# taz.de -- Nach Raketeneinschlag in Polen: Zwei Raketen und viele Fragen | |
> Es ist ein Kollateralschaden russischer Angriffe auf die Ukraine. Worüber | |
> die Welt seit dem Einschlag der Raketen an der polnischen Grenze spricht. | |
Bild: Spurensuche: Ermittler suchen im Krater der eingeschlagenen Rakete nach I… | |
BERLIN taz | Es war die Nachricht, auf die die Welt angstvoll wartet, seit | |
Russland am 24. Februar die Ukraine überfallen hat: „Russische Raketen“ | |
seien in Polen eingeschlagen, es gebe zwei Tote, meldeten internationale | |
Nachrichtenagenturen am Dienstagabend kurz vor 20 Uhr. Erstmals hätte damit | |
der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine das Territorium eines | |
Nato-Mitglieds erreicht. | |
War das wirklich der Startschuss zum Dritten Weltkrieg? Die ursprüngliche | |
Nachricht, die der Journalist Mariusz Gierszewski vom polnischen | |
Radiosender ZET um 18.28 Uhr verbreitete, lautete „Inoffiziell: Zwei | |
verirrte Raketen sind in der Stadt Przewodów in der Woiwodschaft Lublin | |
nahe der Grenze zur Ukraine niedergegangen. | |
Sie trafen die Getreidetrocknungsanlage. Zwei Menschen starben. Polizei, | |
Staatsanwaltschaft und Armee sind vor Ort.“ Der Sender präzisierte | |
anderthalb Stunden später auf seiner Webseite: „Radio-ZET-Reporter Michał | |
Dzienyński fand heraus, dass die Explosionen beim Auffahren eines Traktors | |
auf die Waage aufgetreten sind. Wir wissen nicht, was passiert ist, das | |
Gebiet ist gesichert, sagte uns der Sekretär der Gemeinde Dołhobyczów.“ | |
Die Regierungen Polens sowie der USA bestätigten ausdrücklich nicht die | |
Angabe der Nachrichtenagentur AP unter Berufung auf US-Geheimdienste, es | |
handele sich um „russische Raketen“. | |
## Spekulationen und Propaganda | |
Der Propagandakrieg zwischen Moskau und Kiew ging derweil seinen Gang. | |
„Russischer Raketenterror“ habe in Polen getötet, erklärte Ukraines | |
Präsident Wolodimir Selenski in der Nacht. Das bedeute eine gravierende | |
Eskalation, es müsse eine Reaktion geben: „Es besteht Handlungsbedarf.“ | |
Fast zeitgleich erklärte Russlands Verteidigungsministerium den Vorfall zu | |
einer „Provokation“, mit der man „nichts“ zu tun habe. | |
Im russischen Fernsehen wurden widerstreitende Spekulationen geäußert: Es | |
sei gar nichts passiert, es war die Ukraine selbst, es war Großbritannien. | |
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba fühlte sich davon an die | |
Moskauer Desinformation über den [1][russischen Abschuss des | |
Passagierflugzeuges MH17] über ukrainischem Gebiet im August 2014 erinnert | |
und ärgerte sich auf Twitter: „Jetzt befördert Russland eine | |
Verschwörungstheorie, dass es angeblich eine Rakete der ukrainischen | |
Luftabwehr war, die auf polnisches Gebiet gefallen ist. Was nicht stimmt. | |
Niemand sollte der russischen Propaganda glauben oder ihre Botschaft | |
verbreiten.“ | |
Aber was am späten Dienstagabend für die Ukraine noch | |
„Verschwörungstheorie“ war, ist am Mittwoch für Polen die wahrscheinlichs… | |
Erkenntnis. Es sei „höchstwahrscheinlich“, dass es eine Rakete der | |
ukrainischen Luftabwehr gewesen sei, sagte Polens Präsident Andrzej Duda am | |
Mittwochmittag. Es gebe keinen Hinweis für einen Angriff auf Polen. | |
In der Nacht war Duda sich noch nicht so sicher gewesen. „Wir haben im | |
Moment keine schlüssigen Beweise dafür, wer diese Rakete abgefeuert hat“, | |
hatte er gesagt: „Es war höchstwahrscheinlich eine Rakete aus russischer | |
Produktion, aber das wird im Moment alles noch untersucht.“ | |
## Trümmer vom selben System | |
Wenig später hatte aber US-Präsident Joe Biden auf Bali, wo er und die | |
anderen G7-Staats- und Regierungschefs zum G20-Gipfel weilten und sich zum | |
nächtlichen Krisengespräch trafen, die These eines russischen Beschusses in | |
Zweifel gezogen: „Es gibt vorläufige Informationen, die das bestreiten. Ich | |
möchte das nicht sagen, bevor wir es nicht vollständig untersucht haben, | |
aber angesichts der Flugbahn ist es unwahrscheinlich, dass sie von Russland | |
abgefeuert wurde.“ | |
Am Mittwoch verfestigte es sich zur Gewissheit, dass es sich bei dem | |
Raketentreffer in Polen, egal ob Russland oder die Ukraine der Urheber war, | |
um ein Versehen gehandelt hat – entweder ein fehlgeleiteter russischer | |
Angriff oder eine an der falschen Stelle niedergegangene ukrainische | |
Abwehrrakete, oder beides. | |
Bilder vom Tatort, deren Echtheit nicht bestätigt ist, zeigen Trümmer, die | |
laut Experten dem ursprünglich sowjetischen Luftabwehrsystem S300 | |
entsprechen. Dieses wird von beiden Ländern eingesetzt. Die Ukraine fängt | |
damit russische Angriffe ab, wobei schon mehrfach heruntergefallene eigene | |
Raketenteile Schäden am Boden angerichtet haben. Russland hat S300-Systeme | |
in Belarus stationiert und soll sie zum Teil für Angriffe auf Bodenziele | |
umgebaut haben, deren Effektivität allerdings umstritten ist. | |
Tief in der Nacht meldete sich der polnische Radiojournalist Gierszewski | |
wieder und bestätigte: „Meine Quellen in den Diensten sagen, dass das, was | |
Przewodów getroffen hat, höchstwahrscheinlich die Überreste einer Rakete | |
sind, die von den ukrainischen Streitkräften abgeschossen wurde.“ | |
## 1 + 1 = 2 Raketen | |
Dass eine ukrainische Rakete eine russische Rakete abgefangen habe, ist | |
auch für den deutschen Waffenjournalisten Lars Winkelsdorf die plausibelste | |
Erklärung: „Schießt man mit einer Rakete auf eine fliegende Rakete und | |
trifft die, dann hat man exakt zwei Raketen, die dann gen Boden unterwegs | |
sind, wenn auch nunmehr eher teilweise“, erläutert er auf Twitter. Der | |
Sprengkopf der getroffenen Rakete könne dann am Boden explodieren. „Dann | |
entsteht so ziemlich exakt das Bild, das gerade in Polen festgestellt | |
wurde.“ | |
Diese Feststellung nimmt der Situation allerdings nicht ihre Brisanz, denn | |
dann hat es nicht nur eine ukrainische Abwehraktion gegeben, sondern auch | |
einen russischen Beschuss. Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki sagte | |
am Nachmittag, zu der Explosion in Przewodów sei es wahrscheinlich in der | |
Folge eines Abschusses einer russischen Rakete gekommen; es sei eine | |
sowjetische Flugabwehrrakete in ukrainischem Besitz auf polnisches Gebiet | |
gefallen. | |
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sprach am Mittwochmittag von der | |
ukrainischen Abwehr eines russischen Marschflugkörpers. Diese Raketen | |
werden ferngesteuert, und dabei können Fehler geschehen. Die Zeitung | |
Ukrainska Pravda berichtete unter Berufung auf polnische Militärexperten, | |
es seien Trümmer identifiziert worden, die von einem Marschflugkörper des | |
von Russland verwendeten Typs Kh-101 stammen könnten. Die Regierung der | |
Ukraine fordert nun Zugang zum Einschlagsort in Polen. | |
Sergej Sumlenny, ehemaliger Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew, | |
weist darauf hin, dass Przewodów nahe der Stromtrasse liegt, die die | |
Stromnetze der Ukraine und Polens verbindet – seit Februar ist die Ukraine | |
dadurch an das EU-Stromnetz angeschlossen und nicht mehr an das russische, | |
und sie exportierte darüber zuletzt Strom nach Polen. Auf der ukrainischen | |
Seite der Grenze befindet sich das Kraftwerk Dobrotwirska, wo die Leitungen | |
aus der Ukraine Richtung Polen zusammengeführt werden. | |
## Zynische Berechnung | |
Dobrotwirska war am Dienstag eines von vielen Zielen einer erneuten | |
massiven russischen Angriffswelle auf die Ukraine. Seit Oktober, als der | |
für seine brutale Kriegsführung in Syrien berüchtigte General [2][Sergej | |
Surowikin] das Kommando der russischen „Spezialoperation“ übernahm, gibt es | |
immer wieder Luft- und Raketenangriffe auf das gesamte Land, die vor allem | |
der Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur und Energieversorgung gelten. | |
Die Angriffe am Dienstag waren die schwersten auf das ukrainische Stromnetz | |
seit Kriegsbeginn, erklärte am Abend der stellvertretende ukrainische | |
Energieminister Jaroslaw Demtschenkow. Der staatliche Energieversorger | |
Ukrenergo erklärte nach den Angriffen, die Situation sei „so ernst wie | |
nie“, und führte aus: „Objekte im ganzen Land kamen unter Beschuss. | |
Seit Anfang Oktober ist dies der sechste massive Angriff auf die | |
Energieinfrastruktur des Landes, diesmal der größte: etwa 100 Raketen. Jede | |
Rakete flog mit dem Ziel, die Ukraine in die Dunkelheit zu werfen. Der | |
Angriff wird mit zynischer Berechnung ausgeführt, in dem Moment, wo der | |
Spitzenverbrauch beginnt.“ Russlands Verteidigungsministerium bestätigte | |
die Angriffe auf die Energieinfrastruktur und erklärte, sie hätten ihre | |
Ziele erreicht. | |
Die Angriffe setzten am Dienstag gegen 15 Uhr ein, der Raketeneinschlag in | |
Polen erfolgte gegen 16 Uhr, zum Höhepunkt des landesweiten Raketenterrors. | |
Mehrere Angriffswellen trafen Kiew, es gab Tote und Verletzte, in Teilen | |
der Hauptstadt fiel der Strom aus, ebenso im gesamten Gebiet Charkiw. In | |
der Südukraine saßen 566 Bergleute in einer Eisenerzmine durch Stromausfall | |
in der Grube fest und mussten gerettet werden. | |
## Zehn Millionen ohne Strom | |
In der westukrainischen Stadt Lwiw, in deren Nähe das Kraftwerk | |
Dobrotwirska liegt, fiel der Strom zu 80 Prozent aus, die Wärmeversorgung | |
musste eingestellt werden. Die Situation sei „kritisch“, sagte am Abend | |
Kyrylo Tymoshenko, Vizechef der Präsidialverwaltung. Zehn Millionen | |
Menschen seien landesweit ohne Strom, erklärten die Behörden am Mittwoch. | |
Auch Nachbarländer waren betroffen. Die russischen Öllieferungen an Ungarn | |
über die Druschba-Pipeline, die durch die Ukraine verläuft, wurden von der | |
Ukraine wegen Beschädigung der Einrichtungen kurzzeitig ausgesetzt. Die | |
Republik Moldau meldete Stromausfälle, nachdem eine wichtige Leitung aus | |
der Ukraine notabgeschaltet wurde. Auch zwei ukrainische Atomreaktoren | |
mussten vom Netz getrennt werden. | |
16 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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