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# taz.de -- Vereinigtes Königreich in der Krise: Das Ende eines Zeitalters
> Schwierige Transformation in Großbritannien: Wie liegen die Dinge auf der
> Insel nach den Machtübernahmen von Premier Liz Truss und König Charles
> III.?
Bild: Liz Truss im Trauergefolge in der Westminster Hall
Auch wenn in der Leserschaft der taz nur eine verschwindend geringe Anzahl
Monarchisten zu vermuten ist, sei gesagt, dass ich selbst – als ein in der
Wolle mit schwäbischem Republikanismus gefärbter, seit 1981 in London
lebender Deutscher – lange für die mich immer wieder aufs Neue verwundernde
Einsicht gebraucht habe: Trotz erheblicher Krisen hat sich die Krone selbst
im postindustriellen Britannien – paradoxerweise angesichts der nach wie
vor evidenten, inzwischen multiethnischen Klassenstruktur dieser
Gesellschaft – als sozial integrierender Faktor erwiesen.
Das verdankte sie fraglos der Persönlichkeit der Queen und ihrer
70-jährigen Regentschaft, auch wenn oft die Frage auftauchte, ob die Tage
der Monarchie angesichts zahlreicher Krisen im Hause Windsor und seinem von
Zweifelhaftigkeit nicht freien finanziellen Gebaren gezählt seien. Den von
Elizabeth II. noch vollzogenen Amtswechsel von Premierminister Boris
Johnson zu Premierministerin Truss hat die Monarchin nur um Stunden
überlebt. [1][Was nun Charles III. an integrativer Repräsentanz bewirken
kann, mag sich erweisen].
Szenenwechsel. Dieser Tage in Harwich: Was in Hoek van Holland reibungslos
vonstattenging, die Abfertigung für die Autofähre nach England, erwies sich
beim Wiedereintritt ins (noch) Vereinigte Königreich als harte
Geduldsprobe; denn die britische „Border Force“, wie sich nunmehr der
Grenzschutz nennt – eigentlich „Grenzmacht“ oder „Grenzgewalt“ – pr…
genau.
Der Rückstau im Riesenbauch der Fähre löste sich erst nach mehr als einer
Stunde auf. Zusätzlich zum deutschen Reisepass hatte ich der bemüht
freundlichen, grenzmächtigen Beamtin meine Daueraufenthaltsgenehmigung
überreicht, die mir Anfang 2020 ausgestellt worden war. Die Zollbeamtin
würdigte diesen Wisch eines intensiven Blickes, setzte zum Abstempeln an,
ließ das Beglaubigungsinstrument jedoch sogleich wieder sinken und entließ
uns in die verregnete Dunkelheit der Grafschaft Essex.
## Nicht sehr diplomatisch
Im Radio waren verschiedene Ansichten zur Premierministerin zu hören.
Anhänger von Liz Truss würden gern das Schluss-s ihres Namens mit einem t
vertauschen; denn so hieße sie „Vertrauen“, was nach Clown Boris guttäte.
Nur war sie in seinem Kabinett eine eher blasse Erscheinung als
Außenministerin, die meist durch Peinlichkeiten auffiel, etwa als sie
Russland vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine besuchte und im Gespräch
mit ihrem dortigen Gegenüber nicht so ganz sicher war, wo die Grenze
zwischen beiden Staaten verläuft; der britische Botschafter sprang ihr bei
der Grenzkorrektur bei.
In Russland gilt Truss – polemisch voreilig – als bloße Witzfigur, wogegen
die Ukraine sie als eine der ihren feiert. Auch ihre Bemerkung zu
Frankreichs Staatspräsident Macron, es müsse sich erst herausstellen, ob
er denn nun Freund oder Feind sei, zeugte von einem nur bedingt
ausgebildeten Fingerspitzengefühl in Sachen Diplomatie.
## Eine Übergangsfigur wie Theresa May
An profunden [2][Meinungen über Truss] mangelt es. Auffällig, wie
zurückhaltend sich die noch auf der Großinsel verbliebenen Intellektuellen
bislang, wenn überhaupt, geäußert haben. Doch es ist hierzulande unüblich,
dass Intellektuelle und Kunstschaffende dergleichen Amtswechsel
kommentieren; zudem kamen sie in letzter Zeit auch beinahe italienisch
gehäuft vor.
So mancher Beobachter mutmaßt, dass Liz Truss eine ähnliche Übergangsfigur
sein werde wie ihre Vorvorgängerin, die unglücklich agierende Theresa May.
May hatte sich auf ihrem Innenministerinposten unter David Cameron als
Anti-Immigranten-Scharfmacherin profiliert, wie nach ihr nur noch Priti
Patel.
Bekannt ist, welche Probleme auf Truss zukommen; sie teilt diese mit nahezu
allen Staatschefs in Europa, auch wenn sie sich als (jetzt) überzeugte
Brexiteerin in der Öffentlichkeit nicht auf Vergleiche mit dem Festland
einlassen kann; Britannien befindet sich in der Souveränitätsfalle, die es
sich selbst gestellt hat. Die gemeinsamen Probleme sind: dramatisch
steigende Energiepreise und hohe Lebenshaltungskosten, eine im Herbst
drohende Streikwelle angesichts einer zum Galopp ansetzenden Inflation, der
Angriffskrieg Russlands und seine Auswirkungen sowie die
Langzeitfolgeschäden der sinnlos überzogenen Pandemiebekämpfung.
Dazu das Hausgemachte: die tiefe Spaltung der Konservativen, die mit der EU
nicht gelöste Nordirland-Frage, die krassen regionalen Unterschiede in der
sozialen Versorgung, insbesondere der marode öffentliche
Gesundheitsbereich, ganz zu schweigen vom landesweiten Abwasserproblem, das
im Sommer 2022 zur Teilsperrung von Stränden geführt hat.
## Von der Kultur spricht niemand
Vom schwer angeschlagenen Kultursektor redet vorerst niemand. Am wenigsten
zeigten sich die Medien bei der Kabinettsumbildung am Wechsel im
Erziehungs- und Kulturministerium interessiert: Kit Malthouse und Michelle
Donelan sind geradezu auffällig Unbekannte. Zu punkten versuchte Truss mit
der Ernennung von „nicht-weißen“ Ministern an Schlüsselstellen, etwas des
Schatzkanzlers (Kwasi Kwarteng), des Innenministers (Suella Braverman) und
als ihr Nachfolger im Außenamt (James Cleverly).
Doch Truss’ größte Hypothek ist der Schatten von Boris Johnson, für sie
gefährlich verstärkt durch den Hinauswurf der bisherigen Innenministerin,
Priti Patel. Sie hat auffällig viele ihr loyal verbundene Mitstreiter
berufen und damit die Johnson-Fraktion vergrault. Immerhin, Jacob
Rees-Mogg, das Elitär-Aalglatteste, was die Tories zu bieten haben, findet
sich in unverändertem Amte, nämlich als „Business, Energy and Industrial
Strategy Secretary“.
Der oppositionellen Labour-Partei fällt erstaunlich wenig zu Truss und der
neuen Situation ein, bis auf einen Hauptpunkt, der in der Unterhausdebatte
über die Energiepolitik wünschenswert deutlich wurde: Labour beharrt auf
einer zusätzlichen Besteuerung der Energiekonzerne. Die Regierung Truss
lehnt diese mit der Begründung ab, dass deren Gewinne Investitionen für die
Zukunft sichere. Immerhin haben die Tories erkannt, dass der
inflationsträchtigen und sozial katastrophalen Kostenexplosion im
Energiebereich nicht mit Mitteln der Marktwirtschaft beizukommen ist und
staatliche Interventionen unumgänglich geworden sind.
## Eine kärgliche „Siegesrede“
Bezeichnend ist, dass die sonst so brillante Chefkommentatorin der
Tageszeitung The Guardian, Polly Toynbee, nur konstatieren konnte: Liz
Truss habe „keine Vision, kein Charisma, keine wirkliche Konzeption“.
Labour habe „nichts zu fürchten“. Das aber reicht nicht, um Wahlen zu
gewinnen. Allein die Schwäche von Labour ist die Stärke von Truss. Das
klingt so beschämend, wie es ist. Dabei lieferte die für Tory-Verhältnisse
erstaunlich harte Auseinandersetzung zwischen Truss und Rishi Sunak während
der Wahlkampagne dem Labour-Lager überreichen Stoff. Für dessen Umsetzung
in politische Gegenargumente zum Truss’schen Toryismus bräuchte es nicht
einmal eine Werbeagentur.
Kein Wort sprach Truss in ihrer kärglichen „Siegesrede“ häufiger aus als
„to deliver“. Im Englischen bedeutet das, etwas zuwege bringen – von der
Kindesgeburt bis zur gestellten Aufgabe. Vermutlich setzt sich in die
Nesseln der politischen Unkorrektheit, wer „to deliver“ mit „politischer
Hebammenkunst“ übersetzt, aber es trifft in etwa die Sache. Dazu sollte
gehören, dass Truss das strukturelle Defizit angeht: Die von Johnson als
Fehlentwicklung bezeichnete „devolution“ oder Föderalisierung des Landes
weiterzuführen. Nur eine solche – zusammen mit einer umfassenden
Verfassungsreform – kann den Zusammenhalt dieser britischen Insel sinnvoll
sichern helfen. Prüfstein hierfür wird auch für Truss sein, wie sie mit der
Nordirlandfrage und Schottland umgeht.
## Bewusstseinskrise durch Brexit
[3][Und Boris Johnson?] Vermutlich wird er für Höchsthonorare Reden halten,
seinen Schatten hinter Truss köcheln lassen und seine Geschichte zu Papier
bringen – frei nach Churchill, der sagte, dass die Geschichte es gut mit
ihm meinen werde, da er sie selbst schreibe.
Der Tod der Queen hat zur Folge, dass Streiks einstweilen ausgesetzt worden
sind, „The Last Night of the Proms“ sowie ein wichtiges Cricket-Match
abgesagt wurden. Eine Übergangsfigur kommt selten allein; zu Liz Truss
gesellt sich nun der 73-jährige neue Monarch. An der dem Brexit
geschuldeten Bewusstseinskrise in Britannien ändert dies jedoch wenig.
Hierzulande warten sechseinhalb Millionen Patienten auf Behandlung. Der
Sprecher der britischen Bürgerhilfsbüros gab kürzlich zu Protokoll, dass
Mitarbeiter pro Minute bis zu zwei in finanzielle Nöte geratene Menschen
beraten.
Das Land ist in einem prekären Wartezustand. Trotz deutlicher Zeichen an
der Wand ihrer Paläste und Sozialwohnungen ist eine wirkliche Rebellion
aber noch immer schwerer vorstellbar als ein [4][Comeback des Clowns aus
Eton].
13 Sep 2022
## LINKS
[1] /Thronwechsel-in-London/!5877827
[2] /Grossbritanniens-neues-Kabinett/!5876653
[3] /Boris-Johnson-verabschiedet-sich/!5879315
[4] /Liz-Truss-in-Grossbritannien/!5876386
## AUTOREN
Rüdiger Görner
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Schwerpunkt Brexit
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