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# taz.de -- Kulturerbe Roggensauerteiglaib: Alle Wege führen zum Brot
> Der Roggensauerteiglaib ist das führende Produkt der Slow-Food-Bewegung
> im Kärtner Lesachtal. Er ist auch immaterielles Weltkulturerbe.
Bild: Das Lesachtal in Kärnten
Der Duft schleicht sich fast unbemerkt durch die Nase ins Hirn. „Heimelig“,
signalisiert er, „warm und lecker“. Er kommt aus dem Backofen, in dem sich
das Brot seiner Vollendung nähert. Wenig später öffnet Rosa Lanner –
schlank, kurze silberne Haare, eine blitzblanke weiße Schürze über der
blauen Bluse – die Tür. Und prompt entweicht noch mal ein ganzer Schwall
von Aromen. Nussig, fruchtig-säuerlich, würzig wie Koriander- und
Fenchelsamen, ein Hauch von Kümmel. Und dann kommt das Brot in Sicht. Acht
längliche Körbchen haben die Laibe in Form gehalten, die die Seniorchefin
des Hotels Wanderniki in Obergail im Lesachtal nun auf das große Holzbrett
stürzt. Mattmittelbraun ist die Kruste, etwas verwischt, aber noch zu
erkennen der Herz-Jesu-Stempel – den hatte Lanner noch im letzten Moment in
den fertig geformten Teig gedrückt.
Wie gern würden wir nun gleich kosten, zumal wir dieses besondere Brot
praktisch selbst hergestellt haben! Doch flink schlägt uns die Wirtin auf
die Finger. „12 Stunden muss das jetzt ruhen“, sagt sie. „Der Geschmack
muss von der Kruste in die Krume wandern.“ Es bleibt der knurrende Magen
und die Vorfreude auf das nächste Frühstück.
Wir sind nicht die einzigen Gäste, die die Backstube unter Anleitung von
Rosa Lanner mitnutzen dürfen. Ihre Workshops zur „Kunst der Brotbackens im
Lesachtal“ bietet sie regelmäßig an. Und sie ist auch nicht die einzige
Bewohnerin dieses versteckten Tals im österreichischen Kärnten, die ihr
Familienrezept an Interessierte weitergibt. Denn auch wenn es so viele
Varianten gibt wie Bauernhäuser: Die Menschen hier wissen ihr Brot zu
schätzen – und dass es nicht nur Spaß macht und ein bisschen Geld bringt,
das Handwerk weiterzugeben, sondern wichtig für das ganze Tal ist.
Denn das Lesachtaler Brot ist mehr als ein Grundnahrungsmittel. Mit seiner
Wertschöpfungskette steht es für Kultur und Geschichte der Region, für die
Verquickung von Wissen, Traditionen, Ritualen, Spirituellem, Sprache und
Landschaft, sogar für baukulturelle Elemente. So ähnlich steht es in der
Begründung der Unesco, die es 2010 in die Liste des Immateriellen
Kulturerbes aufgenommen hat. Sie hält für schützenswert, wie die
Lesachtaler über Jahrhunderte die Herausforderungen des harten Lebens
gemeistert haben: Wie und wann säe ich das richtige Korn, wie löse ich
Transportprobleme, wie mahle ich das geerntete Getreide, wie mache ich das
wiederum bekömmlich und haltbar – eigentlich also: Wie überleben wir hier?
## Vom täglichen Brot
Diese Zusammenhänge sind auch der Slow-Food-Bewegung wichtig. Deren
Anhänger:innen setzen sich weltweit dafür ein, dass jeder Mensch Zugang
zu Nahrung hat, mit der es ihm, aber auch den Produzent:innen und der
Umwelt gut geht. Die hochwertig ist und in regionalen Kreisläufen sauber
und fair hergestellt wird. Sie hat das Lesachtaler Brot zum sogenannten
Presidio ernannt. Das sind Lebensmittel, die nach diesen Prinzipien
erhaltenswert erscheinen, aber Gefahr laufen zu verschwinden, weil das
Wissen um ihre Herstellung verloren geht.
Beide Auszeichnungen helfen, Förderungen zu bekommen. Sie nehmen die
Lesachtaler von heute aber auch in die Pflicht. Und dabei geht es eben
nicht nur um das Zusammenrühren des Teigs mit dem Schååwa, dem Teigschaber,
oder um das Ansetzen des Sauerteigs, der das Roggen-Weizenvollkorn-Gemisch
bekömmlicher und aromatischer macht. Nein, es beginnt schon mit dem Anbau
des Getreides: Alte Kultursorten wie der Weizen Kärntner Früher oder der
Oberkärntner Winterroggen sind an die Landschaft angepasst, wo Höfe und
Felder der Bergbauernfamilien auf Hangterrassen in bis zu 1.427 Meter
Seehöhe liegen und bei weitem nicht alles wächst.
Bei den langen, kalten Wintern müssten gut abgepasst werden, wann man
anbaut und wann erntet, erklärt Helene Lugger. Sie trägt die blonden Haare
kurz, Jeans, Sneakers und einen leuchtendroten Anorak gegen den
aufziehenden Regen, als sie uns zeigt, wie die Müllnerbauern das Problem
früher gelöst haben: Weil wenig Zeit war, die Ernte zu verarbeiten, bevor
der erste Schnee kam, errichteten die Landwirte am Hang eigene Mühlen, in
denen das Korn gleich gemahlen werden konnte. „Das Lesachtal hieß früher
das Tal der hundert Mühlen“, sagt Lugger. Angetrieben wurden die Mühlen vom
Wasser der überall herabströmenden Bäche. Und sie konnten viel mehr als
Mehl herstellen: Über findige Konstruktionen trieben sie auch Seilbahnen
an, die Saatgut und Gerätschaften nach oben, geerntetes Getreide und Mehl
ins Tal transportieren konnten.
Noch heute gehört den Luggers selbst eine der letzten Mühlen in Maria
Luggau, das mit seiner Wallfahrtskirche das religiöse Zentrum und mit
seinem großen Bauernladen auch das Schaufenster der hiesigen Erzeugnisse
ist. Sie haben den Mühlenverein mitgegründet, dem Helenes Schwiegervater
Mario Lugger derzeit vorsitzt. Seine Mitglieder wollen das Wissen über den
Bau der Mühlen, die dahinterstehende Technik und das Müllerhandwerk
bewahren und weitergeben.
## Altes Wissen
Das sei oft gar nicht so einfach, sagt Lugger, während sie vorführt, wie
sie mit einem Handgriff das Wasser aus der offenen Holzleitung auf das
Mühlrad umlenkt. „Jetzt wird es laut“, ist gerade noch zu hören, bevor ein
gewaltiges Stampfen und Knirschen losgeht: Das Korn rieselt zwischen die
schweren Steine und fällt als Mehl über ein ausgeklügeltes System in ein
großes Sieb über einem Kasten, das die Kleie, das gröber und das feiner
gemahlene Mehl wie von Zauberhand sortiert. Kleinere Schäden und
Verschlisse könne man selbst reparieren, so Lugger. „Aber wenn mal ein
Mühlstein bricht, wird es schwierig. Das gesamte Wissen liegt ja im
Erfahrungsschatz der Leute hier, die zum Teil schon sehr alt sind, und kann
von niemand anderem eingebracht werden.“
Im Moment reicht das Lesachtaler Mehl nicht aus für all das Brot, das die
Bäuerinnen, Gastwirte und nicht zuletzt der Bäcker in Maria Luggau backen.
Zur Not weiche man eben auf Kärntner Biomehl von außerhalb aus, sagt
Nikolaus Lanner pragmatisch. Lanner ist der Sohn von Rosa, Namengeber und
Inhaber des Öko-Alpenhotels Wanderniki und nicht zuletzt auch Vorsitzender
des örtlichen Tourismusverbandes. Das Lesachtaler Brot sei „nichts
Museales, sondern gelebte Tradition und Kultur“. Das versuche er auch den
anderen Tourismusaktiven im Tal zu vermitteln, damit sie weniger Scheu
haben, die Idee mitzutragen und weiterzuentwickeln. „Es ist nicht immer
einfach“, sagt Lanner. „Viele müssen auch erst einmal sehen, was sie davon
haben.“
Ein Weg dazu sind Hoffeste, die im Wechsel bei den verschiedenen Betrieben
stattfinden, glaubt er. Dort könne jede:r die eigenen Besonderheiten
präsentieren. Auf dem Gailerhof in Niedergail funktioniert das an diesem
Samstag ganz wunderbar. Der Regen stört hier niemanden, man rückt einfach
unter dem Vordach und den beiden blauen Zelten zusammen. Die Bäuerin
schleppt noch einen zusätzlichen Klapptisch und Bänke in die Stube. Platz
wird gemacht. Schließlich sollen alle mitkriegen, wie wunderbar der Kuchen
aus dem Café „Kuhle Einkehr“ schmeckt, der hier dem Brot ein bisschen die
Show stiehlt. Wir wollen noch mal raus, Nachschlag holen. Hallo, juchhe,
kein Problem. Bringts mir noch den Zirbenschnaps! Denn auch das gehört zum
Lesachtal: Feste wollen begossen werden. Das Schnapsregal im Hofverkauf
Maria Lugaus ist nicht das schmalste.
Wer mehr Höfe und Betriebe an einem Tag erleben will, kann das auf dem
Brot- und Morendenweg machen – und gleich mit Bewegung verbinden. Auch das
Wort Morende gehört zur spezifischen Kultur des Tales. Es leitet sich vom
Italienischen ab. „Geamo Morenden“, soll es geheißen haben, wenn die
Bauernfamilien zusammenkamen und ihre traditionellen selbst hergestellten
Gerichte speisten. Die rund dreieinhalb Stunden lange Wanderung führt an
Stationen vorbei, an denen es Bergkäse, Speck, Schlipfkrapfen, Stockblattln
und natürlich das Brot gibt – wie jetzt auch endlich im Wanderniki. Der
Geschmack? Knusprig die Kruste, würzig die Krume. Lecker. Und mehr
braucht's jetzt gerade auch nicht.
10 Oct 2022
## AUTOREN
Beate Willms
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