# taz.de -- Die Hamburger Ausstellung „Atem“: Flüchtige Lebenslieferantin | |
> Die Ausstellung „Atmen“ in der Hamburger Kunsthalle fragt nach der | |
> Darstellbarkeit von Luft. Den Zugang zu ihr problematisiert sie als | |
> Politikum. | |
Bild: Jagd nach Frischluft: Die Aktionskünstlerin Vibha Galhotra in Delhi (Bre… | |
Natürlich ist der Atem ein Thema für die Kunst. Einerseits ist er ewig | |
währendes Symbol für Geist und Seele. Die antiken Göttern machten damit | |
Pygmalions Skulptur Galathea lebendig, auch in der jüdisch-christlichen | |
Schöpfungsgeschichte hat Gott dem Menschen den Odem des Lebens eingehaucht. | |
Und Buddha nutzte den Atem, um durch Meditation Erleuchtung zu erlangen. | |
Anderseits ist er Metapher für Vergänglichkeit, Leben und Tod – denn er | |
kann erlöschen. | |
Aber er ist auch ein Problem für die KünstlerInnen: Wie etwas so | |
Flüchtiges, Feinmaterielles darstellen? Wie löste, wie löst die bildende | |
Kunst diese Herausforderung, danach fragt eine große, epochenübegreifende | |
Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle. Die Antwort: vom Rand aus, so wie | |
es die AstronomInnen bei den [1][Schwarzen Löchern] tun. Man geht deduktiv | |
vor, nähert sich dem Phänomen von seiner Wirkung her und zieht dann | |
Rückschlüsse auf das Verborgene. | |
So haben es die alten Meister gehalten, etwa der in [2][Caravaggios] | |
Licht-Schatten-Tradition stehende Godfried Schalcken: Auf seinem 1696 | |
entstandenen Gemälde eines Jungen, der in eine Flamme bläst, sieht man die | |
aufgeblähten Wangen und die mäandernde Flamme, aber den Luftzug natürlich | |
nicht. Und beim Erlöschen von Luft und Licht verschwände auch das | |
Bildmotiv, versänke im Dunkel. | |
Die Wirkung von Luftbewegungen hat auch der Maler Claude-Joseph Vernet 1782 | |
im seiner „Küste bei Sturm“ verewigt, mit peitschender Gischt und einem | |
schlingernden Schiff. Einen Hauch materieller wirkt der Odem des | |
Westwind-Gottes Zephir in Botticellis Renaissance-Gemälde „Geburt der | |
Venus“. Andere, wie der Norweger Johann Christian Dahl, haben einfach | |
Wolken gemalt. Und Giuseppe Penone hat 1975 für die Fotoserie „Soffi“ wei�… | |
Partikel in einen Wald geblasen und fotografiert, wie sich die „Form“ des | |
Hauchs verändert, wenn sie auf Hindernisse trifft. Das Ergebnis, wenig | |
überraschend: Sie umfließt die Bäume, diffundiert um Materie herum, füllt | |
den Raum zwischen den Dingen und zwischen den Menschen. | |
Die stehen durch ihr Atmen ja im direkten Luftaustausch. Daran kann man in | |
der Hamburger Ausstellung sogar partizipieren: Wenn man weiß, dass Lee | |
Ufans kalligrafisch wirkende Bilder – graue Quadrate auf weißem Grund – in | |
einem Strich parallel zum Atemrhythmus gemalt wurden, kann man mitatmen und | |
nachspüren, wie der Atem die Bewegung führte. | |
Es geht aber auch beunruhigender: Laut und bedrohlich schallt ein Keuchen | |
durch die Ausstellung. Hat man die Quelle gefunden, sieht man Valie Export | |
in einem Video „Ich liebe dich“ sagen, immer frenetischer, gewalttätiger. | |
Womit der Bogen geschlagen wäre zum Atem als Bedingung für Laute, Sprache, | |
auch Musik: Sehr langsam geht in David Zink Yis Video ein [3][Trompeter] | |
vom Atmen in das hohe C über. Nah an Bild und BetrachterIn spielt er, | |
solange der Atem reicht, und man zittert mit, wie lange das wohl gut geht. | |
Unweit davon: zwei Trompeten von Cornelia Parker, eine intakt und eine | |
platt wie ein Luftballon, dem die Luft entwich. Keine Luft – kein Ton. | |
Und kein Leben. Auch von denen, denen man die Selbstverständlichkeit des | |
Atmens nahm, erzählt die Ausstellung: vom Erhängen, Guillotinieren, | |
Ersticken handeln alte Gemälde, neue Fotos und Installationen. Dirk | |
Reinartz etwa dokumentiert Reste einer Gaskammer im einstigen [4][KZ | |
Stutthof.] Lucinda Devlin hat eine [5][US-amerikanische Gaskammer] für zum | |
Tod Verurteilte fotografiert – inklusive Zuschauertribüne. Und „I can’t | |
breathe“ waren die letzten Worte des schwarzen US-Amerikaners [6][George | |
Floyd], bevor er 2020 starb, weil ihm ein Polizist die Luft abdrückte. | |
Das Zitat ist zum Synonym rassistisch motivierter Polizeigewalt geworden, | |
Ende des Jahres wird Jenny Holzer Floyd damit ein Denkmal setzen: Dann wird | |
nachts ein Text an die Kunsthallen-Fassade projiziert: „Say his name – | |
George Floyd. I can’t breathe man – please – please let me stand – plea… | |
I can’t breathe“. | |
## Verletzliche Menschheit | |
Aber die Botschaft des Werks reicht weiter: Atemluft darf weder Privileg | |
noch Eigentum sein – wessen auch immer. Sie habe entdeckt, sagt die | |
indische [7][Aktionskünstlerin Vibha Galhotra], dass auf Amazon Atemluft | |
verkauft werde. Genau daran fehlt es zum Beispiel in Delhi, der Stadt mit | |
der weltweit schlechtesten Luft. Mit Atemschutzmaske und Schmetterlingsnetz | |
steht die „Ökofeministin“ [8][Galhotra] auf einer smogumwaberten Müllkippe | |
und „schnappt“ nach Luft. Oder sie befährt den durch die Stadt fließenden | |
heiligen Fluss Yamuna, in den massig Industrie- und Privatabwässer fließen | |
und in dem AnwohnerInnen trotzdem zur religiösen Reinigung baden, wie sie | |
einmal erzählte. | |
Von einer „grundlegenden Verletzlichkeit als Wesen der Menschheit“ spricht | |
in diesem Kontext der kamerunische Historiker und Philosoph [9][Achille | |
Mbembe.] Er fordert die Einführung eines allgemeinen Rechts auf Atem. Im | |
Ausstellungskatalog schreibt er vom „Ausverkauf des Bodens durch | |
tyrannische und korrupte Regimes und die Gewährung von Konzessionen an | |
große Lebensmittelkonzerne“. | |
Ein Weiteres tut der ganz konkrete Krieg, durch Phosphorbomben oder | |
Giftgas. Das Kollektiv „Forensic Architecture“ aus KünstlerInnen, | |
ForscherInnen und JournalistInnen, das Menschenrechtsverletzungen, | |
staatliche Gewalt und Umweltverbrechen aufdeckt, hat in einer riesigen | |
Videoinstallation toxische Wolken dokumentiert, wie sie beim Abwurf von | |
[10][Chlorbomben auf Syrien] entstanden oder beim Einsatz von Tränengas in | |
Hongkong und Istanbul. | |
Krieg gegen die Atemluft kann aber auch Mini-Existenzen wie das Coronavirus | |
führen. Als hätte er das vorausgeahnt, hat Makrus Schiwald 2017, lange vor | |
Ausbruch der Pandemie, auf Auktionen Porträtbilder alter – ungenannt | |
bleibender – Meister ersteigert. Die darauf Gezeigten stattet er mit Mund- | |
und Nasenmasken aus, Zeichen von Distanz und Misstrauen gegenüber der | |
restlichen Welt. | |
Zum lange überlieferten „bösen Blick“ ist der „böse Atem“ gekommen. … | |
Anhauch kann ein Mordinstrument sein. Oder aber längst begangene Morde | |
sichtbar machen: Neun kleine runde Spiegel hat der kolumbianische Künstler | |
Oscar Muñoz nebeneinander gehängt. Darin sieht man zunächst sich selbst. | |
Tritt man aber näher und haucht auf die Spiegel, erscheinen eingravierte | |
Porträts von Menschen, den Opfern von [11][politisch motivierten Morden]. | |
Das ist klug gedacht, passt aber kaum in Coronazeiten mit ihren | |
Hygienebedürfnissen. Auch sind MuseumsbesucherInnen doch darauf | |
konditioniert, Abstand zu den Exponaten zu halten, damit nicht die | |
Alarmanlage schrillt. | |
Da beäugt man lieber Giuseppe Penones vasenartige Skulptur „Soffio“, die | |
jenen Raum abbildet, den der Atem im Körper ausfüllt, das Volumen einer | |
Lunge nämlich. Geht also doch, das Sichtbarmachen – poetisch. Noch zarter: | |
David Claerbouts Foto zweier Vögel, dies- und jenseits einer | |
Fensterscheibe. An einer Stelle ist die Scheibe beschlagen, nur ganz | |
leicht; da, wo einer der Vögel hingeatmet hat. | |
30 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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