| # taz.de -- Jugend im DDR-Grenzgebiet: Zutritt nur mit Berechtigung | |
| > Unser Autor lernte im Schaalsee schwimmen und ging in Zarrentin ins | |
| > Restaurant auf eine Bockwurst. Jetzt war er im Urlaub da. | |
| Bild: Durch den Schaalsee verlief einmal die innerdeutsche Grenze | |
| Zarrentin taz | Die letzten Augusttage dieses Sommers verbrachte ich eine | |
| Urlaubswoche zusammen mit meinem Mann in [1][Zarrentin am Schaalsee]. | |
| Ausschlaggebend waren nostalgische Gründe. Ich wollte endlich einmal in | |
| meiner alten Heimat Ferien machen. Denn ich stamme aus dem [2][Dorf | |
| Gallin], gerade mal zehn Kilometer weit entfernt von Zarrentin, und kenne | |
| die kleine Stadt von Kindesbeinen an. | |
| Ich verbinde schöne, angenehme Erinnerungen mit Zarrentin in DDR-Zeiten, | |
| damals eine klitzekleine Stadt. Im Schaalsee hab ich schwimmen gelernt. Mit | |
| Mutters ging es mit dem Bus öfters nach Zarrentin. Softeis essen. Ins | |
| [3][Landambulatorium] – eine der positiven Errungenschaft der DDR –, wenn | |
| es sein musste. | |
| Wir gingen zum Friseur, kauften in der Hauptstraße, der Einkaufsstraße mit | |
| den meisten Geschäften (darunter auch ein Spielwarenladen), all das ein, | |
| was es im Dorfkonsum nicht gab. Ließen uns beim Fotografen ablichten. Und | |
| aßen gegen Mittag, kurz bevor der Bus zurück ins Heimatdorf fuhr, auf der | |
| Hauptstraße immer in derselben Restauration, deren Namen ich längst | |
| vergessen habe, wo aber unsere Nachbarin Frau B. aus meinem Dorf arbeitete. | |
| Jedes Mal Kartoffelsalat mit Bockwurst. | |
| Viel mehr gab es da auch nicht. Aber es war stets lecker. Zumindest in | |
| meiner Erinnerung. Auch wenn das ja so eine Sache mit den Erinnerungen ist. | |
| Aber eins ist gewiss: Zarrentin, damals noch ohne „am Schaalsee“ im Namen | |
| (das kam 2004), war eine beschauliche, entspannte, unaufgeregte Kleinstadt. | |
| Nur: Die Stadt lag (wie auch mein Heimatdorf) im Sperrgebiet. Die | |
| Staatsgrenze zur BRD war überhaupt nicht weit. In Zarrentin ging sie quer | |
| durch den See (siehe Grafik) und von meinem Dorf aus waren es keine drei | |
| Kilometer; richtig nahe kam man der gut bewachten Grenze aber nicht. Wer | |
| wie ich hier lebte, hatte einen Stempel im DDR-Personalausweis, der zum | |
| Betreten des Sperrgebiets berechtigte, eben weil man das „Wohnrecht in der | |
| 5-km-Sperrzone“ (so der DDR-Jargon) besaß. | |
| Der „Perso“ mit dem Stempel war wichtig, weil es Kontrollen an Schlagbäumen | |
| auf den Straßen hinein ins Sperrgebiet gab. Volkspolizisten, mitunter | |
| standen an ihrer Seite auch Soldaten mit Gewehren über der Schulter am | |
| Schlagbaum, taten hier ihren Dienst und kontrollierten die Businsassen oder | |
| die Leute in den Trabis. | |
| Für Leute mit Stempel war das kein Problem. Für alle anderen schon. | |
| Klassenkameraden aus dem Nachbardorf zum Beispiel konnten nicht mal eben zu | |
| Besuch vorbeikommen; Verwandte mussten Wochen vorher einen „Passierschein“ | |
| beantragen (der auch schon mal nicht genehmigt wurde). | |
| Das mit dem Passierschein war vor allem wegen der Disco blöd. Einmal im | |
| Monat fand sie statt, im Saal neben der Dorfgaststätte, und es mangelte uns | |
| immer an Gästen – weil die Jugendlichen aus den Nachbargemeinden, außerhalb | |
| des Sperrgebietes liegend, ja nicht in unser Dorf hinein durften. Außer sie | |
| waren ganz mutig: Denn die Schlagbäume waren nicht immer durchgängig | |
| besetzt, schon gar nichts abends oder nachts. | |
| Und mit Grusel erinnere ich mich an die Zugfahrten von [4][Hagenow], zu | |
| DDR-Zeiten unsere Kreisstadt, nach Zarrentin hinein (leider ist die Stadt | |
| seit Langem vom Regionalverkehr abgekoppelt). Weil der Zug mitten ins | |
| Sperrgebiet hineinfuhr, wurde drinnen nicht nur der Personalausweis | |
| kontrolliert. Draußen sah man kilometerweit entlang den Schienen Stahlseile | |
| hängen, an denen Hunde – oft Schäferhunde – hin und her liefen. Zur | |
| Abschreckung. Wahrscheinlich für den Fall der Fälle, dass sich im Zug | |
| jemand aufhielt, der illegal ins Sperrgebiet einreisen und aus dem Zug | |
| springen könnte, weil er, oh Gott, oh Gott, rübermachen wollte. | |
| Es gab immer wieder mal entsprechende Geschichten, hinter vorgehaltener | |
| Hand geflüstert, dass jemand versucht habe, über den Schaalsee zu kommen … | |
| aber zu DDR-Zeiten war das Geraune groß. Wir haben als Jugendliche, mit zu | |
| viel süßem Wein oder Kirschlikör im Blut, öfter Witze über die Grenze | |
| gemacht und uns war klar, dass man diese Witze nicht laut erzählten durfte, | |
| weil eben immer die Möglichkeit bestand, dass da jemand mithört, der es | |
| weiterträgt … | |
| Tja, Zarrentin. Eine Stadt, mit der ich viele Erinnerungen verbinde. Eine | |
| beschauliche, entspannte, unaufgeregte – als gestresster Großstadtbewohner | |
| würde ich nun hinzufügen: lebenswerte – Kleinstadt ist Zarrentin am | |
| Schaalsee heute noch, ja mehr denn je. Schöner als zu DDR-Zeiten, | |
| lebendiger zudem, auch wenn in der [5][Einkaufsstraße] viele Läden längst | |
| verschwunden sind. Und es gibt jetzt Touristen, oft aus dem nahen | |
| westdeutschen Norden, aber auch von woanders her. | |
| Und viel Neues: Hier ein Café am Kloster, dort ein italienisches Restaurant | |
| am Schaalsee neben der Badestelle – auf einen Aperitif im ehemaligen | |
| Grenzgebiet! –, die Stadtinformation [6][„Schaalsee-Info“, die jetzt | |
| zugleich ein Regionalwarenladen] ist (mit richtig gutem Käse), oder | |
| [7][„Backverrückt“], eine junge Bäckerei mit alten Wurzeln in der Region, | |
| wo es wohl das beste Brot in Westmecklenburg gibt. | |
| Im Urlaub hab ich einen Ort für mich entdeckt: Am Südrand des Schaalsees | |
| gibt es ein [8][Kalkflachmoor], das man über einen langen Holzsteg | |
| trockenen Fußes durchlaufen kann. Das ist wunderschön. So wie andere | |
| erwanderte Ecken rund um den See, die ich noch nicht kannte. | |
| Das mit der Urlaubswoche in der alten Heimat war eine gute Idee. Nächstes | |
| Jahr wieder. Denn Sperrgebiete gibt es, außer aus Naturschutzgründen, ja | |
| nicht mehr. | |
| 3 Oct 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.zarrentin.de/ | |
| [2] https://www.gemeinde-gallin.de/ | |
| [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Landambulatorium | |
| [4] https://de.wikipedia.org/wiki/Hagenow | |
| [5] https://www.zarrentin.de/einkaufen.html | |
| [6] https://www.schaalsee-info.de/ | |
| [7] https://de-de.facebook.com/login/?next=https%3A%2F%2Fde-de.facebook.com%2Fb… | |
| [8] https://www.schaalsee.de/wissen-verstehen/natur-landschaft/lebensraeume | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Hergeth | |
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