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# taz.de -- Verfassungsschutzbericht zum NSU: Die Akten sind frei
> Ein Bericht zur Arbeit der hessischen Verfassungsschützer im NSU-Fall
> sollte geheim bleiben. Frag den Staat und das „ZDF Magazin Royale“ haben
> ihn geleakt.
Bild: Die Schwarz-Grüne Landesregierung in Hessen wollte die NSU-Akten unter V…
Berlin Zweimal hat der Verfassungsschutz im Zusammenhang mit dem
sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), der [1][zwischen 2000
und 2007 zehn Menschen ermordete], eine erstaunliche Geschwindigkeit an den
Tag gelegt – und zwar jeweils erst kurz nach der Selbstenttarnung des NSU
am 4. November 2011. Der erste Vorgang hatte weitreichende Folgen auch für
den zweiten.
Am 10. November ließ ein Referatsleiter des Bundesamts für
Verfassungsschutz die Akten von sieben V-Leuten aus der Thüringer
Neonazi-Szene vernichten. Und am 14. November 2011 begann man im hessischen
Amt für Verfassungsschutz mit der Sichtung „relevanter Akten“ rund um das
Kerntrio Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, „um mögliche Hinweise auf
die rechtsterroristische Gruppierung zeitnah zu ermitteln“.
Was bei dieser Prüfung herauskam, wurde „regelmäßig, aber nicht immer
umgehend“ an das hessische Innenministerium übermittelt. Um etwas mehr
Struktur in die Aufarbeitung zu bekommen, verpflichtete Hessens damaliger
Innenminister Boris Rhein (CDU) das Landesamt, einen Bericht zu seiner
Arbeit im Fall NSU zu erstellen. Das Ergebnis lag im November 2014 vor. Und
sollte für 120 Jahre geheim gehalten werden. Nach dem [2][Mord am Kasseler
Regierungspräsidenten Walter Lübcke] im Jahr 2019, heftiger öffentlicher
Kritik an der Geheimhaltung und jahrelangen Anstrengungen von
Aktivist*innen und Hinterbliebenen der Opfer („Gebt die Akten frei!“)
wurde die Frist auf 30 Jahre herabgestuft – mit Möglichkeit der
Verlängerung. Damit hätte der Bericht frühestens im Jahr 2044 öffentlich
werden können.
Seit Freitag ist er nun aber [3][frei im Internet verfügbar]: Die Sendung
„ZDF Magazin Royale“ von Jan Böhmermann und das Portal Frag den Staat haben
den Bericht zugespielt bekommen und – mit wenigen Schwärzungen – für die
Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Daraus stammen auch die obigen Zitate.
Was steht drin? Details über die Morde des NSU oder über weitere Mittäter
erfährt man praktisch nicht. Das liegt zum einen daran, dass der Fokus auf
der Auswertung liegt, darauf, ob der Verfassungsschutz seine Arbeit richtig
gemacht hat. Konkrete Informationen zu Personen und Vorgängen erhält man
nur wenige, teils wird lediglich auf Aktenzeichen verwiesen. Zum anderen
liegt es daran, dass der Verfassungsschutz nach eigenen Angaben selbst kaum
wesentlich neue Erkenntnisse aus seinem Aktenstudium gewonnen hat.
Das wiederum hat auch zwei wesentliche Ursachen: „Aus dem Bereich der
Auswertung konnte der Verbleib von 541 Aktenstücken … nicht geklärt
werden“, heißt es im Bericht. Über 500 möglicherweise sehr relevante Akten
waren also einfach nicht auffindbar. Ob auch die vom Bundesamt
geschredderten dazu zählen, ist nicht bekannt. „Eine abschließende
Sicherheit, dass Personen, Objekte und Ereignisse“ im Zusammenhang mit dem
NSU stehen, ließe sich aber nur „durch eine Sichtung der nicht auffindbaren
Aktenstücke“ erzielen, resümiert der Bericht.
Doch das ist nicht die einzige Verfehlung, die dort aufgelistet wird. Akten
wurden chaotisch geführt, sodass eine Person teils bis zu 15 verschiedene
Aktenzeichen hatte, die nicht alle am gleichen Ort abgeheftet wurden.
Interessanten Hinweisen oder Anhaltspunkten sei „nicht immer konsequent
nachgegangen“ worden. Auch nach Hinweisen, dass als rechtsextrem bekannte
Personen Waffen besäßen, wurde häufig nicht kontrolliert, ob diese
rechtmäßig erworben worden waren und ihre Besitzer über einen Waffenschein
verfügten.
Der Bericht resümiert selbstkritisch, aber zurückhaltend: Die „Aktenführung
und die damit verbundene Dokumentation von Arbeitsschritten im LfV Hessen
[waren] insbesondere in den 1990er Jahren nicht gut.“
Härter fällt das Urteil der Rechercheplattform Exif Recherche aus, die den
Bericht detailliert analysiert hat: Der Geheimbericht zeige eklatante
Analyse- und Wissensdefizite des hessischen Inlandsgeheimdienstes. „Den
Mitarbeitenden fehlt offensichtlich die Kompetenz, die
Informationsbausteine zu einem Gesamtbild zusammenzufügen, rechten Terror
zu erkennen und dessen Netzwerke zu begreifen.“ Das übernimmt dann Exif
Recherche und geht [4][auf der eigenen Webseite] detailliert auf Personen
und Fälle ein, die „nahezu alle zum Zeitpunkt der Erstellung des Berichts
bereits öffentlich bekannt oder Teil von Ermittlungsverfahren“ waren.
Auffällig an dem Bericht des hessischen Verfassungsschutzes ist auch, dass
manche grundlegende Fakten zum NSU nicht stimmen oder zurechtgebogen
wirken. So heißt es zu Beginn, der NSU sei am 10. November 2011
bekanntgeworden. Tatsächlich war die Selbstenttarnung am 4. November, als
Böhnhardt und Mundlos tot in ihrem Wohnmobil in Eisenach aufgefunden wurden
und Zschäpe ihre Wohnung in Zwickau abbrannte und Bekennervideos versandte.
Statt von einer Selbstenttarnung zu sprechen, heißt es im Bericht, das
Auffliegen des NSU sei das Ergebnis polizeilicher Ermittlungen gewesen. Und
schließlich wird mehrfach von einem Trio gesprochen, ohne anzuerkennen,
dass der NSU ein Netzwerk war, das über die zwei Uwes und die mittlerweile
verurteilte Beate Zschäpe hinausging.
29 Oct 2022
## LINKS
[1] /Jahrestag-der-NSU-Aufdeckung/!5722528
[2] /Rechter-Anschlag-auf-CDU-Politiker/!5873721
[3] https://nsuakten.gratis/
[4] https://exif-recherche.org/?p=10370
## AUTOREN
Johanna Treblin
## TAGS
Schwerpunkt Rechter Terror
Verfassungsschutz
Beate Zschäpe
GNS
Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)
Rechtsextremismus
Zschäpe
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NSU 2.0
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