Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Zum Tag der Deutschen Einheit: Blühende Grenzlandschaft
> Einst verlief durch den Schaalsee die innerdeutsche Grenze. Heute boomt
> die Region, in Ost und West getrennt.
Den Radweg gibt es immer noch nicht. Wer von Zarrentin am Schaalsee nach
Groß Zecher radeln will, muss die enge und vielbefahrene Bundesstraße
nehmen. „Geht eigentlich nicht“, sagt Klaus Draeger, der ehrenamtliche
Bürgermeister von Zarrentin. „Aber die alte Grenze ist noch immer
vorhanden.“
Zarrentin gehört zum [1][Kreis Ludwigslust-Parchim] in
Mecklenburg-Vorpommern. Groß Zecher liegt im [2][Kreis Herzogtum
Lauenburg] in Schleswig-Holstein. Bis 1990 verlief zwischen Zarrentin und
Groß Zecher die innerdeutsche Grenze.
Klaus Draeger ist in Zarrentin geboren. Mit der Grenze ist der 67-Jährige
aufgewachsen, gleich hinter der Stadt begann das Sperrgebiet. Draeger
konnte passieren. Als Taxifahrer durfte er Soldaten der NVA, die an der
Grenze stationiert waren, zum nächsten Bahnhof bringen. Seine Tante und die
Cousine und den Cousin aus Hamburg konnte er in Zarrentin allerdings nicht
treffen. Um sie zu sehen, musste er nach Hagenow fahren, die nächste
Kreisstadt.
Heute ist Draeger einer von wenigen Bürgermeistern in Deutschland, die in
einem Kloster arbeiten. Sein Büro liegt im Obergeschoss des ehemaligen
[3][Zisterzienserklosters], im Erdgeschoss befindet sich die Bibliothek.
Die [4][Amtsverwaltung] ist größtenteils in einem Neubau zwischen Kloster
und Kirche untergebracht, Amtsscheune heißt sie und fügt sich erstaunlich
gut ein in das historische Ensemble von Zarrentin am steilen Ufer über dem
Schaalsee.
Die Renovierung des baufälligen Klosters sei „eine der wichtigsten
Investitionen nach der Wende“ gewesen, sagt Draeger. Und es blieb nicht die
letzte. Die einstöckigen Backsteinhäuser in der parallel zum Ufer
verlaufenden Amtsstraße sind hübsch renoviert, hinter dem Kloster hat die
Stadt ein Ärztehaus gebaut, gerade ist der dritte Kindergarten in Planung.
Dazu kommt ein Schulcampus, den sich Zarrentin 40 Millionen Euro kosten
lässt. „Wir sind die Stadt mit der höchsten Wachstumsdynamik in
Mecklenburg-Vorpommern“, freut sich Draeger.
1.500 Einwohnerinnen und Einwohner zählte Zarrentin zur Wende. Heute sind
es fast 5.500. Die Steakhaus-Kette [5][Block House] produziert im
Gewerbegebiet Fertiggerichte, in der Stadt baut Inhaber Eugen Block gerade
ein neues Seehotel. Auch das [6][Fischhaus], das erste Restaurant am Platz,
gehört dem Hamburger.
Zarrentin und das knapp 70 Kilometer entfernte Hamburg, das ist seit der
Wende eine besondere Liaison. „Früher waren wir Sperrgebiet, heute sind wir
Metropolregion Hamburg“, sagt Draeger dazu. „Manchmal ist das Leben auch
gerecht.“
Es gibt sie also, die blühenden Landschaften, die nach der Wende im Osten
entstehen sollten. Nur machen sie an der ehemaligen Grenze noch immer halt.
Dass der Radweg nicht gebaut wurde, hat für Klaus Draeger auch damit zu
tun, dass es keine gemeinsame Vermarktung der Region gibt. „Seitdem ich
2014 im Amt bin, gab es einen einzigen Termin, auf dem das Thema Radweg
diskutiert wurde“, sagt Draeger. „Manchmal ist die Zusammenarbeit etwas
schwierig.“
## Wenn die Vögel kommen
Der [7][Schaalsee] ist mit einer Fläche von 24 Quadratkilometern der
zweitgrößte See in Schleswig-Holstein und der fünftgrößte in
Mecklenburg-Vorpommern. Mit 72 Metern ist er der tiefste See
Norddeutschlands. Doch es sind nicht diese Zahlen, die den Schaalsee
einzigartig machen, sondern es ist die Natur, die sich im ehemaligen
Grenzgebiet nahezu ungestört entwickeln konnte.
Zu Zeiten der deutschen Teilung wurde der Schaalsee zum Rastplatz für
Zugvögel, zu Tausenden sammeln sie sich hier, bevor sie in den Süden
weiterziehen. Das Trompeten der Kraniche gehört ebenso zum Schaalseesound
wie der Schrei der Rohrdommel. Manchmal kreisen Seeadler. 2019 wurde der
Schaalsee vom BUND wegen seiner Artenvielfalt als [8][“Lebendiger See des
Jahres“] ausgezeichnet.
Eine der versteckten Idyllen am Schaalsee ist das [9][Gut Groß Zecher] auf
der schleswig-holsteinischen Seite. Im Café und Restaurant „Zur
Kutscherscheune“ werden regionale Zutaten verarbeitet, das ehemalige
Herrenhaus beherbergt ein Hotel, auf Infotafeln wirbt der [10][Naturpark
Lauenburgische Seen] für die Naturlandschaft am Schaalsee.
1961, im Jahr des Mauerbaus, wurde der Naturpark gegründet, er erstreckt
sich von Ratzeburg im Norden bis Büchen im Süden, von Mölln im Westen bis
nach Groß Zecher am Schaalsee im Osten. „Sie alle möchten friedlich mit
Ihnen zusammenleben“, steht auf einer Tafel über bedrohte Vogelarten.
Für die Naturschützer gestaltet sich das „Zusammenleben“ an der ehemaligen
Grenze allerdings bis heute kompliziert. Im Naturpark Lauenburgische Seen
stehen jene Flächen am Schaalsee unter Schutz, die bis 1990 zur
Bundesrepublik gehörten. Die ehemaligen Gebiete der DDR gehörten seit 1990
zunächst zum Naturpark Schaalsee, seit dem Jahr 2000 sind sie ein
Unesco-[11][Biosphärenreservat].
„Eigentlich waren die Planungen für das Biosphärenreservat
länderübergreifend“, betont Anke Hollerbach. Die 46-Jährige leitet das
Großschutzgebiet seit 2021, ihre Verwaltung sitzt im „Pahlhuus“, dem neu
gebauten Pfahlhaus am Rande von Zarrentin. Mittlerweile ist das Gebäude
samt Besucherzentrum selbst zur Attraktion geworden. Vom Pahlhuus ist es
nur ein Katzensprung zum Moorerlebnispfad im Süden des Schaalsees. Auf
einem Bohlenweg führt der Pfad durch das Kalkflachmoor.
Zu einem grenzüberschreitenden Biosphärenreservat mit Schleswig-Holstein
ist es am Schaalsee nicht gekommen. „Das ist dort am Widerstand der
Flächeneigentümer gescheitert“, bedauert Hollerbach. „Die haben gesagt,
guckt doch mal nach drüben, die dürfen da gar nichts. Das wollen wir hier
nicht.“ Ängste seien das, die sich hartnäckig hielten, obwohl sie sachlich
gar nicht begründet seien.
Umso bedauerlicher findet Hollerbach diese Entscheidung, da auf der ehemals
bundesdeutschen Seite einer Ausweisung nichts im Wege stünde. „Da gibt es
Naturschutzgebiete und auch Gebiete, die nicht mehr bewirtschaftet werden“,
zählt Hollerbach auf. „Damit sind wesentliche Grundvoraussetzungen für die
Ausweisung als Biosphärenreservat erfüllt.“
## Erst Grenzer, dann Ranger
Vorbehalte gegenüber einem Biosphärenreservat gab es auch in Zarrentin,
erinnert sich Bürgermeister Klaus Draeger. „Die Leute haben gesagt: Erst
hatten wir die Grenzer, jetzt kommen die Ranger.“
Tatsächlich ist in Zarrentin nur eine bestimmte Anzahl von Ruderbooten auf
dem See erlaubt. Das Einsetzen von Stand-up-Boards ist untersagt. Zu den
Besonderheiten eines Biosphärenreservats in Mecklenburg-Vorpommern gehört,
dass es die Funktion einer [12][unteren Naturschutzbehörde] übernimmt. Das
Biosphärenreservatsamt kann im Zweifel also auch Verbote aussprechen. Doch
der Stadt ist es gelungen, mit den Kritikern ins Gespräch zu kommen. „Wir
haben den Frust rausgenommen“, sagt Draeger. „Langfristig gesehen konnte
uns nichts Besseres passieren.“
Das kann Anke Hollerbach bestätigen. „Es gibt Untersuchungen, denen zufolge
20 Prozent der Besucherinnen und Besucher alleine wegen des
Biosphärenreservats in die Region kommen“, sagt sie. Das sei in keinem
anderen deutschen Biosphärenreservat der Fall. Anders als etwa der
Spreewald sei der Schaalsee nach der Wende eine No-Name-Region gewesen.
„Den kannte niemand im Westen“, sagt sie. „Der Schaalsee als Tourismusziel
ist erst nach der Wende entstanden. Durch das Biosphärenreservat.“
Unten an der Promenade sind auch im Herbst viele Besucherinnen und Besucher
unterwegs. Manche bewundern die teilweise reetgedeckten, historischen
Bootshäuser, andere lauschen dem Plätschern des glasklaren Wassers. „Im
Sommer ist hier ein Gedränge, da ist an den Wochenenden oft kein
Durchkommen“, sagt Natalie Niehus. Als ehrenamtliche Vorsitzende des
Gewerbe- und Tourismusvereins weiß Niehus, dass es Overtourismus auch in
der deutschen Provinz geben kann.
Wohin aber die Leute schicken, wenn sie anrufen? Am liebsten würde sie für
das Ostufer werben mit seinen Dörfern Techin und Lassahn. Wahre Kleinode,
die allerdings ein Problem haben: Es gibt kaum touristische Infrastruktur.
„Bei uns konzentriert sich alles auf Zarrentin“, sagt Niehus. Wenn
Zarrentin voll ist, schickt Niehus die Urlauber in den Westen nach
Schleswig-Holstein.
Ein Angebot kann Niehus den Gästen nicht unterbreiten: Im Gegensatz zu
anderen ehemaligen Grenzregionen wird das [13][„Grüne Band“] am Schaalsee
nicht beworben. Eigentlich sollte mit dem Projekt des BUND die Möglichkeit
geschaffen werden, an der 1.393 Kilometer langen ehemaligen Grenze zwischen
der Bundesrepublik und der DDR entlang zu wandern.
Am Schaalsee ist der ehemalige Kolonnenweg entlang der Seeufer nicht als
Wanderweg erhalten worden, er ist meist zugewuchert. Ihn wieder zugänglich
zu machen, heißt es von Seiten des Biosphärenreservats, sei ein Eingriff in
die Natur. So steht auf der Bundesstraße zwischen Zarrentin und Groß Zecher
nur ein Schild, das auf die Mauer von 1961 bis 1989 hinweist.
Wachsen Ost und West am Schaalsee zusammen? Oder ist aus der Grenze
zwischen DDR und Bundesrepublik nun eine Grenze zwischen zwei Bundesländern
geworden, die mehr teilt als verbindet?
Beim Naturschutzgroßprojekt „Schaalseelandschaft“ arbeiten beide Landkreise
seit langem erfolgreich zusammen. Sogar ein Zweckverband wurde gegründet,
dem es gelungen ist, mit Bundes- und Landesmitteln, aber auch mit Geldern
des WWF, Flächen aufzukaufen und stillzulegen. Eine „Marke“ wie das
Biosphärenreservat ist daraus aber nicht geworden. „Das Ausflugsziel auf
der schleswig-holsteinischen Seite“, sagt Anke Hollerbach, „ist noch immer
der Naturpark Lauenburgische Seen“.
Wie der Landkreis Ludwigslust-Parchim ist auch der Kreis Herzogtum
Lauenburg eine Wachstumsregion. Ende 2021 wurde die 200.000er-Marke
gerissen, 200.800 Menschen leben nun im Landkreis. 1995 lag die
Bevölkerungszahl noch bei 170.000. Vor allem aus Hamburg kommen die
Zuzügler in Ratzeburg, Salem oder auch Groß Zecher am Schaalsee. Und in
Zarrentin.
Für die stadtmüden Hamburgerinnen und Hamburger gibt es die alten Grenzen
nicht mehr. Für die Zarrentiner schon. „Mit den Hamburgern knirscht es
immer wieder mal“, lacht Bürgermeister Draeger. „Da kommen manche, da darf
dann hier kein Hahn krähen, und es darf nicht nach Gülle riechen.“
Draeger erinnert sich an eine Sitzung des Bauausschusses. Auch da ging es
um die besondere Liaison zwischen Zarrentin und Hamburg. „Da saßen drei
Hamburger, die ich nicht kannte, und meinten, wenn da nicht bald ein Zug
fährt, dann ziehen sie wieder weg.“
Draeger lächelt. „Ich hab dann nichts gesagt, aber jeder wusste, was ich
gedacht habe.“
3 Oct 2022
## LINKS
[1] https://www.kreis-lup.de/
[2] https://www.kreis-rz.de/index.php
[3] https://www.kloster-zarrentin.de/
[4] https://www.amt-zarrentin.de/
[5] https://www.block-menue.de/de/
[6] https://www.fischhaus-schaalsee.de/
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Schaalsee
[8] https://www.welt.de/regionales/hamburg/article190716771/Schaalsee-als-Leben…
[9] https://www.gutgrosszecher.de/
[10] https://www.naturpark-lauenburgische-seen.de/
[11] https://www.schaalsee.de/
[12] https://www.schaalsee.de/schuetzen-entwickeln/untere-naturschutzbehoerde/e…
[13] https://www.bund.net/gruenes-band/?gclid=CjwKCAjwvsqZBhAlEiwAqAHElT65RdRMv…
## AUTOREN
Uwe Rada
## TAGS
Schwerpunkt Stadtland
Deutsche Einheit
Mecklenburg-Vorpommern
Naturschutzgebiet
GNS
Umweltschutz
Schwerpunkt Stadtland
DDR
## ARTIKEL ZUM THEMA
Eiserner Vorhang erfolgreich begrünt: Ein Korridor für die Waldbirkenmaus
Friedenssymbol und ausgezeichnetes Biotop: Das „Grüne Band“ entlang des
ehemaligen Eisernen Vorhangs soll weiter wachsen.
Jugend im DDR-Grenzgebiet: Zutritt nur mit Berechtigung
Unser Autor lernte im Schaalsee schwimmen und ging in Zarrentin ins
Restaurant auf eine Bockwurst. Jetzt war er im Urlaub da.
Autorin über Deutsche Einheit: „Endlich ins Gespräch kommen“
Auch nach mehr als 30 Jahren Einheit ist das nötig, sagt die Autorin Dagrun
Hintze. Und macht mit ihrem Buch „Ostkontakt“ ein Angebot dazu.
Grenzerfahrungen: Der Weg der Steine
Von der Ostsee an die Elbe: 157 Kilometer mit Fahrrad und Schiff an der
ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, vorbei an abgeschiedenen
Flusslandschaften, verfallenen Gutshöfen - und wieder aufgebauten
Grenzanlagen.
Riesiges Grenzbiotop: Die Grüne Transformation
Die Biotope am ehemaligen Todesstreifen durch Europa haben das Begehren der
Naturschützer geweckt
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.