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# taz.de -- Großbritannien nach Tod der Queen: Der letzte Blick
> Hunderttausende nehmen Abschied von der Queen und nehmen dafür langes
> Anstehen hin. London ist in den Trauermodus gefallen.
Bild: Ankunft des Sargs mit Königin Elisabeth in Westminster Hall am Mittwochn…
Die Schwimmer ziehen ihre Runden wie immer. Die Männer von der Wasserwacht
passen auf sie auf, Enten und ein Schwan leisten den Badenden Gesellschaft,
am Ufer gehen ein paar Leute spazieren. Der [1][Hampstead Men’s Pond] ist
eine Oase der Ruhe mitten in der großen Metropole. Doch seit Neuestem weht
am Ende eines der Stege ein Union Jack im Wind über dem Wasser. Dort findet
normalerweise nie eine Flagge, geschweige denn eine auf halbmast.
„Fang bitte nicht damit an“, seufzt einer der Wachmänner auf die Frage, was
das solle, und erzählt es dann doch. „Also, es fing damit an, dass ein
US-amerikanischer Schwimmer am Freitag meinte, es sei doch eine gute Idee,
sich an der nationalen Trauer um die Queen zu beteiligen, vor allen weil
wir ein öffentlicher Ort sind.“ Irgendwo in dem kleinen Häuschen, aus dem
die Bademeister die Schwimmer beobachten, lag noch eine Flagge für
spezielle Anlässe, etwa dem Gedenken an Kriegsgefallene. Jetzt war die
Queen tot. Also hängten sie die Flagge an den Steg auf halbmast.
„Die Probleme fingen gleich am ersten Tag an“, erzählt der Mann weiter. Im
linksbürgerlichen Hampstead finden manche Menschen die britische Flagge zu
rechts. Außerdem waren sich die Bademeister nicht sicher, ob sie den Union
Jack überhaupt richtig herum aufgehängt hätten.
Als sie dann am Samstag ihre Frühschicht begannen, erhielten sie mehrere
E-Mails mit Beschwerden: Spaziergängern und Schwimmern sei die Flagge
aufgefallen. Aber heute werde doch der neue König Charles III. proklamiert!
Da gehöre der Union Jack nun auf vollmast! Auch der Amerikaner meldete sich
und bat, die Flagge doch lieber wieder abzuhängen, damit man später nicht
die Schuld auf ihn schieben könne. „Wir haben uns dann entschlossen, die
Flagge auf halbmast zu lassen, weil spätestens am Sonntag sowieso wieder
alles auf halbmast zur weiteren Trauerzeit zurück musste.“
Nun weht also über dem kleinen Badesee in Hampstead die britische Flagge
auf halbmast, so wie auf unzähligen öffentlichen Gebäuden. Sogar die
kubanische Flagge an der Botschaft Kubas wurde auf halbmast gesetzt.
## Selbst an der Supermarktkasse wird der Queen gedacht
Doch unter den Flaggen geht das Leben in London weiter, trotz all der
Trauer. In Covent Garden unterhalten Straßenkünstler:innen große
Menschentrauben. Im West End sind die Restaurants und Kneipen gut besucht.
Die Londoner Hotels sind bis zum Bersten gefüllt, so wie zuletzt vor zehn
Jahren bei den Olympischen Spielen. Die Zimmerpreise während der Trauerzeit
haben sich mindestens verdreifacht. Touristische Stadtrundfahrten sind
begehrt, erzählt am Piccaddily Circus eine spanische Hilfskraft, aber die
Busse kämen nicht durch. Die weltberühmte riesengroße Leuchtreklame am
Piccadilly Circus zeigt nun zu mancher Stunde ein Bild der verstorbenen
Queen, genauso wie die Werbeflächen an den Bushaltestellen.
Selbst im Supermarkt erscheint vor dem Monitor neben dem Wort „Kasse
verfügbar“ ein Bild der Queen mit ihrem Namen. In den Souvenirläden der
Innenstadt gibt es einen neuen weißen Umhang mit dem Profil der Queen sowie
kleine Fähnchen mit dem gleichen Motiv. Der Preis: 12 Pfund, umgerechnet 14
Euro. London verdient gut an der Trauer.
So viel also getrauert wird, so schwierig ist die Frage zu beantworten,
warum dem so ist. Zwei Rechtsanwälte in einem Pub müssen länger überlegen.
„Ich glaube, die Queen hätte das nicht anders gewollt“, meint der eine.
„Ja!“, bestätigt sein Freund, „es ist aber auch der britische Geist.“ …
sagt er auf Englisch, was er damit meint: „We just carry on, carry on
going!“ – auf Deutsch so viel wie: „Wir machen einfach immer weiter.“ D…
Queen, findet der erste, hatte doch ein langes und relativ gutes Leben.
„Mit 96 zu sterben ist kein tragischer Tod. Also kann man auch jetzt was
trinken, ohne sich schuldig zu fühlen.“
Aber die Beerdigung am Montag werden sie natürlich im Fernsehen verfolgen.
Der Freund hat sogar Bekannte zu sich nach Hause eingeladen. „Danach gehen
wir gemeinsam was essen.“
## Der Union Jack an der Mall
Das Regierungsviertel gleicht derweil einer Baustelle. Überall stehen
Absperrungen. Mithilfe der Hebebühne von Lastwagen wurden am Dienstag Union
Jacks entlang der rot geteerten Prachtmeile „The Mall“ aufgehängt, die vom
[2][Buckingham Palace] zum Regierungsviertel führt. Gegenüber der
[3][Westminster Abbey], wo am Montag der Staatsakt zur Beerdigung der Queen
stattfinden wird, ist eine Tribüne errichtet worden, das Kirchengebäude hat
eine künstliche Verkleidung erhalten, im nahen St. James Park hinter den
Regierungsgebäuden wachsen Versorgungszelte und Kommandozentralen aus dem
Boden.
Am Buckingham Palace und beim Parlamentsgebäude, dort wo die Queen seit dem
Mittwochabend in der Westminster Hall öffentlich aufgebahrt ist, entstehen
Mediendörfer. „Wir bauen hier die Fernsehtechnik auf“, erklärt der
19-jährige Jack Scorer. Er ist für die Feuersicherheit zuständig. „Ich
werde hier bis Montagabend im Einsatz sein und bin einer der jüngsten in
der Crew. Meine Eltern sind voll stolz auf mich, dass ich hier für die
Bestattungsfeier der Queen Hilfe leiste.“
Alle 25 bis 50 Meter erblickt man Sicherheitspersonal oder
Polizeibeamt:innen. Sie sind aus dem halben Land nach London
zusammengezogen worden. „Ich bin normalerweise auf Musikfesten und
Fußballspielen tätig, wo die Leute oft angetrunken sind und sich daneben
benehmen“, erzählt ein Sicherheitsmann. „Hier ist es ruhig, und bis jetzt
sind alle Menschen freundlich.“
Doch Trauern wird mit jedem Tag komplizierter. Menschen, die am Buckingham
Palace Blumen niederlegen möchten, werden durch die Absperrungen auf streng
bewachte Umwege geschickt, die die Streckenlänge verdoppeln. Manchen
Menschen ist das zu viel. Einem älteren Ehepaar ist der Weg zu lang
geworden, sie kehren frustriert zur U-Bahn um. Anderswo brüllt ein kleiner
Jungen im Kinderwagen untröstlich durch die Abendluft.
## Langes Anstehen für einen letzten Blick
Die ersten Menschen, die am Mittwochabend den Sarg der Queen in der
Westminster Hall betrachten, um sich persönlich von der Monarchin zu
verabschieden, stehen bereits am Montagabend auf der anderen Seite der
Themse am [4][Lambeth Palace] Schlange. Unter denjenigen, die es auf sich
nehmen, tagelang bei Regen und der ersten Herbstkälte anzustehen, ist
niemand mit einem weißen englischen Familienhintergrund.
Vanessa Nathakumaran, 56, stammt aus Sri Lanka. Grace Gothard kam in Ghana
auf die Welt und Delroy Morrison in Jamaika – alles ehemalige britische
Kolonien. Dazu steht hier Anne Daley aus Wales. Warum sie hier seien?
Nathakumaran spricht stolz von ihrem Großonkel, den König George V.
(1910–1936) einst zum Ritter schlug, und von ihrer Tochter, Mitglied der
Ehrengarde der Queen beim 50. Thronjubiläum im Jahr 2002. Für Anne aus der
walisischen Hauptstadt Cardiff – sie trägt ein walisisches Fußballtrikot –
ist es einfach Betroffenheit, die sie hierher geführt hat. „Ich konnte am
Anfang nicht mit dem Weinen aufhören, nachdem die Queen gestorben war“,
erzählt sie.
Grace hat einen Union Jack um sich gewickelt und findet, dass Ghana und
Großbritannien wie Zwillinge seien und die Queen viel für das Commonwealth
geleistet habe. Auch Morrison findet das. „Ich liebe die Königin“, gesteht
er, und lobt den 70-jährigen aufopfernden Einsatz „meiner Königin“.
Es gibt auch andere Stimmen – von weißen Engländern. Am Montagnachmittag
hält der 36-Jährige Paul Powlesland vor dem Parlamentsgebäude einen leeren
Papierblock in die Luft, Größe A3. Prompt bittet ihn ein Polizist um seine
Personalien. Powlesland, ein Anwalt, der sich auf Umweltschutz
spezialisiert hat, weigert sich und nimmt die Szene mit seiner Handykamera
auf. Der Beamte lässt ihn in Ruhe, warnt ihn jedoch: Sollte er etwas zum
König in seinen Block schreiben, werde er wegen Ruhestörung festgenommen.
Der Vorfall hat Empörung ausgelöst, selbst konservative Parlamentarier
haben gegen die Einschränkung der Meinungsfreiheit protestiert. Powlesland
ist im Grunde gar kein versessener Antiroyalist. „Man hätte mich eher mit
einem Schild über Wasserverschmutzung in Flüssen sehen können“, erzählt er
der taz vor seiner Londoner Kanzlei. Es sei aber so, dass er an
Meinungsfreiheit glaube. „Es erschien mir, als sei die Meinungsfreiheit
durch die Atmosphäre der letzten Tage gefährdet gewesen. Ich verspürte eine
wachsende Homogenisierung in den Medien, in denen die Erinnerung an die
Queen meiner Meinung nach missbraucht wurde.“
Powlesland wundert sich: Wieso laufen da all die Feierlichkeiten und
Zeremonien für den neuen König, wenn es eigentlich um die Trauer um die
verstorbene Queen gehen sollte? „Das war alles ein bisschen anmaßend und
lief in hoher Geschwindigkeit über die Bühne, ohne Diskussion. Und dann
hält jemand wie ich ein leeres Blatt nach oben und wird beschuldigt, den
Frieden gestört zu haben.“
Es ist nicht der einzige Vorfall dieser Art. Im schottischen Edinburgh wird
eine Frau von der Polizei verhaftet, weil sie ein Schild mit den Worten
„Fuck Imperialismus, schafft die Monarchie ab!“ hochhält. Ein anderer Mann,
der Prinz Andrew als „alten kranker Mann“ beschuldigte, wird von
Umstehenden zu Boden gerungen und von der schottischen Polizei
festgenommen, während eine Frau in London mit einem Schild „Not my King!“
gebeten wird, dies zu unterlassen.
Die Londoner Polizei hat sich inzwischen geäußert: Der stellvertretende
Polizeichef Stuart Cundy erklärt, dass die Öffentlichkeit ein Recht auf
Protest habe und das man dies allen Beamt:innen noch mal klargemacht
habe. Die schottische Polizei erklärt der taz hingegen, dass die Festnahme
in Edinburgh sich nicht auf den Protest der Betroffenen bezogen habe,
sondern auf deren späteres Verhalten.
Was halten die Wartenden von den Antimonarchisten? Von Leuten, die
Reparationen vom Königshaus für Kolonialverbrechen fordern oder gar die
Monarchie ganz abschaffen wollen?
Grace Gothard aus Ghana kontert sofort, dass im Römischen Reichs auch
Brit:innen versklavt worden seien und deshalb Großbritannien nicht allein
für Sklaverei verantwortlich gemacht werden könne. „Lassen Sie das
Vergangene Vergangenheit sein“, fordert sie. Delory Morrison aus Jamaika,
der eine Mütze in den panafrikanischen Farben Grün, Gelb und Rot trägt,
will sich dazu nicht äußern. Stattdessen redet er über seine „königliche
Robe“, die er tragen wolle, wenn er in den Saal mit der aufgebahrten Queen
geht: Ein maßgeschneidertes Dashiki-Hemd im westafrikanischen Stil, grün
mit weißen Stickereien.
## Erinnerungen an eine Wohltäterin
Einer, der sich ebenfalls bald anstellen möchte, um am Sarg der Queen
Abschied zu nehmen, ist [5][Chris Imafidon]. Der Professor leitet eine
Organisation, die benachteiligte Kinder aus der Londoner Innenstadt mit
Nachhilfe auf die Spitzenuniversitäten Oxford und Cambridge unterstützt.
Die Queen hätte den von ihm betreuten Kindern immer geholfen, sagt er.
„Wenn sie die Königin getroffen hatten, konnte die Kinder nichts mehr
aufhalten, die letzte Meile zu gehen, um das zu erreichen, was sie sich in
den Kopf gesetzt hatten“, berichtet er. Gewählte Politiker:innen
interessierten sich nur für Resultate in vier oder fünf Jahren bis zur
nächsten Wahl. „Menschen wie die Queen ging es aber darum, was die Kinder
in meiner Obhut tun werden, wenn sie 21 sind.“
Imafidon bemerkt, dass die Queen sich an alle Kinder erinnern konnte, wenn
sie diese nach einem Jahr noch mal zu Gesicht bekam. „Ihr Gedächtnis war
sagenhaft, auch im Alter. Sie war eine Schnellleserin, die mehrere Sprachen
sprach und die sich wöchentlich alle Regierungsgeschäfte von A bis Z
durchlas, um dann in den privaten Audienzen mit den jeweiligen
Premierministern Fragen stellen zu können. Sie wusste über alles Bescheid.“
Und sie habe die Bibel so gut gekannt, dass sie jeden sofort korrigieren
konnte, der etwas falsch zitierte.
Und was sagt dieser Fan der Queen zum kolonialen Erbe und zu Reparationen?
„Offiziell konnte sie nur das tun, was die jeweilige Regierung wollte“,
sagt Imafidon. Aber, betont er, „hinter verschlossenen Türen ist die Queen
für Reparationen gewesen. Die Stipendien an junge Menschen aus
afrikanischen Ländern wie Ghana, Gambia und Liberia und in der Karibik
kamen ohne Ende. Ich habe das gesehen. Die Königin sagte selbst, dass sie
auf manches in der britischen Geschichte nicht stolz sei und sie
akzeptierte völlig die Entscheidung von Barbados, sie als Staatsoberhaupt
abzuschaffen.“
Deshalb ist Imafidon seit dem Tod der Queen in alle möglichen Gottesdienste
gegangen, ins Parlament, er sprach im Fernsehen und Radio über die Queen.
Er nennt es Therapie. „Mein Kopf hat es immer noch nicht verstanden, dass
sie von uns gegangen ist.“
Nun will er sich mit ehemaligen Schülern, die er über die Jahre nach Oxford
und Cambridge befördert hat, in die Schlange vor Westminster Hall stellen
und seinen ganz persönlichen Abschied nehmen. „Vielleicht hilft das ja, es
endlich zu akzeptieren.“
14 Sep 2022
## LINKS
[1] https://www.cityoflondon.gov.uk/things-to-do/green-spaces/hampstead-heath/w…
[2] https://www.visitlondon.com/de/sehen-und-erleben/ort/427311-buckingham-pala…
[3] https://www.visitlondon.com/de/sehen-und-erleben/ort/610825-westminster-abb…
[4] https://www.archbishopofcanterbury.org/about/lambeth-palace/visit-lambeth-p…
[5] https://www.cambridgeleadershipacademy.org.uk/uploads/zQFk1QzP/Prof_Chris_I…
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
## TAGS
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