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# taz.de -- Citizen Science-Konferenz in Berlin: Coming-out der Bürgerforschung
> In Berlin trafen sich Bürgerforscher zur europaweiten Konferenz. Eine
> halbe Million Menschen machen mit bei Citizen-Science-Projekten.
Bild: Interessierte Bürger liefern Beobachtungsdaten über das Vorkommen von F…
Schummrig ist’s im Kesselhaus der Berliner Kulturbrauerei. Ein Ort, wo gut
munkeln ist, wo kreative Ideen ausgekocht werden. Die passende Location für
die Premiere der ersten europäischen Konferenz für Bürgerwissenschaften am
vergangenen Wochenende. Anlass war das Jahrestreffen des Vereins [1][ECSA
(European Citizen Science Association], auf deutsch: Verein der
europäischen Bürgerwissenschaften), der schon seit drei Jahren besteht,
sich aber bisher nur zu förmlichen Mitgliederversammlungen traf. In Berlin
wurde das Meeting zu einem richtigen Festival ausgerollt, das den über den
Kontinent verstreuten Wissenschaftsfreunden die Gelegenheit bot, sich
gegenseitig kennenzulernen: in Vorträgen, Workshops, Posterpräsentationen
und bei Feten.
„Citizen Science ist jetzt eine weltweite Bewegung“, stellte Katrin Vohland
vom Berliner [2][Museum für Naturkunde] und Vizevorsitzende der ECSA zur
Eröffnung unter Begrüßung von Gästen auch aus den USA und Australien fest.
Kennzeichen der Bewegung sei der Trend zur Ausbreitung nach außen und der
Entwicklung einer Selbstidentität nach innen.
Nicht unwichtig ein weiterer Aspekt, vor dem kritischen Zustand der
Europäischen Union: „Citizen Science ist auch ein Ausdruck für die
Identität und den Geist von Europa“, sagte Vohland. In der Tat war die
Grenzenlosigkeit, die Un-Nationalität, die dominante Stimmung des Berliner
Treffens – sozusagen ein Schengenraum für Kreativität und Findergeist. Die
Organisatoren hatten mit 200 Teilnehmern gerechnet; dass mit 350
Bürgerforschern fast doppelt so viele kamen, zeigt das große Interesse und
auch den Veränderungsdruck, der sich an die Wissenschaft richtet.
Nach [3][Muki Haklay vom University College] in London, einem der Vordenker
der Bewegung („Citizen Science and Policy: A European Perspective“, 2015),
ist es in den letzten zehn Jahren zu einem „schnellen Wandel im Verhältnis
von Bürgern und öffentlichen wie privaten Forschungseinrichtungen“
gekommen. Seit 2007 haben sich nach Haklays Überblick weit über eine
Million Menschen an Citizen-Science-Projekten beteiligt: von der
Klassifizierung von Galaxienfotos und der Beobachtung von Fledermäusen über
die Abschrift von Tagebüchern aus dem Ersten Weltkrieg bis hin zur
Tiererkennung in der Serengeti.
Internationales Aufsehen hat der deutsche [4][„Mückenatlas“] am
Brandenburger Zentrum für Agrarlandschaftsforschung gefunden, bei dem in
einem Jahr 5.000 Hobbyforscher über 17.000 Mücken einschickten. Effekt:
eine tropische Mückenart, und dort Infektionsauslöser, wurde erstmals in
Deutschland entdeckt – Folge des Klimawandels.
## Füchse in der Großstadt
Ein Projekt zur [5][Beobachtung von Füchsen in der Großstadt], das der
Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) mit dem [6][Institut für Zoo- und
Wildtierforschung (IZW)] in Berlin durchführt, stieß auf enorme Resonanz.
„Über 1.000 Zuschauer schickten uns mehr als 100.000 Digitalfotos von
Füchsen“, berichtete RBB-Wissenschaftsredakteurin Ilona Mahrenbach auf der
Konferenz. Jetzt gehen die IZW-Forscher an die Auswertung der Daten, um das
geänderte Verhalten von Wildtieren in der Stadt zu erklären.
Dabei gehört das Feld nicht allein den naturwissenschaftlichen Themen. Die
Kulturforscherin Andrea Sieber von der Uni Klagenfurt in Österreich stellte
das [7][Projekt „Brotzeit“] vor, bei dem Schüler ihre Großeltern im
Lesachtal zum Handwerk des Brotbackens interviewen. Sieber: „Als
Wissenschaftler interessiert uns der Zusammenhang zwischen der
intergenerationellen Weitergabe von Erfahrungswissen und regionaler
Identität.“
Das Dresdener [8][Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung] macht
seine Forschung zum Landschaftswandel ebenfalls mit Bürgerforschern. „Wir
bitten die Bevölkerung“, erklärte Projektleiter Wolfgang Wende, „uns alte
Landschaftsbilder aus ihren Fotoalben zu schicken und dieselbe Stelle nach
Möglichkeit heute noch einmal zu fotografieren.“ Der optische Vergleich
zeigt unter anderem die großen Veränderungen im Agrarbereich.
Förmlicher Gastgeber der Konferenz war das deutsche Gewiss-Projekt
[9][„Bürger schaffen Wissen, Wissen schafft Bürger“] des
[10][Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ)], des [11][Deutschen
Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv)] Halle-Jena-Leipzig
und des [12][Museums für Naturkunde Berlin]. Dieses Projekt hatte in den
letzten zwei Jahren mit einer Förderung aus dem Bundesforschungsministerium
die Zusammenführung der deutschen Szene betrieben und vor Kurzem das
[13][„Grünbuch“ für eine Citizen-Science-Strategie 2020 (pdf-Datei)]
vorgelegt.
## 65 deutsche Citizen-Science-Projekte
Ein Vertreter des Ministeriums teilte mit, dass in vier Wochen ein
nationales Förderprogramm zur Unterstützung von Projekten der
Bürgerforschung gestartet werde. Die Rede ist von mehreren Millionen Euro.
Nach Schätzungen des Gewiss-Konsortiums, das auf seiner Internetplattform
[14][65 deutsche Citizen-Science-Projekte] versammelt hat, sind insgesamt
rund 500.000 Wissenschaftsinteressierte in dieser Szene aktiv.
Spürbar war, dass hier eine neue Bewegung an der Schnittstelle von
Wissenschaft und Gesellschaft entsteht. Viele Jahre waren die
Wissenschaftsjournalisten die Platzhirsche an dieser Stelle – die
inzwischen so weit reduziert sind, dass sie zur ECSA-Konferenz gar nicht
mehr auftauchten, um darüber zu berichten. Dann kamen die
Wissenschaftskommunikatoren, die via PR dem breiten Publikum ein „Public
Understanding of Science and Humanities“ (PUSH) anzutragen versuchten, was
die meisten heute als Anstrengung mit nur begrenztem Erfolg bewerten.
Nun tritt unter dem Label „Citizen Science“ ein neuer und doch alter Akteur
aus den Reihen der Zivilgesellschaft auf den Plan: Bürger,
wissenschaftliche Laien, die gleichwohl an Wissenschaft und
wissenschaftlicher Methodik des Erkenntnisgewinns so sehr interessiert
sind, dass sie es nicht nur bei passiver Bildungsaufnahme belassen, sondern
aktiv am Forschungsprozess mitwirken wollen.
## Leitlinien und Zeitschrift
Die angestrebte „Professionalisierung“ der Bürgerforschung in Europa hat
Tempo. [15][Zehn ECSA-Leitlinien (pdf-Datei)] wurden formuliert, eben ist
eine [16][neue wissenschaftliche Zeitschrift] erschienen. „Dennoch muss man
feststellen, dass wir gegenüber den USA noch eine Entwicklungsregion sind“,
räumt IZW-Direktor Heribert Hofer ein.
In Washington lädt Barack Obama die Citizen Scientists bereits zu
Präsentationen ins Weiße Haus ein. Gleichwohl ist es für
ECSA-Gründungsmitglied Hofer ein wichtiger Schritt, dass sich die
Bürgerforscher in Europa auf einer übernationalen Ebene organisieren: „Wir
dürfen in Europa keine 28 unterschiedlichen Wege gehen.“
Auffallend war im Kesselhaus die Absenz der Politik. Außer einem Vertreter
der EU-Kommission, der für eine Beteiligung an der Brüsseler
Open-Science-Initiative warb, hatte kein Politiker den Termin auf dem
Kalender. „Obwohl wir uns sehr darum bemüht hatten“, merkt der alte und
neue ECSA-Vorsitzende Johannes Vogel an, Direktor des Berliner
Naturkundemuseums. Die Politikferne muss aber nicht ein Manko, sondern kann
auch ein Freiraum für die Bürgerforschung sein. Auch dies ein Unterschied
zum etablierten Wissenschaftssystem.
27 May 2016
## LINKS
[1] http://ecsa.citizen-science.net/
[2] http://www.naturkundemuseum.berlin/
[3] http://www.ucl.ac.uk/excites/people/academic-staff/muki-haklay
[4] http://www.mueckenatlas.de/
[5] http://www.izw-berlin.de/tierbeobachtung-melden.html
[6] http://www.izw-berlin.de/willkommen.html
[7] http://www.uni-klu.ac.at/iff/ogi/inhalt/2192.htm
[8] http://www.ioer.de/info/home/
[9] http://www.buergerschaffenwissen.de/
[10] http://www.ufz.de/
[11] http://www.idiv.de/
[12] http://www.naturkundemuseum.berlin/
[13] http://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&a…
[14] http://www.buergerschaffenwissen.de/projekte-finden
[15] http://ecsa.citizen-science.net/sites/ecsa.citizen-science.net/files/ECSA_…
[16] http://theoryandpractice.citizenscienceassociation.org/
## AUTOREN
Manfred Ronzheimer
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