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# taz.de -- Einer von 13,8 Millionen Betroffenen: Der Armut nicht klein beigeben
> Die Bewegung #Ichbinarmutsbetroffen ruft zum Sozialprotest auf. Die taz
> hat einen der Aktivist*innen getroffen.
Irgendwann hat Andreas Wertheim entschieden, sich von seiner Armut nicht
unterkriegen zu lassen. Heute ist er [1][Aktivist in der Bewegung
#Ichbinarmutsbetroffen]. Er kämpft gegen soziale Ungleichheit, hat
verstanden, dass seine Situation kein persönliches Versagen ist. Es gab
aber eine Zeit, da habe er sich Vorwürfe gemacht wegen seiner Armut und
seiner Abhängigkeit vom Staat. „Es ist schlimm, wenn man denkt, dass man
der Gesellschaft nichts zurückgeben kann“, sagt er.
Wertheim sitzt am Esstisch seiner Wohnung in der Altstadt von Brandenburg
an der Havel und dreht sich eine Zigarette. Die Wände des Zimmers sind
weinrot gestrichen, auf dem Fensterbrett steht eine Buddha-Statue. Die
Meditation habe ihm mit der Depression geholfen, sagt er. Seit mehr als 20
Jahren ringt er mit dieser Krankheit. Inzwischen ginge es besser, doch
belastende Situationen, wie es sie für Armutsbetroffene viele gebe, könnten
die Krankheit wieder auslösen. „Sich zu überlegen, wie viele Pfandflaschen
brauchst du noch, um was einzukaufen. Dieser Druck, das geht an die
Substanz“, sagt er.
Wertheim kämpft auch mit einer chronischen Hautkrankheit. Die roten Pusteln
auf seinem Gesicht sind nicht zu übersehen. Oft hat er Schmerzen, die ihn
dann „wie Stromschläge“ durchzucken. Doch auch die Medikamente dagegen
kosten Geld – 5 Euro Eigenanteil pro Packung. Als er kürzlich für fünf Tage
ins Krankenhaus musste, kostet das 50 Euro Eigenanteil. Er muss
Ratenzahlung beantragen – und wieder steigen die Schulden. „Krankheit macht
arm und Armut macht krank“, sagt Wertheim frustriert.
## Wertheim ist kein Einzelfall
Andreas Wertheim ist beileibe kein Einzelfall. Er ist einer von 13,8
Millionen Menschen, die laut dem letzten Armutsbericht des Paritätischen
Wohlfahrtsverbands bundesweit von Armut betroffen sind, also weniger als 60
Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung haben. 2012 hat ein Amt
Wertheim wegen seiner Depression als dauerhaft arbeitsunfähig und als zu 50
Grad schwerbehindert eingestuft. Da war er gerade 38 Jahre alt, seither
bezieht er Erwerbsminderungsrente, welche das Sozialamt auf den Regelsatz
der Grundsicherung aufstockt.
Von Grundsicherung zu leben, das bedeutet, jeden Monat mit 449 Euro
auszukommen. Das sind täglich etwa 5 Euro für Essen und nicht mehr als 17
Euro monatlich für Gesundheit. Für Bildung sieht die amtliche Bemessung des
Regelsatzes für einen ganzen Monat gerade einmal 1,62 Euro vor. „Ein Hohn“,
findet Wertheim.
Nächstes Jahr, [2][wenn Hartz IV Bürgergeld heißen soll], wird der
Regelsatz auf 502 Euro erhöht. Auch das wird die enormen Preissteigerungen,
mit denen in Zeiten von Inflation und Energiekrise längst nicht nur
armutsbetroffene Menschen konfrontiert sind, aber kaum ausgleichen können.
„Auch vor Corona war nicht alles einfach, aber es ging schon irgendwie“,
sagt Wertheim. „Ich esse inzwischen fast nur noch Nudeln mit Tomatensoße
oder eine Dose Erbsensuppe.“ Früher hätte er sich auch mal einen Kuchen
backen können, das sei immer ein „kleines Highlight für die Seele“ gewese…
Sich das nicht mehr leisten zu können, das schmerzt ihn.
Schon länger will Wertheim seine Situation nicht mehr einfach hinnehmen.
Privat beginnt er an einer Petition zu schreiben, welche die Situation von
Menschen mit Erwerbsminderungsrende anklagen soll. Bei der Recherche stößt
er dann auf den Twitter-Hashtag #Ichbinarmutsbetroffen. Seit Mai diesen
Jahres teilen Menschen dort ihre Armutserfahrungen. Sie berichten von
Existenzängsten, Überlebensstrategien und klagen eine Berichterstattung an,
die Armut als individuelles Versagen darstellt. Also habe er sich bei
Twitter angemeldet. „Um mitreden zu können, zu schauen, wie ich meinen
Beitrag leisten kann, damit sich was ändert“, sagt er.
Seit Mai ist aus dem Hashtag eine Bewegung geworden, mitsamt Ortsgruppen,
einer Aktions- und einer Presse-AG. Möglich wurde dies durch die
Unterstützung der OneWorryLess Foundation, die auf Twitter [3][schon seit
einigen Jahren Direkthilfe für Armutsbetroffene] organisiert.
Unter Hashtags wie #Technikpaten oder #Bratenpaten sammelt die Stiftung
Gelder, um Armutsbetroffene mit dringend benötigten Geräten oder mit
Lebensmitteln am Monatsende auszustatten. Nun unterstützt sie die Bewegung,
stellt Infrastruktur bereit, finanziert den Flyerdruck. Für den Protest am
Samstag (siehe Kasten) organisiert sie #Ticketpaten, die Armutsbetroffenen
die Anreise nach Berlin ermöglichen.
Seit Monaten stellen sich die Aktivist:innen alle zwei Wochen auf den
Alexanderplatz. Dort halten sie Schilder hoch, auf denen ihre Tweets zu
lesen sind. Sie wollen in Kontakt kommen, mit Menschen über Armut reden,
deutlich machen, dass Armut etwas anderes bedeutet, als es zum Beispiel
Reality-TV-Shows darstellen. Bisher sind Passanten eher zögerlich, dieses
Gesprächsangebot anzunehmen. Auch Wertheim war schon dabei – das
9-Euro-Ticket machte die Fahrt nach Berlin möglich. „Wenn es uns gelingt,
nur die Sichtweise von einer Person auf Armut zu erweitern, ist das ein
Erfolg“, sagt er.
[4][Bisher blieben diese Proteste aber überschaubar]. Für die Kundgebung am
kommenden Samstag um 13 Uhr mobilisiert die Bewegung nun größer, auch der
Paritätische Wohlfahrtsverband und [5][das Protestbündnis Genug ist Genug]
haben zur Teilnahme aufgerufen. Wie viele kommen werden? „Wenn es nach mir
ginge, es sollten 13,8 Millionen sein“, sagt Wertheim.
14 Oct 2022
## LINKS
[1] /Armutsdiskussion-bei-steigender-Inflation/!5853997
[2] /Abschied-von-Hartz-IV/!5878162
[3] /Twitter-Hilfe-fuer-Arme/!5569278
[4] /Proteste-gegen-Energiekrise-Massnahmen/!5883788
[5] /Sozialproteste-in-Berlin/!5876518
## AUTOREN
Timm Kühn
## TAGS
Schwerpunkt Armut
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taz Bewegung – die Kolumne
Schwerpunkt Armut
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