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# taz.de -- Sun Ra Arkestra in Hamburg: Kosmische Töne zur Heilung der Welt
> Die Hamburger Afro-Futurismus-Reihe steuert auf ihren glitzernden
> Höhepunkt zu: Am Sonntag spielt das Sun Ra Arkestra in der
> Elbphilharmonie.
Bild: Kosmisch: Marshall Allen am Saxophon
Hamburg taz | Am Anfang war die Frage: „Kann eine Gemeinschaft, deren
Vergangenheit mutwillig ausradiert wurde und deren Kräfte infolgedessen von
der Suche nach lesbaren Spuren ihrer Geschichte absorbiert werden, sich
überhaupt eine mögliche Zukunft ausmalen?“ Der amerikanische Autor Mark
Dery stellte sie mit Blick auf die afro-amerikanische Gemeinschaft in
seinem 1993 erschienen Aufsatz „Black to the Future“
Ja, kann sie, führte Dery aus. Weniger als klassische Science-Fiction, eher
als etwas größeres, weitgehenderes, unglaublicheres. Dery nannte es
Afro-Futurismus und seither steht der Begriff. Gerade bringt die
Elbphilharmonie ihm ein mehrwöchiges Ständchen, das mit dem Auftritt des
Sun Ra Arkestras auf seinen Höhepunkt zusteuert.
[1][Afro-Futurismus stoppt nicht bei der Beschreibung des Anderen]. Während
in den USA weiße Raumfahrer wie Buck Rogers und Flash Gordon sich seit den
1930er-Jahren ohne soziale Vision, aber mit mächtigen Strahlenpistolen in
einem feindlich-fremden Morgen behaupteten, entwirft Afro-Futurismus eine
bessere Schwarze Zukunft. Ohne darüber die afro-amerikanischen Wurzeln zu
vergessen.
Als Verlängerung der Bürgerrechtsbewegung ins extraterrestrische, bietet
George Clinton mit Bands wie Parliament und Funkadelic in den 70ern ein
technologisch runderneuerte Schwarze Arche Noah, das Mothership. Herbie
Hancock steuert ein Raumschiff auf seinem 74er-Album „Thrust“ durch
lilafarbene Wolken, befeuert von Space-Funk-Synthesizern.
## Ein Prophet und Mystiker
Seither taucht das Thema von HipHop über Detroit Techno bis zum Dub-Reggea
in einer ganzen Reihe Schwarzer Musikstile auf. Der erfahrenste Raumfahrer
des musikalischen Afro-Futurismus aber, [2][sein Prophet und Mystiker heißt
Sun Ra]. Kein anderer hatte in seinem Pass als Geburtsort „Saturn“ stehen.
Und niemand konnte seine Musik auch so klingen lassen.
Fragte ihn später jemand, warum ein Jazzmusiker wie er so viel über das
Weltall und die Raumfahrt doziere, antwortete Sun Ra manchmal, er habe in
Huntington, Alabama dasselbe College besucht, an dem Wernher von Braun
Amerikas ersten Satelliten entwickelte. Das Wissen ist dann wohl osmotisch
zu ihm gelangt.
Wobei sich Sun Ra weniger für Schubumkehr und Umlaufbahnen interessierte
als für die Versprechen des Weltalls: grenzenlose Freiheit in Raum und
Zeit. Für jemanden, der 1914 geboren als Schwarzer in der
gesellschaftlichen Enge der Südstaaten aufwächst, sind es sehr attraktive
Aussichten da oben.
Also formte er aus seinen Privatstudien ägyptischer Mythologie,
äthiopischer Theologie und einem tiefen Interesse an Linguistik eine
spirituelle und auf Freiheit ausgerichtete Weltsicht, die beginnend in den
50er-Jahren seine Arbeit, sein Leben und das Leben seiner Musiker
durchdringt. Ihre Stärke zeigt sich schon daran, dass sein Arkestra noch
heute auftritt – 29 Jahre nachdem Sun Ra den Planeten verlassen hat.
Geleitet wird dieses musikalische Theater inzwischen von Marshall Allen,
seit den späten 50ern Sun Ras Weggefährte. Auch mit unglaublichen 98 Jahren
spielt Allen noch ein furchteinflößendes Altsaxophon, navigiert aber
hauptsächlich dieses gute Dutzend mit seinen Trompeten und Saxophonen,
Flöten und Percussioninstrumenten, Keyboards und Kontrabässen durch einen
unvorhersehbaren Strom kosmischer Töne. „Cosmic Tones For Mental Therapy“,
wie es eine der weit über 100 Sun-Ra-Platten nennt.
## Astronomische Gospel-Chants
Wohin die Energien dabei fließen, lässt sich im Voraus kaum absehen. Mal
spielt das Arkestra als Meer wogender Gewänder und glitzernder Umhänge
astronomische Gospel-Chants wie „Rocket #9“ oder „We Travel the Spaceways…
dann wiederum verwandelt sich die drei Generationen umspannende Gruppe nach
wenigen Minuten in einen glühende Lava speienden Freejazz-Vulkan.
Wie weit Sun Ras Werk über seine Musik hinausgeht, wurde 1974 in
Technicolor festgehalten. „Space Is The Place“ ist eine grelle
low-budget-Mixtur aus Blaxploition-Movie, Science Fiction und radikalem
Befreiungskampf. Der Zeitreisende Sun Ra schwebt darin in seinem von Musik
angetriebenen Raumschiff auf die Erde, um für die Befreiung der Schwarzen
Bevölkerung und gegen die Nasa zu kämpfen. Alles untermalt von
atemberaubenden Liveauftritten des Arkestras.
[3][„Black Power und Free Jazz] kollidieren mit dem Modestil von
‚Superfly‘“, schrieb die New York Times über den Film, der damals nicht …
die Kinos kam und viele Jahren lediglich als raubkopierter Mythos unter
VHS-Sammler:innen kursierte. Inzwischen liegt das Zeitdokument restauriert
und in voller Länge wieder vor und ist zum Abschluss des
Afro-Futurismus-Programms noch zweimal in Hamburg zu sehen.
Für Sun Ra war Musik eine universelle, spirituelle Sprache. Verstehen kann
sie jeder, sie sprechen zu lernen aber erfordert Disziplin. Die
Musiker:innen, die er seit den 50ern um sich scharte, hatten sich strengen
Regeln zu beugen. Tägliche Proben von bis zu acht Stunden, kein Alkohol,
keine Drogen. „Kunst beginnt nicht mit Imitation, sie beginnt mit
Disziplin“, lautet ein bekannter Sun-Ra-Spruch. Ein weiterer: „Das Mögliche
wurde probiert und ist gescheitert. Jetzt ist es Zeit, das Unmögliche zu
probieren.“
## Anhaltende Relevanz
In seinem Fall besteht das Unmögliche aus ungewöhnlichen Takten und
komplexen Wechseln, die selbst erfahrene Musiker:innen vor
Herausforderungen stellt. Gleichzeitig aber bieten die Stücke Raum für
Freiheit und Improvisation. Früher füllte vor allem
[4][Arkestra]-Saxophonist John Gilmore diesen Raum. Sein freies Spiel
prägte nicht nur über 40 Jahre die Musik Sun Ras, der 1995 gestorbene
Musiker war auch ein maßgeblicher Einfluss für den Wegbereiter des modernen
Jazz, John Coltrane.
Die anhaltende Relevanz der Arbeit Sun Ras zeigt sich nicht allein in einem
schier endlosen Strom an Veröffentlichungen. Vielleicht ist der Bedarf für
diese Musik heute sogar größer denn je. „Die Welt ist einem derart
schlechten Zustand“, sagte Sun Ra schon im vergangen Jahrhundert, „wenn sie
nicht bald denjenigen finden, den ihr Erlöser nennt, dann wird jeder Mann,
jede Frau und jedes Kind auf diesem Planeten ausgelöscht.“ Was er wohl
heute sagen würde?
12 Nov 2022
## LINKS
[1] /Labeljubilaeum-von-Hyperdub/!5040230
[2] /Cosmic-Jazz-im-Berliner-Planetarium/!5882825
[3] /Free-Jazz-Ikone-Albert-Ayler/!5865200
[4] https://sunraarkestra.com/
## AUTOREN
Gregor Kessler
## TAGS
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Henrietta Smith-Rolla
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