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# taz.de -- Die Wahrheit: Zappenduster mit Alaaf
> Die helle Wahrheit über Köln, das nach Sonnenuntergang gemäß den neuen
> Vorgaben der Energiesparverordnung vollkommen im Dunkeln liegt.
Bild: Und plötzlich war das Licht aus: Kölner Dom im Dunkeln
Wir bewegen uns durch pechfinstere Dunkelheit. Mit einer Hand am feuchten
und nicht immer wohlriechenden Gemäuer des Kölner Doms stolpern wir in
Richtung des vereinbarten Treffpunkts. Rechts neben uns können wir hören,
wie ein Fußgänger durch das schwarze Nichts irrt und trotz größtmöglicher
Vorsicht mit einem gellenden Schrei die Freitreppe Richtung
Bahnhofsvorplatz hinunterrauscht.
Wir haben mehr Glück. Gerade, als wir die Finger von der Halt und
Orientierung bietenden Westseite der Bischofskirche lassen müssen, reißt
die Wolkendecke so weit auf, dass uns ein blasses Sternchen den Weg über
die exponierte Domplatte zum ehemaligen römischen Nordtor leuchtet. Dort
erwarten uns bereits die geisterhaften Schemen des „Kölschen Nachtwächters�…
Gereon Köster und seiner deutsch-japanischen Reisegruppe.
Mit Köster haben wir uns zu einer Führung durch das zappendustere Köln
verabredet. Seitdem die Stadt und ihre klammen Bewohner wegen Gasmangel und
neuer Bundesenergiesparverordnung nicht nur in öffentlichen Gebäuden,
sondern auch in Privatwohnungen und touristischen Hotspots auf das Nutzen
jedweder Lichtquellen verzichten, sind die abendlichen Touren des
67-jährigen Rentners durch die Dommetropole restlos ausgebucht.
Da „Kölle“, wie Köster uns begeistert erzählt, aufgrund des nun
erfreulichen Helligkeitsdefizits von der International Dark Sky Association
(IDA) unlängst zum Sternenpark ernannt wurde, mache das Millionendorf
mittlerweile sogar weltweiten Top-Destinationen den Ruf als Mekka für
Hobbyastronomen streitig.
## Mehr Sterne als in Arizona
„Hier sehen Sie in einer wolkenlosen Nacht mehr Sterne als in der Wüste von
Arizona“, verkündet der passionierte Heimatbiograf stolz und lobt auch
gleich noch die ökologischen Verdienste der chronisch unterschätzten
Hedonisten-Hochburg. „Was wir durch die kölsche Vollverdunklung für das
Weltklima leisten, macht jeden Zusammenstoß mit einem Hindernis locker
wieder wett“, redet Köster die zigtausend Kollateralschäden seit
Maßnahmenbeginn klein. Halb Köln läuft inzwischen mit einem Pflaster auf
der Stirn herum.
„Im Übrigen“, fügt unser Tourguide hinzu, „hält man durch unbeleuchtete
Plätze und Gebäude den vielzitierten Mythos Kölns als schönste Stadt
Deutschlands zumindest unter den Besuchern aufrecht, die unser Schmuckstück
noch nie tagsüber gesehen haben.“
Nachdem Köster allen Kursteilnehmern kapitale Kuhglocken um den Hals
gehängt hat, damit sie in der Dunkelheit nicht verloren gehen, strömt unser
touristischer Almabtrieb unter vielfachem Geläut durch das Hauptportal in
den Kölner Dom. Dort können wir erwartungsgemäß zwar weder vom berühmten
Mosaikfußboden noch vom ikonischen Hochaltar etwas erkennen, doch hat eine
Erkundung des kerzenwachsfreien Weltkulturerbes in vollkommener Düsternis
nicht nur Schattenseiten.
Wann darf man schon sonst all die Skulpturen, Grabmäler und sakralen
Schnitzereien ungestraft befühlen? Dass wir dabei eine Statue der Mutter
Gottes versehentlich an heikler Stelle begrapschen, bleibt den humor- und
ahnungslosen Domschweizern selbst aus nächster Nähe verborgen. Erst als ein
tollpatschiger Mittvierziger beim Blindflug durch das Kirchenschiff den
Dreikönigsschrein umstößt und den Inhalt des Reliquiensargs scheppernd über
den Chorraum verteilt, läutet Köster die Gruppe für einen zügigen
Ortswechsel zusammen.
## Lautlose Fußballfans in Hörweite
Nachdem wir uns an der Südseite der Kathedrale versammelt haben, führt der
Ortskundler uns am Römisch-Germanischen Museum vorbei auf den
Roncalliplatz, wo beim Public Hearing anscheinend gerade zehntausend
Fußballfans lautlos und unsichtbar im Dunkeln ausharren und mit spitzen
Ohren auf den erlösenden Torjubel aus dem sechs Kilometer entfernten
Müngersdorf warten.
Wie der Reiseleiter uns flüsternd verrät, vergeblich. „Selbst für den
unwahrscheinlichen Fall, dass unser Effzeh einen Treffer erzielt, dürfte
das den 50.000 Menschen im Stadion ohne Flutlicht kaum auffallen.“
Wir gehen weiter. Nach wiederholt falschem Abbiegen und einigen
orientierungslosen Kreisläufen hält Köster schließlich verwirrt inne und
versucht, mithilfe der Gestirne unseren aktuellen Aufenthaltsort zu
bestimmen. Schließlich lenkt er uns durch ein schmales Gässchen, in dem wir
nach wenigen Metern angeblich vor einem „Original Cölner Brauhaus“ zum
Stehen kommen.
Der „Köbes“ öffnet erst nach minutenlangem Klopfen und lässt uns nur
widerwillig in seine winzige, stockdunkle Spelunke eintreten. Als wir
bestellen wollen, folgt der Schock: Er habe weder Kölsch, noch könne er uns
um diese Zeit irgendwelche regionalen Leckereien aus der Küche kredenzen.
Sprudelwasser oder Kräutertee wären aber in ausreichender Menge vorhanden.
Wir sinken erschöpft in die urgemütlichen Polstermöbel und lassen uns nach
der dritten Lokalrunde von der psychedelischen Wirkung des kredenzten
Johanniskrauts übermannen.
Als der vermeintliche Wirt, ein rüstiger Witwer aus dem Kunibertsviertel,
uns weckt und insistiert, dass wir doch bitte so langsam sein Wohnzimmer
verlassen sollten, ist es früher Morgen. Wir treten vor die Tür und
blinzeln in das viel zu grelle Licht, während sich die Domstadt mit jeder
Sekunde ein Stückchen mehr in ihrer nackten, schonungslosen Blöße vor
unseren Augen manifestiert. Beim Anblick der nachkriegszeitlichen
Betonwüste wünschen wir uns am noch taufrischen Tag plötzlich nichts
sehnlicher als einen kurzen und schmerzlosen Sonnenuntergang.
Bevor wir uns bis zum nächsten Einbruch der Dunkelheit hinter zugezogenen
Vorhängen im Hotelzimmer verkriechen, kommt uns der Refrain eines alten
Stücks von Police in den Sinn: „Bring on the night / I could’nt stand
another hour of daylight.“ Ob Sting den Song wohl während eines Gigs in
Köln komponiert hat?
26 Sep 2022
## AUTOREN
Patric Hemgesberg
## TAGS
Köln
Energiesparen
Dunkelheit
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Wladimir Putin
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Bayern
Personalmangel
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