| # taz.de -- Bremer Ausstellung über Baumwolle: Eine kuschelige Weltmacht | |
| > Kein Rohstoff wie jeder andere: Das Überseemuseum erzählt die Kultur- und | |
| > Handelsgeschichte der Baumwolle in einer Ausstellung. | |
| Bild: Baumwolle. Unscheinbar, aber von gewaltiger Bedeutung. Und mit gewaltsame… | |
| Baumwolle hat wirklich überall ihre Flusen drin – als der wohl wichtigste | |
| Rohstoff der Welt. Auch wenn, zugegeben, Erdöl während ein paar Jahrzehnten | |
| mehr Aufmerksamkeit bekam. Doch diese Faser wird auch dann noch bedeutsam | |
| bleiben, wenn die verhängnisvolle fossile Phase endlich vorbei ist. | |
| Die Geschichte der Kultivierung einiger Gossypium-Arten aus der Familie der | |
| Malvengewächse beginnt gleich vier Mal: In Asien vor 8.000 Jahren, in | |
| Afrika, Süd- und Nordamerika wenige Jahrtausende später. Dabei laufen die | |
| Prozesse völlig getrennt voneinander ab, sind aber fast identisch. Auch in | |
| der Hinsicht, was im schmerzhaften Kontakt mit den Kolonisatoren aus den | |
| Zivilisationen dort wurde. Wo auch immer Europa über sie kam wie eine | |
| hartnäckige Krankheit, war die Gier nach Baumwolle mit im Spiel. | |
| Eine Geschichte des globalen Kapitalismus kann als Geschichte der Baumwolle | |
| erzählt werden, wie der Historiker Sven Beckert 2014 mit seinem | |
| preisgekrönten Buch „King Cotton“ gezeigt hat. Diese kuschelige Faser hat | |
| den Handel beherrscht, der den Globus umspannt und unterjocht hat: Sie ist | |
| selbst eine Weltmacht. Und für das hätte es mehr gebraucht als nur eine | |
| Etage Ausstellungsfläche wie im Überseemuseum. | |
| Und dann kommt ja noch die lokalgeschichtliche Komponente hinzu: Bremen | |
| hatte im 19. Jahrhundert zwar keine baumwollverarbeitende Industrie, war | |
| aber einer der wichtigsten Umschlagplätze, gleich nach Liverpool. Die vor | |
| 150 Jahren gegründete Baumwollbörse war Zeugin und treibende Kraft dieses | |
| Aufstiegs, der wiederum elementar verbunden ist mit den Migrationsströmen | |
| aus Deutschland gen Amerika. | |
| ## Räume in den Farben der Blüte | |
| Ina Schenke und Jan Christoph Greim, die zusammen die Bremer Ausstellung im | |
| Überseemuseum kuratiert haben, beginnen ihren Kampf mit dem übermächtigen | |
| Sujet mit einem optischen Ausrufezeichen: Im knalligen Gelb der | |
| Gossypium-herbaceum- und im Dunkelpink einer welkenden | |
| Gossypium-hirsutum-Blüte sind die ersten zwei Räume angestrichen. Die | |
| Omnipräsenz der Pflanze in der Alltags- und Warenwelt wird in einer Art | |
| Supermarkt-Nachbildung dargestellt. | |
| Manche Beispiele sind naheliegend wie Watte und Windeln, aber was Linters, | |
| also Baumwollfasern, die zu kurz zum Verspinnen sind, in Scheibletten, | |
| Fabrik-Eiskrem oder anderen industriellen Lebensmitteln zu suchen haben, | |
| ist nicht allgemein bekannt. Sie dienen hier, mit Salzsäure verfeinert, als | |
| Füllstoff, Stabilisator und Verdickungs- oder Trennmittel. Auf der Packung | |
| firmieren sie die Zusatzstofffamilie [1][E 460 bis 469]. | |
| Auch kurios: An der Wand hängt ein Kotflügel vom Trabant, denn die | |
| DDR-Kleinwagenkarosserie war aus Duroplast geformt, einem Mix aus Kunstharz | |
| und Zellstoff. Das passt am besten zu den innovativen Ideen, die ganz am | |
| Ende des Rundgangs so etwas wie Zukunftsperspektiven der Baumwolle | |
| entwerfen: ein Kunstnebelsystem, das den Wasserverbrauch der Pflanze | |
| minimiert, ein 3-D-Druckertoner aus Fasern und Bindemittel. | |
| Sie stoßen dort, im letzten Raum, im schönen Kontrast auf die ökologischen | |
| Schwierigkeiten, den Baumwollanbau und -verarbeitung schaffen, den | |
| Pestizid- und Chemikalieneinsatz sowie den horrenden Wasserverbrauch. In | |
| einem genialen interaktiven Modell lässt sich die Verlandung des Aralsees | |
| regelrecht erleben. | |
| Das kulturhistorische Faszinosum, dass vier Weltteile auf die Idee gekommen | |
| sind, Baumwolle zu nutzen, wird etwas lapidar abgehandelt. Aber es gelingt | |
| Schenke und Greim, die dafür notwendige Kulturtechnik des Entkörnens per | |
| Mitmachstation zu erproben und praktische Einblicke in Spinn- und | |
| Färbetechniken zu vermitteln. | |
| Nur, wie geht man mit der ständigen Brutalität um, die laut Historiker | |
| Beckert „die Basis des Baumwollbooms war“? Gibt es dafür jugendfreie | |
| Bilder? | |
| Und was ist mit dem Landraub, der radikalisierten Vertreibung der Creeks | |
| und Cherokee in Nordamerika? Immerhin, die Verbindung und Versippung der | |
| Akteure des aufstrebenden Baumwollhandelsplatzes Bremen mit den | |
| Protagonisten der Versklavung in den Südstaaten der USA wird ausdrücklich | |
| benannt. | |
| Nur anders als vom Kurator Jan Christoph Greim angekündigt, räumt die | |
| Ausstellung nicht mit dem „Mythos der Pflanzer-Villa“ auf: Ein | |
| originalgroßer Türsturz repräsentiert die Pracht der programmatisch weißen | |
| Antebellum-Herrenhäuser. Er ist als eine Art Torbogen mit integriertem | |
| Bücher- und DVD-Regal für südstaatennostalgische literarische und filmische | |
| Klassiker in den Rundgang eingebaut. In einer Vitrine steht das Modell | |
| einer solchen Villa. Dabei ist die übliche Perspektive umgedreht: Nicht das | |
| schmucke Herrenhaus steht im Vordergrund, sondern die Sklavenquartiere | |
| dahinter. | |
| Das ist nachvollziehbar. Denn wie der Kunsthistoriker John M. Vlach Ende | |
| der 1990er gezeigt hat, hatte das System der Sklaverei auch zu einer | |
| Architektur der Sklaverei geführt. Die typische Hüttensiedlung im Hinterhof | |
| war Vlach zufolge komplett ausgerichtet gewesen auf den Kaufmannspalast, | |
| jede Traufhöhe und Dachneigung ein Symbol der Unterwerfung. | |
| Bloß: Dieses Machtgefälle vermag eine reinliche, kleine Puppenstube nicht | |
| einzufangen. Und sie verdeckt das Grauen der Strafsysteme, die sich, | |
| individuell nach dem Sadismus der Haus-Herr*innen geformt, einer | |
| Typologisierung verweigern. | |
| Besser gelingt der Zugriff auf die noch immer verdrängte Rolle der | |
| Baumwolle als ein Motor des Kolonialismus: Gerade Deutschland, die größte | |
| Baumwollindustrie auf dem europäischen Kontinent, wollte die Abhängigkeit | |
| von Importen aus den USA verringern – so, wie es den Briten dank | |
| Inbesitznahme Indiens und Ägyptens gelungen war. Zu diesem Zweck wurde die | |
| einheimische Produktion, die für den deutschen Bedarf zu hochwertige Stoffe | |
| hervorbrachte, beseitigt und durch ein exportorientiertes Zwangsregime | |
| ersetzt mit – ökologisch fatal – monokulturellem Anbau neuer amerikanischer | |
| Sorten. | |
| Das Überseemuseum kann, dank seines einzigartigen Mix aus Ethnologie, | |
| Handels- und Naturkunde hier sehr schön die Insekten vorführen, die dem | |
| Kolonialwirtschaftlichen Komitee daheim im Reich einen Strich durch die | |
| Rechnung gemacht haben, weil sie eine besondere Vorliebe für die | |
| amerikanischen Pflanzen entwickelten. | |
| Und es kann mit Artefakten aus seiner Sammlung an den Maji-Maji-Krieg | |
| erinnern, den diese Politik ausgelöst hat. Er begann 1905, als in Nandete, | |
| im heutigen Tansania, Arbeiter die Baumwollbüsche der Kommunalpflanzung | |
| ausrissen. Er endete 1908: Bis dahin töteten die Schutztruppen 75.000 | |
| Menschen direkt, [2][mehr als doppelt so viele starben infolge der | |
| deutschen verbrannten Erde-Strategie, die zur Hungersnot führte]. | |
| Französische, belgische und britische Kolonisatoren haben dieses System | |
| übernommen – und damit jene Abhängigkeiten geschaffen, dank derer Baumwolle | |
| auch heute ein komplett unfaires Produkt bleibt. Dafür ist die Ausstellung | |
| erschreckend blind. Ein Globus von vier Meter Durchmesser zeigt nur an, wo | |
| überall Baumwolle angebaut wird und [3][wie hoch der Weltmarktanteil ist]: | |
| China vorn, dann USA mit 20 Prozent, Indien, Pakistan, Brasilien … | |
| Dass die USA gemeinsam mit Brasilien für den Erhalt ihrer Marktposition | |
| mithilfe gigantischer [4][Subventionen und auch die EU mit Beihilfen für | |
| griechische und spanische Baumwolle] einen unerbittlichen Handelskrieg | |
| gegen Afrika führen, hätte nicht unerwähnt bleiben dürfen. Denn so stützt | |
| die Schau nur das von hiesigen Baumwollhändlern gepflegte Narrativ, dank | |
| ihres Business hätten Menschen des globalen Südens Arbeit, Geld und Brot. | |
| Dabei verlängert es doch nur den Arm, an dem die hochindustrialisierten | |
| Länder sie verhungern lassen. | |
| 19 Nov 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.lebensmittellexikon.de/z0000610.php | |
| [2] https://archivfuehrer-kolonialzeit.de/history | |
| [3] https://www.rohstoff-welt.de/basiswissen/baumwolle-cotton.php | |
| [4] https://www.medico.de/weisses-gold-ohne-wert-16492 | |
| ## AUTOREN | |
| Benno Schirrmeister | |
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