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# taz.de -- Arbeitskampf an der Charité: Krankes System
> Beim ersten Ärzte-Streik an der Charité seit 15 Jahren fordern
> Mediziner*innen bessere Arbeitsbedingungen. Dabei geht es um mehr als
> höhere Löhne.
Bild: Rund 1.000 Ärzt*innen haben am Mittwoch vor der Charité für bessere Ar…
Berlin taz | „It’s not charity, it’s work“, steht auf den T-Shirts, die…
Ärzt*innen unter ihren weißen Kitteln tragen. Davon sieht man viele an
diesem Mittwochmorgen: Rund 1.000 Mediziner*innen und solche, die es
werden wollen, haben sich vor dem Bettenhochhaus der Charité in
Berlin-Mitte versammelt. Die Gewerkschaft Marburger Bund hat die rund 2.700
Ärzt*innen der drei Standorte von Europas größter Universitätsklinik
[1][zum ersten Streik seit 15 Jahren aufgerufen].
„Wir können einfach nicht mehr. Wir sind müde und überarbeitet“, sagt
Assistenzärztin Jana Reichardt. Sie ist nicht die Einzige. Viele
Ärzt*innen berichten auf der Streikkundgebung von 80-Stunden-Wochen,
zahllosen Bereitschaftsdiensten, kaum freien Wochenenden, zu wenig Zeit für
die Patient*innen sowie das eigene Privatleben und immer wieder:
mangelnde Wertschätzung.
„Ich bin an der Grenze meiner Belastbarkeit angekommen“, sagt ein
Intensivmediziner, der gerade eine 17-Stunden-Schicht hinter sich hat. „Ich
liebe meinen Beruf. Aber nicht mit diesen Arbeitsbedingungen.“ Noch
wichtiger als mehr Lohn ist für ihn daher eine Arbeitszeitbegrenzung, wie
es sie auch für Pilot*innen oder Kraftfahrer*innen gibt. Immerhin
stehe auch bei übermüdeten Ärzt*innen das Leben von Menschen auf dem
Spiel: sowohl das der Patient*innen als auch das der
Mediziner*innen, die eine deutlich höhere Suizidrate aufweisen als die
Gesamtbevölkerung.
„Ich stand vor der Wahl: kaputtzugehen oder laut zu werden“, sagt Jana
Reichardt. Die junge Ärztin hat sich für Letzteres entschieden und kämpft
nun in der Tarifkommission für bessere Arbeitsbedingungen. Seit März
verhandelt der Marburger Bund mit der von den Demonstrant*innen
spöttisch „Sparité“ genannten landeseigenen Klinik über den
Haustarifvertrag. In drei Verhandlungsrunden mit insgesamt sieben
Sondierungsgesprächen konnte jedoch bislang keine Einigung erzielt werden.
## Gewerkschaft: Angebot der Charité unzureichend
Der Marburger Bund fordert unter anderem verlässliche Dienstpläne, weniger
Bereitschaftsdienste, Zuschläge für kurzfristiges Einspringen und 6,9
Prozent mehr Gehalt. Laut Charité sind die Verhandlungen durch die Vielzahl
an Themen „sehr komplex, aber konstruktiv“. Man habe ein „differenziertes
Paket mit Angeboten zu Arbeitszeit und Entlastung, Fort- und Weiterbildung,
Entbürokratisierung und Gleichstellung“ vorgelegt.
Das sieht die Gewerkschaft anders. „Das vorgelegte Angebot ist völlig
unzureichend“, sagt Peter Bobbert, Vorstandsvorsitzender des Marburger
Bundes Berlin-Brandenburg. Die angebotene Lohnerhöhung von 1,9 Prozent in
diesem und 1,6 Prozent im nächsten Jahr sei angesichts der Inflation nicht
ausreichend, die belastenden Arbeitsbedingungen würden nicht angetastet.
Die Antwort der Ärzt*innen ist klar: „Nicht mit uns!“, tönt es immer
wieder über den Robert-Koch-Platz.
Es sind auffällig viele junge Menschen, die sich an dem Ausstand
beteiligen. Der Medizin drohe angesichts der „abschreckenden
Arbeitsbedingungen“ ein Nachwuchsproblem, sagt eine Studentin im
Praktischen Jahr. Auch sie habe schon oft darüber nachgedacht, aufzuhören.
Damit ist sie nicht allein: Laut einer aktuellen Befragung von fast 8.500
Charité-Beschäftigten überlegt fast ein Viertel aufzugeben. „Wir brennen
für unseren Beruf, aber wir lassen uns nicht verheizen“, ruft die
Gewerkschaftsvorsitzende Susanne Johna den applaudierenden Ärzt*innen zu.
## Auch die Politik ist gefragt
Unterstützt werden die Mediziner*innen von der Berliner
Krankenhausbewegung, die vor einem Jahr nach langem Streik [2][einen
Entlastungstarifvertrag für Pflegekräfte] an der Charité ausgehandelt hat.
Gemeinsam mit den Ärzt*innen wollen sie strukturelle Veränderungen wie
ein Ende der [3][umstrittenen Fallpauschalenvergütung] durchsetzen.
„Krankes System“ und „Diagnose: systemisch-progressive Profitgeilheit“ …
auf Plakaten zu lesen.
Streiken war im Gesundheitssektor lange verpönt, obwohl für den Zeitraum
der Arbeitsniederlegung eine Notfallversorgung sichergestellt ist.
Angestellte berichten, sie seien von Vorgesetzten unter Druck gesetzt
worden, sich nicht an dem Ausstand zu beteiligen.
Abschrecken tut das die wenigsten. „Wir sind zu viele, um uns unter Druck
zu setzen“, sagt Julian Gabrysch. Der Arzt in Weiterbildung hat mit
Kolleg*innen [4][die Berliner Ärzt*inneninitiative gegründet], um
die Forderungen nach mehr Investitionen und Personal auch auf die
politische Ebene zu tragen. „Das ist nicht nur ein Charité-Problem, das
betrifft alle Krankenhäuser“, ist der junge Arzt überzeugt.
5 Oct 2022
## LINKS
[1] /Warnstreik-an-der-Charite/!5884718
[2] /Berliner-Krankenhausbewegung/!5807315
[3] /Defizite-im-Gesundheitssystem/!5859409
[4] /Aerztinnen-zum-Charite-Streik/!5886171
## AUTOREN
Marie Frank
## TAGS
Arbeitskampf
Gesundheitspolitik
Warnstreik
Ärzte
Krankenhäuser
Marburger Bund
IG
Tarifstreit
Kapitalismus
Charité
Vivantes
Kolumne Krank und Schein
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