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# taz.de -- NSU-Ausschuss in Bayern: Wunsch nach Entschuldigung
> Das erste NSU-Opfer hat vor dem Untersuchungsausschuss des bayerischen
> Landtags ausgesagt. Seine Geschichte ist häufig unter den Tisch gefallen.
Bild: Pilsbar „Sonnenschein“ in Nürnberg: Hier explodierte 1999 eine Rohrb…
München taz | An Tagen wie diesen komme alles wieder hoch, sagt Mehmet O.
Aber er freue sich, jetzt die Gelegenheit zu haben, seine Geschichte zu
erzählen. Um 14.36 Uhr betritt er den Weiße-Rose-Saal des bayerischen
Landtags.
Hier tagt schon seit dem Vormittag der NSU-Untersuchungsausschuss. Die elf
Abgeordneten interessieren sich tatsächlich für O.s Geschichte, sehen in
ihm gar einen ihrer zentralen Zeugen. Schließlich ist es eine dieser
Geschichten im NSU-Komplex, die bisher viel zu häufig unter den Tisch
gefallen sind. Dabei ist Mehmet O. nach allem, was man mittlerweile weiß,
das erste Opfer des NSU. Er trägt noch heute die Narben des sogenannten
Taschenlampenanschlags von Nürnberg. Und für ihn ist es noch immer ein
ungewohntes Gefühl, dass man sich für seine Geschichte interessiert.
## Der Anschlag habe „nicht funktioniert“
Das Attentat von 1999 ist einer der zentralen [1][Untersuchungsgegenstände
des Ausschusses], der erst vor knapp zwei Wochen in die Phase der
Beweisaufnahme eingetreten ist. Zugleich ist der Anschlag wohl der mit den
meisten offenen Fragen. Im 2018 zu Ende gegangenen NSU-Prozess gegen Beate
Zschäpe und Co. war er kein Bestandteil der Anklage – aus
verfahrensökonomischen Gründen wollte man ihn nicht in die Anklage mit
aufnehmen.
Dass der Anschlag dem NSU zugeordnet werden konnte, ergab sich ohnehin erst
aus der Aussage von Carsten S., einem von Zschäpes Mitangeklagten. Der
berichtete, die Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hätten ihm
erzählt, dass sie in Nürnberg in einem „Geschäft“ eine Taschenlampe
hingestellt hätten, der Anschlag aber nicht funktioniert habe.
Die besondere Brisanz des Taschenlampenattentats ergibt sich vor allem aus
einer naheliegenden Vermutung: Wäre der Anschlag damals aufgeklärt worden,
hätte es die NSU-Morde nicht gegeben, wären die insgesamt zehn Mordopfer
vielleicht noch am Leben.
Carsten S., der schon kurz nach seinen Diensten für das NSU-Trio aus der
Neonaziszene ausgestiegen war und heute im Zeugenschutzprogramm lebt, hatte
in der vorausgegangenen Sitzung des Ausschusses ausgesagt.
Neue Erkenntnisse brachte seine Befragung jedoch nicht. Er bestätigte im
Wesentlichen seine Einlassungen aus dem Prozess. Die Hoffnung der
Abgeordneten, sie könnten mehr über ein mögliches rechtsextremes Netzwerk
im Nürnberger Raum und seine Kontakte zum NSU und dessen Umfeld erfahren,
erfüllte sich nicht. S. sagte zwar aus, es habe vereinzelt Kontakte
zwischen der rechtsextremistischen Szene in Thüringen und einzelnen
Personen in Bayern gegeben, auch er selbst sei mehrfach, beispielsweise zu
Demonstrationen, in Bayern gewesen. Von einer organisierten Zusammenarbeit
wisse er aber nichts.
Der Bericht von Carsten S. über den Anschlag mit der Taschenlampe deckt
sich jedoch mit dem, was Mehmet O., der diesen Namen nur als Decknamen bei
seinen Auftritten in der Öffentlichkeit benutzt, am 23. Juni 1999 in der
Kneipe Sonnenschein widerfahren ist.
Er hatte damals gerade erst als Wirt die Bar in der Nürnberger
Scheurlstraße übernommen. Eine ganz normale Pils-Bar sei es gewesen,
erzählt Mehmet O., aber für ihn als 18-Jährigen damals die Erfüllung eines
Traums: Endlich selbständig sein. Schon seit zwei Wochen hatte er die
Kneipe geführt – probeweise. Dann stand für ihn fest: Ja, er übernimmt den
Laden. Am Abend zuvor wurde das gefeiert, mit Freunden, Stammkunden, wer
halt gerade kam. Ein richtiger schöner Abend sei es gewesen, sagt O., sogar
Live-Musik hätten sie gehabt.
Am nächsten Morgen kam er wieder in die Kneipe, wollte aufräumen. Im
Mülleimer der Herrentoilette fand er eine Taschenlampe. Er betätigte den
Schalter. „In dem Moment hat sich mein ganzes Leben geändert“, sagt O. bei
dem Pressegespräch und kämpft mit den Tränen, muss eine Pause machen. O.
wurde von einer Druckwelle quer durch den gesamten Gastraum geschleudert.
Dass er diesen Tag überhaupt überlebt hat, lag lediglich an einem
Konstruktionsfehler der Attentäter. „Ich bin so dankbar, dass meine Mutter
nicht in dem Laden war.“ Denn eigentlich habe die Mutter das Saubermachen
übernehmen und ihn zum Einkaufen schicken wollen.
Wochenlang habe er nicht selber essen oder sich waschen können. Vor allem
war der die Angst. Trachtete ihm da jemand nach dem Leben? Warum? Wer? War
er nun in ständiger Gefahr? Auf die Unterstützung der Ermittler konnte
Mehmet O. in dieser Zeit nicht zählen. Sie sahen in dem Wirt zunächst mal
weniger ein Opfer als einen Täter. Sie vermuteten, dass er in
Schutzgeldgeschäfte verwickelt sei. Ohnehin hielt sich ihr Ermittlungseifer
offenbar sehr in Grenzen. Statt versuchten Mord sahen sie in der Tat
lediglich eine „fahrlässige Körperverletzung“.
## „Ich hätte ihnen gern in die Augen geschaut“
Für O. war es nicht mehr möglich, weiterhin in Nürnberg zu leben. Er zog
weg, versuchte, sich ein neues Leben aufzubauen, was die ersten Jahre mehr
schlecht als recht gelang. Er lebte in einer anderen Stadt, ohne Familie,
ohne Freunde. Tagsüber arbeitete er, den Rest der Zeit saß er in seiner
Ein-Zimmer-Wohnung.
Irgendwann standen dann in der neuen Stadt zwei Polizistinnen vor der Tür.
Er möge doch auf die Polizeiwache kommen, das bayerische LKA wolle mit ihm
sprechen. 2013 war das, seine Aussage von 1999 müsse erneuert werden, hieß
es. Die Kriminaler legten O. bei dem Termin eine Fotomappe vor, ob er
jemanden von den Abgebildeten erkenne. Und tatsächlich kam ihm das Bild
einer Frau sehr bekannt vor. Er musste sie damals in seiner Kneipe gesehen
haben. O. sagte dies den Beamten, die bedankten sich, packten zusammen, O.
hörte nie wieder von ihnen.
Was sie ihm alles nicht erzählten, erfuhr der Mann erst fünf Jahre später,
als ihn ein Reporter des Bayerischen Rundfunks kontaktierte: Mehmet O. war
das wohl erste Opfer des NSU, die Frau, die er auf dem Bild erkannt hatte,
war Susann Eminger, die Frau [2][von André Eminger, einem der Angeklagten
im NSU-Prozess.] O. hatte sich mit dem Prozess damals nicht beschäftigt.
„Ich wusste gar nicht, [3][wer Beate Zschäpe ist].“ Nun ergab plötzlich
alles Sinn. Nach 19 Jahren. „Ich finde es schade, dass ich nicht beim
Prozess sein konnte“, sagt O. heute. „Ich hätte ihnen gern in die Augen
geschaut.“
Große Hoffnungen, dass der NSU-Ausschuss nach all den Jahren noch neue
Erkenntnis an den Tag bringt, hat Mehmet O. dennoch nicht. „Was ich mir
wünsche, ist wenigstens eine Entschuldigung vom Staat.“
24 Oct 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Dominik Baur
## TAGS
Zschäpe
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