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# taz.de -- Nach der Wahl in Niedersachsen: Lob der biederen Normalität
> Die gesellschaftliche Mitte zeigt sich auch in der Krise stabil – trotz
> großer AfD-Gewinne in Niedersachsen. Die Problempartei in der Ampel ist
> die FDP.
Bild: Haben schon bessere Wahlabende erlebt: FDP-Mitglieder am Sonntagabend in …
Die Prognose, dass die bundesdeutsche Demokratie, sowieso ein Geschenk der
Alliierten, nur für schönes Wetter taugt, gehört seit Jahrzehnten zum
festen Glaubensbekenntnis der deutschen Linken. Nur der Wohlstand habe die
Deutschen zivilisiert, [1][so die immer mit einer gewissen Angstlust
verbreitete Idee]. Gekaufte Demokraten, bestochen mit Bequemlichkeit und
nicht aus Überzeugung oder Stolz auf Revolutionen, die hierzulande entweder
ganz ausblieben oder auf halber Strecke liegen blieben. Falls sich der
schöne Wohlstand mal verflüchtigen sollte, dann werde man schon sehen, was
unter der Decke nur schlummerte und sein grässliches Haupt wieder erheben
werde.
[2][47 Prozent der BürgerInnen sind derzeit unzufrieden] mit der
Demokratie. Die AfD hat am Sonntag in Niedersachsen fast 12 Prozent
bekommen. Die FDP spielt, wenn man Christian Lindner recht versteht, mit
der Überlegung, endgültig Opposition in der Regierung zu werden. Die
BürgerInnen würden die FDP ja fälschlicherweise für eine linke Partei
halten, daher gelte es, die Rolle der Liberalen in der Ampel zu überdenken
– was wohl eine Drohung sein soll. Die Regierung in Berlin wankt, zumindest
ein wenig, der rechte Rand wird stark. Götterdämmerung der Demokratie? Ist
es nun so weit?
Keineswegs. Denn das AfD-Ergebnis relativiert sich, wenn man die Umstände
betrachtet. [3][60 Prozent der WählerInnen in Niedersachsen fürchten], dass
sie ihre Rechnungen nicht bezahlen können. Diese Krise ist tiefer und
existenzieller, als es die Finanzkrise 2009 war. Die Ampel hat darauf mit
der Gasumlage konfus reagiert – und Ängste nicht gedämpft, sondern
verstärkt. Die Panik hat Teile der Mittelschicht erreicht. All das sind
perfekte Bedingungen für den rechtsnationalistischen Agitprop, der
Friedenssehnsucht, Ängste vor dem sozialen Absturz mit „Deutschland
zuerst“-Parolen und xenophoben Affekten verwebt. Dafür sind 12 Prozent dann
doch nicht so viel.
Ja, sie sind ein Signal an die Ampel, schneller und klarer die Krise zu
dämpfen. Aber mehr als 80 Prozent haben – [4][wenn auch bei niedriger
Wahlbeteiligung] – die Mitte-Parteien gewählt – SPD, Konservative und
Liberale, also jenes Zentrum, das seit Jahrzehnten mit erstaunlicher
Kontinuität die deutsche Politik prägt. Niedersachsen hat nicht für die
aggressive völkische Retro-Normalität der AfD votiert, sondern für
rot-grüne Normalität – zivil und etwas bieder, sachlich und aufregungsarm.
In Italien und Schweden, Frankreich und Polen pflügen Rechtsautoritäre und
Postfaschisten die politische Landschaft um und sind erfolgreicher als
hierzulande. Das ist kein Grund für Selbstzufriedenheit – aber doch ein
Grund, die Rhetorik des linken Alarmismus, der das Ende der Demokratie
nahen sieht, mal herunterzupegeln und die „Der Schoß ist fruchtbar
noch“-Lyrik einzustellen.
Zwei Parteien haben im Vergleich zu 2017 gewonnen – die Grünen und AfD. Die
Grünen sind, allerdings weniger als von ihnen erhofft, dabei, in urbanen
Zentren mit der SPD auf Augenhöhe zu konkurrieren. Die AfD hat vor allem in
schrumpfenden Regionen beim sogenannten alten Mittelstand gewonnen. Die
Mitte ist stabil – daneben zeichnet sich eine Polarisierung zwischen
grünen, urbanen, liberalen Milieus und kleinstädtischen ProtestwählerInnen
ab, die ihren Lebensstil in Gefahr sehen. Der Protest ist rechts, aber
begrenzt und vielleicht auch rückholbar. Die Linkspartei spielt bei alldem
keine Rolle. 18 Prozent der ArbeiterInnen haben laut Wählerbefragungen AfD
gewählt – und nahezu 0 Prozent Linkspartei.
Eine Bastion der elektoralen Stabilität sind die Älteren. In Niedersachsen
wählten nur 5 Prozent der über 70-Jährigen AfD. Ältere gehen verlässlicher
als Jüngere zur Wahl. Sie sind zudem eine wachsende Klientel; Wahlen sind
schon heute gegen sie kaum zu gewinnen. In NRW siegte im Mai die CDU, weil
sie bei RentnerInnen punktete. In Niedersachsen votierten 42 Prozent der
Älteren für Stephan Weil, der das Sicherheitsversprechen, auf das
RentnerInnen viel Wert legen, glaubhaft verkörperte.
Es bedarf keines großen Scharfsinns, um zu erkennen, dass auch künftige
Wahlen gewinnt, wer für Sicherheit, soziale Absicherung und einen starken
Staat steht. Denn die Krisendichte bleibt. Neben Krieg, Inflation und einer
Pleitewelle steht mit der ökologischen Transformation die größte Umwälzung
der Ökonomie seit 150 Jahren bevor.
## Lindners Kurs passt nicht
Die FDP hat in Sicherheitswahlen wenig Chancen. [5][Sie behauptet nun
bockig, Opfer der Ampel zu sein]. Das ist naheliegend – aber ein Irrtum.
Doch das Problem der Liberalen ist nicht die Ampel, sondern Liz Truss. Die
britische Premierministerin hat gerade demonstriert, dass sich neoliberale
Ideen in dieser Krise komplett vor der Wirklichkeit blamieren. Wenn schon
niedersächsische Bäcker aus Existenzangst auf die Straße gehen, passt
Austeritätspolitik, die Lindner vertritt, schlicht nicht.
Rund 40.000 Ex-FDP-WählerInnen sind nicht zur AfD übergelaufen, weil
Lindner die Schuldenbremse nicht heldenhaft genug verteidigt hat. 60
Prozent der FDP-WählerInnen in Niedersachsen wollen weniger Unterstützung
für die Ukraine und stehen dem Putin-freundlichen AfD-Kurs offenbar näher
als der omnipräsenten FDP-Frau Strack-Zimmermann, die deutsche Panzer an
die Front liefern will. Die FDP ist unfähig, ihre eigenen Widersprüche zu
bearbeiten – und schiebt lieber alles auf SPD und Grüne.
Die Ampel wird trotzdem weiterregieren. Denn schlimmer, als zu regieren,
wäre für die FDP, Schuld an Neuwahlen zu sein und der Republik in einer
globalen Krise einen monatelangen Wahlkampf zu bescheren. Lindner ist
rational genug, um zu begreifen, dass die FDP dies nicht überleben dürfte.
Deshalb wird alles weitergehen wie bisher. Die FDP wird sich noch etwas
verbissener im Bremserhäuschen verschanzen und eine effektive
Krisenbekämpfung verlangsamen. Das ist unschön – aber kein Grund für
Untergangsfantasien.
11 Oct 2022
## LINKS
[1] /Buch-ueber-Treiber-des-Autoritaeren/!5868405
[2] https://www.presseportal.de/pm/6694/5338458
[3] https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/wer-waehlte-was-warum-103.html
[4] https://landeswahlleiterin.niedersachsen.de/startseite/presse_service/press…
[5] https://www.youtube.com/watch?v=shzkO1nrSxs
## AUTOREN
Stefan Reinecke
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