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# taz.de -- Enttäuschung gegenüber der Regierung: Ich liebe eine Ampel
> Eine Beziehungskiste, die nach vielen Enttäuschungen gerade im Dreck
> steckt. Insbesondere nach dieser Woche. Da hilft nur noch
> Selbstlosigkeit.
Bild: Statt Flitterwochen musste man sich in der neuen Partnerschaft gleich mit…
Sechzehn Jahre waren es, wirklich eine Langzeitbeziehung, und immer gab es
nur [1][Kartoffelsuppe]. Zeit also, sich in etwas Neues zu stürzen. Hals
über Kopf war es dann um einen geschehen Anfang Dezember: Zur Adventszeit
stolperte man auf dem Weihnachtsmarkt ein bisschen unerwartet in die Ampel,
auch weil Schwarz-Grün schon besoffen und Jamaika bereits nach Hause
gegangen war. Ampel also, auch schön, komm an mein Herz.
Und war ja auch schön am Anfang. [2][Selfies]. Scholzomat-Witzchen,
Antrittsreisen um die ganze Welt. Und, so zumindest die Sehnsucht, endlich
nachholen, was man in den vergangenen Jahren versäumt hatte: erneuerbare
Energien ausbauen, Tempolimit, Selbstbestimmungsgesetz, besserer ÖPNV,
schnelleres Internet und mehr Wohnraum. Endlich ein neuer Lebensabschnitt
mit Wumms und Schmackes und roten Rosen.
Das mit dem [3][Wumms] kam dann allerdings anders als erwartet – und statt
Flitterwochen musste man sich in der neuen Partnerschaft gleich mit
wirklich heftigen Problemen auseinandersetzen. Seitdem heißt es: Zähne
zusammenbeißen. Sich zusammenraufen und Enttäuschungen auch mal weglächeln.
Wir sind hier nicht bei „Wünsch dir was“. Aber was, wenn man den Eindruck
hat, dass es nun langsam reicht mit den Enttäuschungen? Dem
Runterschlucken?
In der vergangenen Woche zum Beispiel: Nach ewigem Rumgemache mit dem
[4][Gaspreisdeckel] kommen sie dann mit einer halbgaren So-lala-Regelung,
die einerseits Wohlhabende bevorzugt, andererseits für Ärger mit den
Nachbarn sorgt und an und für sich auch keine richtige Lösung für Menschen
mit niedrigem Einkommen und fehlenden Rücklagen ist. Und dafür hat man sich
nun wochenlang bemüht, im Dialog zu bleiben? Jeden Tag Zeitung gelesen und
Nachrichten geschaut? Getwittert, gepostet, Latschdemo? Um am Ende auch
noch darüber zu diskutieren, wie viele Atomkraftwerke denn nun noch
zusätzlich am Netz bleiben sollen? Heilige [5][Greta.]
## Wahlloses Googeln hilft
Und was ist denn nun eigentlich mit den geplanten 400.000 Wohnungen: „Ja,
es wird schwer, aber wir halten an dem Vorhaben fest.“ [6][3D-Drucker]
kaputt?
Wenn man wirklich nicht mehr weiterweiß in der Beziehung, soll ja wahlloses
Googeln helfen: „Wer Perfektion verlangt, bleibt oft allein. Aber wer sich
zu sehr verleugnet, gibt sich auf. Ein uraltes Dilemma – wo hört Toleranz
auf, wo fängt Selbstverleugnung an? Verliere ich mich irgendwann selbst,
wenn ich zu viele Kompromisse eingehe?“, spricht der Ratgeber. Ja, gut. So
ganz ohne Regierung will man natürlich am Ende auch nicht dastehen. Und
eigentlich ist es ja auch Liebe, die zudem noch nicht ewig währt – und
zurück zur Kartoffelsuppe, die man angeblich noch vermissen werde, will
auch niemand.
## Keine Rede mehr von heißer Liebe
Also: „Toleranz bedeutet, dass wir bereit sind, von uns abweichende
Sichtweisen oder unserer Meinung nach unangemessene Handlungen zu dulden
oder zuzulassen. Das Gegenteil dazu ist Intoleranz. In der Partnerschaft
ist Toleranz sehr wichtig. Zumeist haben wir, wenn überhaupt, dann nur
während wir verliebt sind, den Eindruck, unser Partner entspreche
vollkommen unseren Vorstellungen. Ansonsten werden wir Denk- und
Verhaltensweisen bei unserem Partner entdecken, die nicht unseren
Vorstellungen entsprechen. Wir haben dann die Wahl, diese zu tolerieren
oder dagegen anzugehen“.
Ja, an diesem Punkt sind wir nun wohl angelangt. Von heißer, verzehrender
Liebe ist keine Rede mehr, stattdessen also Toleranz. Auch mal tolerant
sein gegenüber der eigenen Regierung! Wollen wir, dass unser Partner sich
verändert, dann sind wir darauf angewiesen, dass er die Notwendigkeit einer
Veränderung einsieht und bereit ist, an der Veränderung zu arbeiten. Ha!
Niedersachsen! Mehr muss man dann gar nicht sagen. Niedersachsen!! Das kann
sich die Ampel mal hinter die Löffel schreiben, denn bei aller Liebe,
Toleranz bedeutet nicht, dass wir das, was wir tolerieren, auch gut finden
müssen.
## Es liegt an uns, die Beziehungskiste zu retten
Am schlimmsten aber sind ja in jeder Beziehung die leeren Versprechungen
und die verschleppte Umsetzung von Ankündigungen. Zermürbend: Bis zum
Jahresende 2022, so hieß es im März, werde das diskriminierende
Transsexuellengesetz abgeschafft und durch ein Selbstbestimmungsgesetz
ersetzt. Und nun, ein Jahr nach der Bundestagswahl, heißt es: „Für den
Referentenentwurf, der derzeit erarbeitet wird, kann voraussichtlich eine
Ressortabstimmung und Verbändebeteiligung bis Ende des Jahres eingeleitet
werden“ ([7][Sven Lehmann, Grüne]). Süßholzraspeln klingt wirklich anders,
und das mit der Selbstbestimmung muss dann noch bis 2023 warten, leider,
leider. Und dann wird auch die Spülmaschine aus- und die Garage aufgeräumt,
alles klar.
Am Ende, so viel zeichnet sich ab, wird es alleine an uns liegen, den
Wählern also, die Beziehungskiste mit der Ampel zu retten, denn die scheint
mit sich selbst ausreichend beschäftigt zu sein – sagt auch Wolfgang
Kubicki, und der kennt sich aus mit Beziehungskisten. Wir müssen vor allem
verzeihen. Aber Verzeihen ist kein „Hinwegsehen“, es ist Loslassen. Wir
sind nachtragend, um den Anderen zu bestrafen, aber belasten damit eher uns
selbst als ihn. Der Andere merkt nichts von unseren Grollgedanken, aber wir
verschwenden damit unsere Zeit. Werde dir darüber bewusst, dass Verzeihen
nicht bedeutet, das Verhalten gutzuheißen. Du kannst dich nach wie vor
davon abgrenzen, aber es der Person nicht mehr übel nehmen.
In Ordnung, so machen wir es. Wir nehmen den Deckel und die Wohnungen, die
wir kriegen können. Wir beten für die Energiewende und schnelleres
Internet. Wir warten auf mehr Selbstbestimmung und Rezeptausstellung via
Chipkarte. Wir lassen los und lieben. Und nehmen nicht übel. Und ja, wir
werden einander noch viel verzeihen müssen. Und das tun wir auch – außer
dem Jens Spahn.
14 Oct 2022
## LINKS
[1] https://www.zeit.de/zeit-magazin/2017/39/kartoffelsuppe-angela-merkel-woche…
[2] /Selfie-von-Gruenen-und-FDP/!5800695
[3] https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine/506913/chronik-24-februar-bis-1-ma…
[4] /Geplante-Gaspreisbremse/!5884424
[5] /Thunberg-fuer-AKW-Weiterbetrieb/!5883962
[6] https://www.kreiszeitung.de/stories/in-10-stunden-gebaut-europas-erstes-tin…
[7] https://www.queer.de/detail.php?article_id=43400
## AUTOREN
Martin Reichert
## TAGS
Ampel-Koalition
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Schwerpunkt Atomkraft
Landtagswahl in Niedersachsen
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