# taz.de -- Revision zu Fretterode-Urteil eingelegt: „Nicht im Ansatz plausib… | |
> Für einen brutalen Angriff auf zwei Journalisten bekamen zwei Neonazis | |
> ein mildes Urteil. Staatsanwaltschaft und Nebenklage legen Revision ein. | |
Bild: Das Urteil gegen die Angeklagten löste große Empörung aus | |
BERLIN taz | Das [1][Urteil] verursachte einen bundesweiten Aufschrei. Die | |
Deutsche Journalistenunion äußerte sich „empört und fassungslos“. Der | |
Rechtsstaat dürfe so nicht mit Journalist*innen umgehen. Der Deutsche | |
Journalistenverband sprach von einem „haarsträubenden Gerichtsurteil“ und | |
einem „fatalen Signal in Richtung der rechten Szene“. | |
Zuvor hatte das Landgericht Mühlhausen zwei Neonazis zu [2][äußerst milden | |
Strafen] für einen brutalen Angriff auf zwei Journalisten im Jahr 2018 im | |
Thüringer Fretterode verurteilt. Am Freitag erklärten nun | |
Staatsanwaltschaft und Nebenklage, dass sie dagegen Revision einlegen | |
werden. | |
„Wir wollen das Urteil vom Bundesgerichtshof rechtlich überprüfen lassen“, | |
sagte Staatsanwalt Benedikt Ballhausen der taz. Anders als das Gericht | |
ziehe man die Glaubwürdigkeit der angegriffenen Nebenkläger nicht in | |
Zweifel. Auch habe das Gericht die politische Motivation der Angreifer | |
„nicht hinreichend berücksichtigt“. | |
Sven Adam, Anwalt eines der angegriffenen Journalisten, sprach ebenso von | |
einem „unfassbaren und lächerlichen Urteil“. Noch befinde man sich in | |
Gesprächen und rechtlicher Prüfung. Das Ziel aber sei klar, so Adam zur | |
taz: „Wir wollen uns der Revision der Staatsanwaltschaft anschließen.“ | |
## Mit Schraubenschlüssel und Messer attackiert | |
Die beiden Journalisten hatten im April 2018 ein Neonazi-Treffen auf dem | |
Anwesen der Thüringer NPD-Größe [3][Thorsten Heise] in Fretterode | |
dokumentiert. Daraufhin liefen von dem Gespräch sein Sohn Nordulf H. und | |
dessen Bekannter Gianluca B. auf sie zu, verfolgten sie mit ihrem Auto und | |
versuchten sie von der Straße zu drängen. Als die Journalisten sich in | |
einem Straßengraben festfuhren, sollen der 23- und 28-Jährigen sie [4][mit | |
einem Schraubenschlüssel, Baseballschläger, Messer und Reizgas attackiert], | |
das Auto zertrümmert und eine Kamera geklaut haben. Die Opfer erlitten eine | |
Stichverletzung am Oberschenkel, eine blutende Kopfwunde und Prellungen. | |
Der PKW war ein Totalschaden. | |
Nach einjähriger Verhandlung verurteilte das Landgericht Mühlhausen | |
Gianluca B. dafür zu einem Jahr auf Bewährung und Nordulf H. zu einer | |
Jugendstrafe von 200 Arbeitsstunden. Die Angeklagten hätten die Opfer nicht | |
als Journalisten, sondern [5][als Angehörige der linken Szene | |
identifiziert], erklärte die Richterin. Dafür spreche, dass sie bei dem | |
Angriff als „Zecken“ tituliert wurden – was in den Augen des Gerichts | |
allerdings ein geläufiger Begriff sei und noch keinen Rückschluss auf die | |
politische Gesinnung der Täter zulasse. | |
## Staatsanwaltschaft wollte mehrere Jahre Haft | |
Die Staatsanwaltschaft hatte dagegen gut drei Jahre Haft für Gianluca B. | |
und eine neunmonatige Bewährungsstrafe für Nordulf H. gefordert. Die | |
Behörde geht nicht nur gegen die Verneinung der politischen Motivation der | |
Angreifer vor, sondern greift auch einen zweiten Punkt auf. So sah das | |
Gericht auch den Raub der Kamera der Journalisten als nicht nachgewiesen an | |
– Nordulf H. und Gianluca B. hatten diesen schlicht bestritten. „Das ist | |
nicht im Ansatz plausibel“, sagte Staatsanwalt Ballhausen der taz. Zwar ist | |
die Kamera bis heute verschwunden, tatsächlich aber gibt es sogar ein Foto | |
des Angriffs, einer der Journalisten hatte die Speicherkarte der Kamera in | |
seiner Socke versteckt. | |
Es ist dieser Revisionspunkt, dem sich laut Nebenklageanwalt Adam auch | |
einer der angegriffenen Journalisten anschließen will. „Das Urteil ist ein | |
Schlag ins Gesicht der beiden Nebenkläger“, erklärte Adam. Statt die | |
„Hetzjagd“ angemessen zu bestrafen, habe das Gericht „Verständnis für d… | |
Gedankenwelt gewalttätiger Neonazis“ offenbart. Das bleibe „unbegreiflich�… | |
## Nicht die einzige Justizposse in Thüringen | |
Derweil beschäftigt auch eine zweite Posse die Thüringer Justiz. Im August | |
war vor dem Landgericht Erfurt der Prozess gegen die [6][rechtsextremen | |
„Turonen“] wegen Drogenhandels in großen Stil geplatzt. Einer der | |
Angeklagten, der [7][Szeneanwalt Dirk Waldschmidt], war laut seinen | |
Verteidigern nicht mehr verhandlungsfähig, weil an einem | |
Bandscheibenvorfall erkrankt. Das Gericht ließ den Prozess darauf platzen – | |
zum Unverständnis der Staatsanwaltschaft. Auch politische | |
Prozessbeobachter*innen von SPD, Grünen und Linke kritisierten den | |
Schritt. | |
Nun soll am 10. Oktober der Prozess neu gestartet werden, wie ein Sprecher | |
des Landgerichts der taz am Freitag bestätigte. Ob dabei mit oder ohne | |
Waldschmidt verhandelt wird, blieb vorerst offen. Seine Verteidigerin | |
[8][Nicole Schneiders] sagte am Freitag der taz, der Gesundheitszustand | |
ihres Mandanten habe sich nicht geändert. Das Gericht müsse nun | |
entscheiden, ob sie dessen Verfahren abtrennt oder nicht. | |
Befürchtet wurde, dass durch den geplatzten Prozess auch die bereits seit | |
anderthalb Jahren andauernden Haftbefehle gegen sechs der neun Angeklagten | |
aufgehoben werden könnten. Das Thüringer Oberlandesgericht teilte am | |
Freitag aber mit, dass eine Fortdauer der Haft angeordnet wurde und die | |
Haftprüfungsbeschwerden zurückgewiesen wurden. | |
## Haftbefehle haben Bestand | |
Es gebe weiterhin einen dringenden Tatverdacht gegen die Beschuldigten, | |
begründete das Gericht seinen Beschluss. Auch bestehe eine Flucht- und | |
Verdunkelungsgefahr fort. Eine Untersuchungshaft auch über anderthalb Jahre | |
hinaus sei damit gerechtfertigt. | |
Die Beschuldigten wurden [9][im Februar 2021 verhaftet]. Mehrere von ihnen | |
werden den rechtsextremen „Turonen“ zugerechnet, die in der Vergangenheit | |
Rechtsrockkonzerte organisierten. Die Anklage wirft ihnen nun | |
[10][Drogengeschäfte, Waffenverstöße, Geldwäsche und einen Fall von | |
Zwangsprostitution] vor. | |
16 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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