „Kopftuchmädchen“ – eine „funktions- und arbeitslose | |
| Unterklasse“, die sich „verfestigt“ und „vermehrt“. Die Neue Bürgerl… | |
| kippte in eine „Rohe Bürgerlichkeit“, wie der Soziologe Wilhelm Heitmeyer | |
| es 2011 formulierte. Und 2013 gründete sich dann die AfD. | |
| Deshalb geben sich gerade alle Mühe, so vorsichtig wie möglich zu sprechen. | |
| Erst recht die Ampel-Parteien: SPD und Grüne, unter deren Ägide die | |
| Prekarisierung so richtig in Schwung kam. Und die FDP, die ihre | |
| Überheblichkeit den Verlierern gegenüber jahrelang so überdeutlich | |
| raushängen ließ. Aber natürlich auch die Union, die mit der AfD jetzt die | |
| Oppositionsbänke teilt und keinesfalls mit ihr verwechselt werden will. | |
| Überraschenderweise hat Friedrich Merz kürzlich einmal etwas gar nicht so | |
| Dummes gesagt: Mit der Grundsicherung für Alte und Kinder werde es | |
| womöglich bald „nicht mehr viele geben in dieser Gesellschaft, die nicht | |
| auf irgendein soziales Transfersystem zurückgreifen können“. Die Neue | |
| Mitte: Sie verdünnisiert sich. Darauf muss man die Menschen vorbereiten. | |
| Man muss ihnen die Angst nehmen. Die Hartzerin wird zur | |
| Bürgergeldempfängerin – zur bedürftigen Bürgerin – irgendwie also: | |
| bürgerlich. Arno Dübel hat Recht. Es klingt wie eine Beförderung. | |
| 14 Nov 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.facebook.com/photo.php?fbid=650812123181657 | |
| [2] /Ende-von-Hartz-IV/!5894374 | |
| [3] https://www.facebook.com/photo.php?fbid=660326365563566 | |
| [4] https://twitter.com/mario_lochner/status/1587109082447560705 | |
| [5] /Union-zum-Ampel-Projekt/!5890348 | |
| ## AUTOREN | |
| Katja Kullmann | |
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