# taz.de -- Arbeitsbedingungen in Katar: Alles nicht so schlimm. Oder doch? | |
> Die Klagen über miese Jobbedingungen in Katar reißen nicht ab. Die | |
> Arbeitsorganisation ILO beschwichtigt – zu Unrecht, mahnen | |
> Aktivist:innen. | |
Bild: Arbeiter aus Pakistan vor der Skyline von Doha Ende Oktober 2022 | |
Drei Tage vor Beginn der Fußball-WM melden sich erneut migrantische | |
Arbeiter:innen und deren Familien mit schweren Anschuldigungen | |
gegenüber Katar zu Wort. In einem am Donnerstag von Human Rights Watch | |
(HRW) verbreiteten Video ist die Rede von Misshandlungen, Lohndiebstahl, | |
Arbeit in extremer Hitze und ungeklärten Todesfällen unter den | |
Wanderarbeiter:innen in dem Wüstenemirat. [1][Die Vorwürfe sind | |
altbekannt und wurden vielfach dokumentiert.] Die von den | |
Arbeiter:innen und HRW geforderten Entschädigungen wurden indes nicht | |
gezahlt. | |
In eigentümlichem Gegensatz hierzu steht, was die Internationale | |
Arbeitsorganisation (ILO) zur Lage in Katar verbreitet. Man habe sich für | |
„eine gemeinsame Vision versammelt“ – von „großen Reformen“ ist da d… | |
Rede. Die Kataris selbst kontern Kritik an den Arbeitsbedingungen in ihrem | |
Land mit Verweis auf die ILO, die ihnen Fortschritte bescheinige, für die | |
„andere Länder Jahrzehnte gebraucht“ hätten. | |
## 25 Millionen Euro für die Untersuchungen | |
Im Jahr 2014 hatten zwölf Gewerkschafter:innen bei der ILO Beschwerde | |
gegen Katar wegen „eklatanter Nichtbeachtung“ der Arbeitsrechte eingelegt. | |
Zwangsarbeit sei „systematisch und weit verbreitet“, hieß es darin. Seither | |
befasst sich die ILO mit der Lage im Land. „Den Begriff ‚Untersuchungen‘ | |
verwenden wir nicht, das trifft es nicht, was wir tun“ sagt Max Tuñón, der | |
Leiter der 2017 in Doha eröffneten ILO-Vertretung, im Gespräch mit der taz. | |
Zwölf Mitarbeiter:innen unterhält die ILO dort heute, 25 Millionen | |
Euro bekam sie dafür von Katar. | |
Die ILO veröffentlicht Berichte dazu, wie es um die Arbeitsrechte in dem | |
Wüstenemirat steht. Zuletzt, kurz vor Beginn der WM, lobte sie nicht nur | |
den 2021 eingeführten Mindestlohn von umgerechnet 275 US-Dollar im Monat, | |
sondern auch die „Demontage“ [2][des ausbeuterischen „Kafala-Systems“],… | |
dem der Arbeitgeber ähnlich wie ein Vormund über seine Beschäftigten | |
bestimmt, außerdem ein Lohnsicherungssystem namens WPS, | |
Online-Beschwerdemöglichkeiten beim Arbeitsministerium und verbesserte | |
Arbeitsinspektionen. | |
„Die Reformen an sich sind nicht so schlecht“, sagt Vani Saraswathi von der | |
Initiative Migrants Rights in Katar, der taz. „Auf dem Papier kann man viel | |
reformieren. Das nützt aber gar nichts, wenn es keinen Zugang zu | |
Rechtsmitteln gibt, um das durchzusetzen.“ | |
Die ILO verweist darauf, dass 1,66 von 1,71 Millionen Arbeiter:innen | |
und 94 Prozent aller Betriebe Katars mittlerweile vom | |
Lohnsicherungsmechanismus WPS erfasst seien. Im vergangenen Jahr hätten im | |
Schnitt monatlich 2.000 Arbeiter:innen Online-Beschwerden beim | |
Arbeitsministerium eingereicht. Die wenigen Arbeiter:innen, die es wagten, | |
sich zu äußern oder zu protestieren, würden schikaniert, eingesperrt und | |
abgeschoben, sagt hingegen die aus Indien stammende Journalistin und | |
Aktivistin Saraswathi. | |
Tatsächlich können Arbeitsmigrant:innen seit November 2020 | |
selbstständig den Arbeitgeber wechseln, was vorher wegen des Kafala-Systems | |
unmöglich war. Über 350.000 machten von dem Recht Gebrauch. Das anhaltende | |
Problem, laut Saraswathi: Die jeweilige Aufenthaltsgenehmigung bleibt | |
weiter an den Arbeitgeber gekoppelt – und der kann nach einer Kündigung | |
unter anderem den Personalausweis für ungültig erklären. Die | |
Arbeiter:innen können sich dann zwar einen neuen beschaffen. Doch das | |
kostet Zeit, viele scheuten davor zurück und bleiben aus diesem Grund bei | |
Arbeitgebern, auch wenn diese sie ausbeuten. Saraswathi hat viele solcher | |
Haken bei den Reformen aufgelistet. | |
## Unklarheit bei den Todeszahlen | |
„Es wurden beträchtliche Fortschritte erzielt, aber Herausforderungen | |
bleiben bestehen“, erklärt der ILO-Verteter Tuñón und räumt ein: „Natü… | |
gibt es Fälle, in denen es zu Ausbeutung kommt oder wo Zwangsarbeit | |
vorliegt.“ Ein Teilprogramm der ILO befasst sich mit jenen Fällen. Doch es | |
sei „irreführend, die Millionen Wanderarbeiter in Katar als Zwangsarbeiter | |
zu bezeichnen.“ So irreführend wie die beharrlich kursierende Zahl von | |
6.500 Toten im Zusammenhang mit den WM-Vorbereitungen: „Das ist die | |
Gesamtzahl der südasiatischen Staatsangehörigen, die über einen Zeitraum | |
von zehn Jahren in Katar gestorben sind.“ | |
Kein einziges Mal war die ILO allerdings [3][auf den Baustellen]. Und sie | |
hat auch keinen der Todesfälle selber untersucht. „Das ist nicht unsere | |
Aufgabe“, sagt Tuñón. „Unsere Aufgabe ist es, mit der Regierung | |
zusammenzuarbeiten, damit deren Inspektoren ihre Arbeit effizienter machen | |
können.“ So trainiert die ILO die staatlichen Kontrolleure seit 2018. Da | |
der Staat hinter dem Bau der WM-Stadien steht, kontrolliert er sich somit | |
selbst. Doch das sieht Tuñón nicht als Problem. | |
Er verweist auf eine Telefonhotline der ILO, bei der Kataris | |
Arbeitsrechtsverstöße melden könnten. „Über die bekommen wir jeden Tag | |
Beschwerden“, sagt Tuñón. Auf diese Art sei die ILO aus erster Hand darüber | |
informiert, was falsch laufe. | |
Katar könne „mit westlichen Kritikern tanzen, wohl wissend, dass es vor Ort | |
nichts ändern muss“: So beurteilt es hingegen die | |
Migrant:innenrechtlerin Vani Saraswathi. | |
19 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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