# taz.de -- Die Ampel nach der Niedersachsen-Wahl: Wenn Grün der FDP die Daume… | |
> Die FDP-Krise bereitet ihren Berliner Partnern Sorgen. Denn die Schwäche | |
> liegt auch am Ampel-Gehampel. Christian Lindner will den Kurs der FDP | |
> halten. | |
Bild: Erklärungsversuche: FDP-Chef Christian Lindner und Stefan Birkner von de… | |
Lange wird er nicht geschlafen haben, aber das sieht man ihm jetzt nicht | |
an. Etwas verspätet tritt Christian Lindner am Montagmittag in der | |
FDP-Zentrale in Berlin-Mitte vor die Kameras. Die Hände stützt er auf das | |
Rednerpult, mit geradem Rücken steht er da. Neben ihm: [1][Stefan Birkner], | |
der Spitzenkandidat aus Niedersachsen. Auch er die stoische Ruhe in Person. | |
Dabei wartet keine einfach Aufgabe auf beide. Einen Tag nach der Wahl in | |
Niedersachsen müssen sie die Misere der Liberalen erklären. Im Allgemeinen | |
und im Besonderen. | |
„Klar ist, es wird auch wieder eine nächste Landtagswahl geben“, sagt | |
Christian Lindner recht nüchtern und sichert dem gebeutelten Landesverband | |
seine Unterstützung zu. Es sei ein „bitterer Abend“ gewesen, eine „klare | |
Niederlage“, sagt dann Stefan Birkner, „schmerzhaft“. | |
An diesem Tag gibt es keine lange Fehleranalyse, was landespolitisch alles | |
falsch gelaufen sein könnte. Denn allen ist klar: Niedersachsen ist nur ein | |
Symptom eines viel weiter reichenden Problems. Nämlich: Wofür steht die FDP | |
in der Berliner Ampel? | |
[2][4,7 Prozent] der Stimmen holten die Liberalen laut dem vorläufigen | |
Ergebnis und verpassten damit den Einzug in das niedersächsische Parlament. | |
Nach zwanzig Jahren im Landtag muss sich die FDP in die | |
außerparlamentarische Opposition begeben. Das Ergebnis der | |
Niedersachsenwahl ist aber viel mehr als nur ein landespolitscher Absturz. | |
Es ist auch eine Niederlage für den Finanzminister Christian Lindner. | |
## Eine Niederlage nach der anderen | |
Seit die Liberalen in die Ampel eingetreten sind, fahren sie eine | |
Niederlage nach der anderen ein: Saarland, Schleswig-Holstein, | |
Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen. Auch die Umfragen für die Bundes-FDP | |
sind kein Grund für Zuversicht. | |
Das weiß auch Christian Lindner. Und doch zeigt er sich erstaunlich | |
uneinsichtig. „Die FDP hat ein klares politisches Profil, sie weiß, was sie | |
will und wer sie ist“, sagt er. Es wirkt fast ein wenig trotzig: „Wir haben | |
kein Problem einer Strategie- oder Positionierungssuche.“ Klingt nach: Wir | |
haben alles richtig gemacht. | |
Die Ampel habe insgesamt „an Legitimation verloren“, erklärt er. Die | |
Verluste von SPD und FDP würden nicht aufgewogen durch die Zugewinne bei | |
den Grünen. „Insofern hat nicht die FDP ein Problem, sondern die Ampel | |
insgesamt muss sich der Herausforderung stellen, für ihre Politik mehr | |
Unterstützung in Deutschland zu erreichen“, sagt Lindner. Es ist, nun ja, | |
eine eigenwillige Interpretation. Die SPD ging als [3][klarer Sieger] vom | |
Platz, die Grünen haben in Niedersachsen ein historisches Ergebnis erzielt. | |
Man müsse nun über „die Balance von sozialem Ausgleich, ökonomischer | |
Verantwortung und wirtschaftlicher Vernunft neu nachdenken, damit die Ampel | |
insgesamt wieder reüssieren kann“, schlussfolgert Lindner und lässt dann | |
noch etwas Kritik zu. | |
Seiner Partei gelinge „es gegenwärtig nicht, für ihr klares Profil | |
hinreichend Unterstützung zu bekommen“. Änderungen an den Grundpositionen? | |
Fehlanzeige. Die FDP stelle sich nun der Herausforderung, das als richtig | |
erkannte Profil „jetzt herauszuarbeiten und zu stärken“. Er wiederholt dann | |
auch die Forderung, die noch verbliebenen drei Atomkraftwerke am Netz zu | |
lassen. „Das ist nicht Politik, sondern Physik.“ | |
## Der Bremser vom Dienst | |
Die Frage nach der stärkeren Profilierung wirft aber Fragen auf: Was genau | |
heißt das? Schon jetzt wird die FDP wie der Bremser in der Koalition | |
wahrgenommen, wie der Neinsager vom Dienst, eine Art innere Opposition. | |
Schon seit geraumer Zeit betonen Liberale, dass die Ampel nicht ihr | |
Wunschbündnis gewesen sei, aber notwendig aus „staatspolitischer | |
Verantwortung“. Vom Spirit der Koalitionsverhandlungen, dem viel | |
beschworenen Aufbruch, ist nicht viel übrig geblieben. Kein Wunder. | |
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine befindet sich die Regierung im | |
permanenten Krisenmodus: explodierende Energiepreise, Inflation, Eier, | |
Butter, Brot verteuern sich. Begleitend dazu: Corona. Dem Finanzminister | |
bleibt nichts anderes übrig, als Hilfspakete in Milliardenhöhe zu schnüren. | |
Man kann es auch so sagen: Die Idee des Neoliberalismus hat gerade nicht | |
ihre Hochzeit. Dennoch klammert sich Lindner an das Wort Schuldenbremse, | |
will einen „finanziellen Dammbruch“ verhindern. | |
Der Graben zwischen FDP einerseits und SPD und Grünen andererseits wird | |
damit sichtbarer. Und dennoch ist der Handlungsspielraum der FDP in der | |
Ampel begrenzt: Sie kann nicht hinwerfen (Stichwort: „Besser nicht regieren | |
als schlecht regieren“) und sie darf nicht nur im Oppositionsmodus agieren. | |
Sonst droht ihr ein ähnliches Schicksal wie 2013, als sie aus dem Bundestag | |
flog. | |
Niemand weiß das besser als Christian Lindner. Er war es, der damals den | |
liberalen Scherbenhaufen übernommen hatte. Insofern ist es nicht | |
verwunderlich, wenn er sagt: „Eine Stärkung der FDP ergibt sich aus | |
erfolgreichem Regierungshandeln.“ Es heißt übersetzt: Die Liberalen sind | |
gefangen in der Ampel. | |
Lindners Aufgabe wird demnach sein, darauf zu achten, dass die Fliehkräfte | |
in seiner Partei nicht zu groß werden. Und die sind jetzt schon sichtbar: | |
[4][Thomas Sattelberger], der erst vor Kurzem sein Bundestagsmandat | |
niedergelegt hat, twitterte am Wahlabend: „Mir blutet das Herz. Die | |
Ampel-Koalition ist politische Vergewaltigung der FDP.“ | |
Auch der FDP-Finanzpolitiker [5][Max Mordhorst] sieht ein Problem in der | |
„strategischen Uneinigkeit“. Die Partei müsse sich entscheiden: „Entweder | |
weniger Störenfried oder mehr eigenes Profil.“ Für ihn ist die Entscheidung | |
klar. „Mehr Eigenständigkeit und klare Kante, wenn die Grünen mal wieder | |
Opposition in der Regierung spielen“, sagt er der taz. Nach konstruktiver | |
Regierungsarbeit klingt das nicht. | |
Interessant wird auch sein, wie sich die FDP künftig beim Russlandkurs | |
positioniert. Laut ZDF-Politbarometer gibt es unter den FDP-Anhängern | |
nämlich eine deutliche Mehrheit, die sich eine größere Zurückhaltung bei | |
der militärischen Unterstützung für die Ukraine wünscht. Es mag auch ein | |
Erklärungsansatz dafür sein, warum die FDP so viele Stimmen an die AfD | |
verloren hat. | |
Derzeit ist es aber vor allem die FDP-Politikerin [6][Marie-Agnes | |
Strack-Zimmermann], die durch Forderungen nach mehr Waffen auffällt. Einen | |
Grund für einen Kurswechsel sieht sie nicht. Die Liberalen gäben „ihre | |
grundsätzliche Haltung nicht an der Garderobe ab“, sagt sie der taz. Die | |
Partei werde sich „der Ernsthaftigkeit entsprechend national und | |
international“ weiter engagieren. Ob das jedoch alle so sehen, ist | |
fraglich. Im August forderte FDP-Vize Wolfgang Kubicki die Inbetriebnahme | |
der Pipeline Nord Stream 2. | |
## Nouripour zittert mit der FDP | |
Die Orientierungslosigkeit der FDP bereitet denn auch den | |
Koalitionspartnern Sorge. Sie fürchten, dass das Regieren in der Ampel noch | |
ungemütlicher werden könnte. Am Wahlabend gegen 21 Uhr sitzt Grünen-Chef | |
[7][Omid Nouripour] im Zug von Hannover nach Berlin. Auf der Rückfahrt von | |
der Wahlparty der Landesgrünen gibt er im ICE ein Interview. Als die Bahn | |
am Wolfsburger Hauptbahnhof einfährt, unterbricht er das Gespräch kurz: | |
Endlich wieder Handy-Empfang, er muss die neuesten Zahlen checken. Nicht so | |
sehr den Wert der Grünen, der hat sich schon zuvor über 14 Prozent | |
eingependelt. Nouripour fiebert jetzt mit der FDP mit – und schaut | |
enttäuscht wieder vom Handy auf. Weiterhin unter 5 Prozent, wie schon eine | |
halbe Stunde zuvor bei der Abfahrt in Hannover. | |
„Wir machen unseren Job und die machen ihren“, wird Nouripour am nächsten | |
Tag auf einer Pressekonferenz des Grünen-Vorstands in Berlin sagen. Er sei | |
als Parteichef für die Grünen zuständig, nicht für die FDP. Und doch: Bis | |
spät in den Abend habe er den Liberalen die Daumen gedrückt. | |
Kaum jemand bei den Grünen ging es anders. Zwar kamen nicht alle guten | |
Wünsche von Herzen. Der Verstand aber sagt vielen in der Partei: Eine | |
krachende Niederlage der Liberalen in Niedersachsen und eine FDP im | |
Krisenmodus machen das Regieren im Bund nur noch schwieriger. Die Sorge ist | |
groß, dass die Kompromissbereitschaft des Koalitionspartners jetzt noch | |
weiter sinkt. Bei den Landesgrünen in Hannover kommt hinzu, dass sie mit | |
der FDP-Fraktion im niedersächsischen Landtag in der gemeinsamen Opposition | |
gute Erfahrungen gemacht haben. Dass die Opposition künftig nur noch aus | |
der erstarkten AfD und einer orientierungslosen CDU bestehen wird, bereitet | |
der künftigen Regierungspartei Sorgen. | |
Aber was tun? Ein Mitleidsbonus in Form einer größeren | |
Kompromissbereitschaft in inhaltlichen Fragen wäre Grünen-intern schwer | |
durchzusetzen. In der Partei ist ohnehin schon die Ansicht verbreitet, dass | |
die FDP in der Ampel viel zu viele Geschenke erhalte. Konzilianz in | |
atmosphärischen Fragen ist da schon leichter zu machen. Auffallend | |
freundlich reden schon seit Tagen viele Grüne über die Liberalen, wenn die | |
Kameras laufen. Auf Twitter verzichtet am Wahlabend sogar die Grüne Jugend | |
auf hämische Kommentare über das FDP-Aus. Nur: Mit Nettigkeiten alleine | |
wird sich die FDP wohl kaum einfangen lassen. | |
## SPD verständnisvoll wie noch nie | |
Auch die SPD hätte die FDP lieber im niedersächsischen Landtag gesehen. Im | |
Willy-Brandt-Haus spricht SPD-Vorsitzender Lars Klingbeil am Montag von | |
einem „bitteren Ergebnis“ und sieht so aus, als leide er wirklich mit. Denn | |
dass die Arbeit der Dreierkoalition mit einem wundgeriebenen Partner nicht | |
leichter wird, liegt auf der Hand. „Dass das Regieren gerade schwierig ist, | |
und dass wir es mit vielfältigen Krisen zu tun haben, ist offensichtlich“, | |
sagt Klingbeil. Er glaube aber nicht, dass es ab nun schwieriger werde. Er | |
klingt beschwörend und ermahnend zugleich. „Ich habe ein festes Verständnis | |
davon, dass man in dieser Regierung zusammenarbeiten muss, damit am Ende | |
alle erfolgreich sind.“ | |
Das heißt umgekehrt: Scheitert die Ampel, kann das auch auf SPD und Grüne | |
zurückfallen. | |
In der SPD bemüht man sich um einen möglichst schonenden und einfühlsamen | |
Umgang mit dem Wahlverlierer. „Die FDP ist gerade in der schwierigsten | |
Situation von uns dreien, denn sie hatte die Ampel nie als Wahlziel“, | |
äußert sich der altgediente SPD-Bundestagsabgeordnete Axel Schäfer | |
verständnisvoll. „Dass die FDP jetzt Flagge zeigt und beweisen muss, wir | |
sind noch da“, kann er ebenfalls nachvollziehen. Vielleicht müsse man den | |
Spielraum der FDP in der Ampel symbolisch ein bisschen erweitern, überlegt | |
Schäfer. | |
Das sind ganz neue Töne eines Parteilinken. Was das denn heiße, wenn es | |
konkret um die Schuldenbremse gehe? Lindner will diese im nächsten Jahr | |
unbedingt einhalten, aber dass im Falle einer Rezession keine neuen Kredite | |
nötig sein werden, glaubt auch Schäfer nicht. Man müsse eben deutlich | |
machen, dass es nicht um die Aussetzung der Schuldenbremse gehe, sondern | |
darum, eine Situation gemeinsam zu meistern, in der das Gemeinwesen bedroht | |
sei, so Schäfer. Bei Olaf Scholz sieht er dabei kommunikativ noch Luft nach | |
oben. | |
10 Oct 2022 | |
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[1] https://www.fdp.de/person/stefan-birkner | |
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[7] /Doppelspitze-der-Gruenen/!5832469 | |
## AUTOREN | |
Jasmin Kalarickal | |
Anna Lehmann | |
Tobias Schulze | |
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