Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Grenzerfahrungen: Der Weg der Steine
> Von der Ostsee an die Elbe: 157 Kilometer mit Fahrrad und Schiff an der
> ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, vorbei an abgeschiedenen
> Flusslandschaften, verfallenen Gutshöfen - und wieder aufgebauten
> Grenzanlagen.
Bild: Wo man die Grenzanlagen wieder aufgebaut hat: In Schlagsdorf.
Es ist ein Weg der Steine, der Gedenksteine. Im Ostseebad Travemünde, am
einstigen Grenzübergang im Lübecker Stadtteil Schlutup, der jetzt ein
Museum ist, und am Bahnhof Büchen stehen sie entlang der ehemaligen
deutsch-deutschen Grenze, Findlinge aus grauem oder rotem Granit mit
bedeutungsschweren Inschriften. "Nie wieder geteilt" über den Landeswappen
von Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein oder "Slut up getrennt
1945 - 1989" wurden 1990 in Stein gemeißelt, "Büchen Tor zur Freiheit"
steht bereits seit 1955 und deshalb leicht verwittert auf dem einstigen
BRD-Grenzbahnhof an der Transitstrecke zwischen Berlin und Hamburg.
Und wenige Kilometer nordöstlich in der Nähe der Autobahnraststätte Gudow,
deren Betonplatten auf Parkplatz und Auffahrt noch heute erkennen lassen,
dass hier der DDR-Grenzkontrollpunkt an der Transitautobahn war - dort
also, wo das Sträßchen dritter Ordnung von Fortkrug nach Bröthen durch ein
einsames Waldstück führt, erinnern ein Kreuz und ein Gedenkstein an Michael
Gartenschläger.
In der Nacht zum 1. Mai 1976 wird der 32-jährige Hamburger
Tankstellenpächter wenige hundert Meter entfernt von einem Sonderkommando
der Staatssicherheit erschossen. Er versuchte, am Grenzzaun eine
Selbstschussanlage abzubauen, um die Existenz der Tötungsmaschinen zu
beweisen, welche die DDR bis dahin abgestritten hatte. Im März und April
gelang Gartenschläger das bereits zwei Mal, der dritte Versuch wird dem
Mann, der in der DDR als politischer Gefangener inhaftiert und 1971 von der
Bundesrepublik freigekauft wurde, zum Verhängnis.
Gartenschlägers Leichnam wird im Stasi-Auftrag auf dem Waldfriedhof von
Schwerin als "unbekannte Wasserleiche" beigesetzt. Noch 30 Jahre später, im
Frühjahr 2006, lehnt es die Stadtversammlung seines brandenburgischen
Heimatortes Strausberg bei Berlin ab, eine Straße nach Michael
Gartenschläger zu benennen. Auf seinem Gedenkstein am Waldweg steht: "Er
rüttelte am Gewissen der freien Welt".
157 Kilometer lang ist der nördlichste Abschnitt der ehemaligen
deutsch-deutschen Grenze von der Ostsee bis zur Elbe. Der einstige
Todesstreifen ist in weiten Abschnitten ein grünes Band, denn in dem
Niemandsland konnten sich Flora und Fauna nahezu ungestört entwickeln. Am
nächsten kommt man dem Grenzverlauf mit dem Fahrrad auf den Kolonnenwegen
der DDR-Grenztruppen, soweit diese Lochbetonstrecken noch erhalten sind.
Östlich der Travemünder Halbinsel Priwall erstreckt sich ein fast
naturbelassener Strand, wie er erst wieder in Polen und im Baltikum zu
finden ist. Auf gut 14 Kilometer Länge bis fast zum Ostseebad Boltenhagen
war er zu DDR-Zeiten mit Mauern und Zäunen versperrt. Gleich nach der Wende
wurden die Dünen und Wäldchen zu oft nur wenige hundert Meter breiten
Naturschutzgebieten erklärt - sonst wären sie wohl längst einer
durchgehenden Ferienhaussiedlung gewichen.
Relativ unberührt sind auch die Pötenitzer Wiek und der Dassower See. Diese
Buchten der Trave kurz vor ihrer Mündung in die Ostsee gehörten zur BRD,
das Ufer aber zur DDR. Weil die Naturschutzgebiete nicht mal mit dem Kajak
befahren werden durften, entwickelten sie sich zu Vogelbiotopen erster
Güte. Die Bewohner von Pötenitz und Dassow hatten nichts davon: Meterhohe
Mauern trennten sie von der Trave, das Gut Johannstorf mit dem
Wasserschloss wurde dem Verfall überlassen.
Die Zeit scheint dort so stehen geblieben zu sein, dass es im vorigen Jahr
als Kulisse für "Das weiße Band" taugte. Der deutsche Film, der Ende Mai
bei den Filmfestspielen in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet
wurde, spielt kurz vor dem Ersten Weltkrieg - und viel moderner sieht
Johannstorf in der Tat nicht aus. Immerhin wurde das Gut nicht geschleift
wie andere Grenzorte: Vom nur wenige Kilometer entfernten Bardowiek zeugen
nur noch Protestparolen auf dem Trafoturm an der Landstraße.
In deutsch-deutscher Abgeschiedenheit hat die Wakenitz ihren Charme
bewahrt, wenngleich der gern bemühte Begriff "Amazonas des Nordens" ein
wenig hoch gegriffen ist. Wie schon der aus dem Slawischen stammende Name
"Barsch-Fluss" nahe legt, ist das nicht einmal 15 Kilometer lange
Grenzflüsschen, das aus dem Ratzeburger See kommt und in Lübeck in die
Trave mündet, äußerst fischreich. Am besten ist der oft nur 30 Meter breite
Fluss mit dem Kanu oder den flach gehenden Ausflugsschiffen der Reederei
Quandt von Lübeck bis Rothenhusen am Ratzeburger See zu erkunden. Das
Westufer zieren drei Ausflugslokale in regelmäßigen Abständen - diese sind
auch zu Fuß auf dem jedoch nicht immer direkt am Fluss entlangführenden, 18
Kilometer langen Drägerweg erreichbar. Das Ostufer ist von undurchdringlich
scheinendem Unterholz bewachsen.
Früher warnten dort die schwarz-roten Grenzpfähle der DDR vor dem Anladen
im sozialistischen Teil Deutschlands - jetzt lugt gelegentlich ein Nandu
durch den Blätterwald. Vor etwa zehn Jahren brachen einige der
südamerikanischen Laufvögel von einer Straußenfarm auf der
schleswig-holsteinischen Seite aus, inzwischen bevölkern um die 100
wildlebende Tiere beide Ufer. Gejagt werden dürfen sie nicht und
Fressfeinde haben sie nicht - eine Erfolgsgeschichte der Zuwanderung ins
vereinte Deutschland.
Brunshorst und Stoffershorst hießen die beiden Höfe auf mecklenburgischer
Seite, die von der DDR platt gemacht wurden. Zu nah an der Grenze lagen
diese Opfer der deutsch-deutschen Teilung, und auf dem Schiff macht Kapitän
Kay Thurau auf die Lichtungen mit den verwilderten Obstbäumen aufmerksam.
Wenige Kilometer weiter zeugt eine Lichtung auf dem Westufer von einem
Verlierer der Wiedervereinigung, dem Weiler Nädlershorst, der im Volksmund
"Russische Botschaft" hieß. Ein russischer Kriegsgefangener, der auf einem
Gut auf der mecklenburgischen Seite arbeitete, floh im Mai 1945 vor der
anrückenden Roten Armee über die Wakenitz nach Westen. In Nädlershorst fand
er später Arbeit und betrieb eine kleine Schankwirtschaft - die Russische
Botschaft. 2003, ein Jahr nach seinem Tod, mussten die letzten zehn
Einwohner der 320 Meter langen Wakenitzbrücke weichen, die zur
Ostseeautobahn A 20 gehört, dem größten Projekt des "Verkehrsprogramms
Deutsche Einheit".
Mit der deutsch-deutschen Vergangenheit setzt sich das "Grenzhus"
auseinander, das Museum der innerdeutschen Grenze nordöstlich von Ratzeburg
in Schlagsdorf. Die Grenze verlief vor dem Dorf durch den Mechower See, den
die Dorfbewohner sehen, aber nicht betreten konnten. Mehr als 40 Jahre war
Baden verboten. Auf einem fußballfeldgroßen Freigelände sind Grenzanlagen
mit Originalteilen nachgebildet: Metallgitterzaun, KFZ-Sperrgraben,
Hundefreilaufanlage, Beobachtungsbunker, Wachtürme, Betonsperrmauer.
Mindestens 100 Meter, je nach Gelände bis zu zwei Kilometer breit waren
diese Grenzstreifen. In Schlagsdorf kann man sie von beiden Seiten angehen
- von Osten und von Westen. Bedrückend sind beide Annäherungen.
Die restlichen Kilometer bis zur Elbe führen durch eine hügelige,
waldreiche Moränenlandschaft mit nur wenigen verschlafenen Dörfern. Das
Unesco-Bio-sphärenreservat Schaalsee und den angrenzenden Naturpark
Lauenburgische Seen behandelt das Naturinfozentrum Pahlhuus in Zarrentin.
Auf der anschließenden flachen Strecke am Elbe-Lübeck-Kanal bis nach
Lauenburg liegen zwei durchaus eigenwillige Höhepunkte wenige Kilometer von
der Grenze entfernt. Der einstige DDR-Bahnhof Schwanheide war
jahrzehntelang ein Brennpunkt deutsch-deutschen Grenzverkehrs. Und dem
Jugendbahnhof Hollenbek, der auf Geheiß von Kaiser Wilhelm II. erbaut
wurde, und wo heute die Waggons in den Bäumen hängen, sagen manche eine
rosige Zukunft vorher.
17 Jul 2009
## AUTOREN
Sven-Michael Veit
Sven-Michael Veit
## TAGS
Schwerpunkt Stadtland
Fotografie
## ARTIKEL ZUM THEMA
Zum Tag der Deutschen Einheit: Blühende Grenzlandschaft
Einst verlief durch den Schaalsee die innerdeutsche Grenze. Heute boomt die
Region, in Ost und West getrennt.
Vermeintlicher Skandal im Ostseebad: Fotoverbot am Badestrand
Das Fotografieren halbnackter Badegäste am Ostseestrand solle verboten
werden, berichten einige Medien. Doch das Aus fürs Urlaubsfoto ist nur eine
Ente.
Grenzerfahrungen (II): Bahnhof des Grauens
Der Bahnhof Schwanheide war ein Knotenpunkt im deutsch-deutschen
Grenzverkehr. Der Reichsbahner Norbert Weise war hier Fahrdienstleiterk.
Der Arzt Arthur A. Keller dagegen ist heute mit seinem Kunsthaus größter
Arbeitgeber.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.