# taz.de -- Die SPD bei der Niedersachsenwahl: Der Normale aus Hannover | |
> Stephan Weil gewinnt gegen den Bundestrend für die SPD die Wahl in | |
> Niedersachsen. Ihn umweht fast etwas Merkelhaftes. | |
Bild: Auffällig unauffällig: Stephan Weil vor der Stimmabgabe zur Landtagswahl | |
BERLIN taz | Die SPD hat die erste Wahl, die komplett unter dem Eindruck | |
von explodierenden Energiepreisen und Existenzängsten stand, nicht | |
verloren. Das ist für das Willy-Brandt-Haus in Berlin eine echt gute | |
Nachricht. Generalsekretär Kevin Kühnert lobt dort „den klaren Wahlsieg von | |
Stephan Weil“ – womit auch klar ist, wer das Copyright für diesen Erfolg | |
hat. Stefan Politze, Vizechef der SPD-Fraktion im Landtag in Hannover, | |
sagte am Sonntagabend der taz: „Das ist ein sehr gutes Ergebnis, deutlich | |
besser als der Bundestrend.“ Und es sei das Verdienst von Weil. | |
In Berlin ist in der Tat einiges schiefgelaufen. Die chaotische Gasumlage, | |
beschlossen, verändert, [1][abgeschafft, bevor sie eingeführt wurde], ist | |
ein Beispiel für ein Krisenmanagement, das alles noch schlimmer machte. | |
Obwohl bundespolitische Themen diese Wahl prägten wie selten zuvor – Scholz | |
kann sich diesen Erfolg nicht ans Revers heften. Es ist der Sieg von | |
Stephan Weil, 63. Der Abstand zwischen den SPD-Umfragen im Bund bei 17 | |
Prozent und dem SPD-Zuspruch in Niedersachsen von über 30 Prozent ist | |
spektakulär. | |
Weil ist mittig, bedächtig bis an die Grenze des Konturlosen. Ein Mann, bei | |
dem nur seine Unauffälligkeit auffällig zu sein scheint. Wie hat er, wie | |
hat die SPD diese Wahl gewonnen? | |
Der Erfolg hat mehrere Ursachen und Motive, die sich überlagert und | |
gegenseitig verstärkt haben. Die SPD hat komplett auf Weil gesetzt, der | |
seit neun Jahren regiert. Landtagswahlen ähneln immer mehr | |
Bürgermeisterwahlen, das Persönliche zählt mehr als das Programm. Auch als | |
die SPD im Bund mal in Umfragen bei 14 Prozent stand, war Weil in | |
Niedersachsen ungebrochen beliebt. | |
## Weils Machtinstinkt | |
Angesichts multipler Krisen wählt man oft, was man kennt. Diesen Effekt | |
konnte man schon bei Landtagswahlen von Stuttgart über Magdeburg bis | |
Schwerin beobachten – die Siege für die AmtsinhaberInnen fielen eindeutig | |
aus. Trotzdem war dieser Erfolg nicht selbstverständlich. Mitentscheidend | |
war Weils oft übersehener Instinkt für Macht und Momente. | |
Weil hängt das hart erarbeitete Image an, lieber nichts zu tun, als etwas | |
zu riskieren. In der langwierigen Post-Agenda-2010-Debatte der SPD glänzte | |
Weil durch Abwesenheit. Scholz machte sich für den Mindestlohn stark, die | |
SPD in NRW gegen Hartz IV. Vorstöße aus Niedersachsen sind nicht | |
erinnerlich. | |
Vor der Wahl fiel das Bräsige, Zögernde, Passive gerade noch rechtzeitig | |
von dem Ministerpräsidenten ab. Als die SPD in Berlin noch an der | |
fehlkonstruierten Gasumlage klebte, warb Weil gebetsmühlenhaft und geduldig | |
auf Erkenntnisse im Kanzleramt hoffend für einen Gaspreisdeckel und die | |
Aussetzung der Schuldenbremse. Der Ministerpräsident positionierte sich | |
damit gegen Scholz – ein riskantes Spiel. Es ging auf. | |
Weil begriff nach einer Demo von existenzbedrohten Bäckern in Hannover | |
schneller als das Kanzleramt, dass jetzt schnelle Hilfe her muss. Den | |
Dissens zu Scholz und der Ampel trug Weil im Ton verbindlich, aber | |
unbeirrbar vor. „Wann, wenn nicht jetzt, haben wir eine Notlage?“, so seine | |
Botschaft. Und: „Es geht nicht um links oder rechts, sondern um gesunden | |
Menschenverstand.“ | |
Dieses Konzept – eine eher linksetatistische, staatsinterventionistische | |
Krisenpolitik, die aber nicht links heißen darf – kam an. Der ansonsten | |
ambitionslos wirkende Niedersachse stellte sogar einen eigenen | |
Gaspreisdeckel vor. Damit nahm der [2][SPD-Mann auch seinem | |
CDU-Kontrahenten Bernd Althusmann] den Wind aus den Segeln. Wahrscheinlich | |
hatte Weil aus der Niederlage der SPD in NRW gelernt. Dort hatte die | |
Landes-SPD auf das Nein der Bundesregierung zu Hilfen für Rentner, die von | |
dem Energiegeld im Frühjahr noch ausgeklammert wurden, tatenlos und stumm | |
verzweifelt reagiert – die CDU in NRW sammelte bei RentnerInnen munter | |
Stimmen. | |
Der Sieg verdankt sich auch der Landespartei, die zwischen Emden und | |
Osnabrück noch über intakte Strukturen verfügt und in Vereinen, | |
Gewerkschaften und Organisationen wie der AWO lebensweltlich verankert ist. | |
## Große Koalition unwahrscheinlich | |
Und wie geht es weiter? Stefan Politze, Vizechef der SPD-Fraktion, sagte am | |
Sonntagabend der taz: „Wir schauen, ob es jenseits der Großen Koalition | |
Möglichkeiten gibt.“ Im Klartext: Die SPD wird mit den Grünen regieren – | |
oder wenn das knapp nicht reicht, eine Ampel mit der FDP anstreben. Weil | |
kann dann 14 Jahre im Amt sein – so lange wie noch nie jemand in Hannover. | |
Es ist ein wenig wie bei Merkel. Auch die Kanzlerin wurde lange wegen ihrer | |
scheinbaren Durchschnittlichkeit und der völligen Abwesenheit von | |
charismatischem Funkeln unterschätzt. | |
Doch je länger ihre Macht anhielt, umso mehr war die Deutungselite geneigt, | |
gerade in dem Graumäusigen, scheinbar Mittelmäßigen eine Aura des | |
Rätselhaften, Enigmatischen zu entdecken, das man nur noch bestaunen und | |
kaum noch vollständig verstehen konnte. Auch Weil wurde in Porträts in | |
letzter Zeit als großer Schweiger, besonders gewiefter Taktiker und Sphinx | |
skizziert. | |
Der nüchterne Niedersachse kommentiert das Rätselraten um seinen Erfolg | |
ganz clever. Jürgen Klopps Satz „I am the normal one“, „fand ich sehr | |
sympathisch“, so Weil kurz vor der Wahl. Dieses Spiel mit seinem eigenen | |
Ärmelschoner-Image ist keineswegs bieder, es zeigt vielmehr eine vitale | |
Fähigkeit zu Selbstinszenierung und Understatement. Klopp mag alles | |
Mögliche sein – ein normaler Trainer ist er nicht. | |
9 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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