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# taz.de -- Die Wahrheit: Im Mekka der Langsamkeit
> Wahre Reisen: Diesmal sind wir unterwegs mit dem „Heinz Sielmann
> Skandinaviens“ in deutschen Nichtstu-Nirvana-Gefilden.
Bild: 200.000 Jahre und mehr: Bushäuschen zum Warten
„Uuund – Action!“, ruft Regisseur Magnus Johannsen, während die Kamerafr…
ganz nah an den Oberhuber Schorsch heranzoomt. Der 44-jährige
Sachbearbeiter für Windkraft-Genehmigungsverfahren in der bayerischen
Kreisverwaltungsbehörde Dillingen brütet gerade kontemplativ über einem
riesigen Aktenstapel. Eingelullt vom monotonen Ticken einer Wanduhr und dem
niedrigen Sauerstoffgehalt in der muffigen Amtsstube fallen Oberhuber immer
wieder die Augen zu.
Johannsen ist angesichts dieses großen Kinos begeistert. „Großartig,
absolut großartig!“, jubelt der ausgezeichnete norwegische
Dokumentarfilmer, als hätte er gerade ein seltenes und besonders scheues
Tier vor die Linse bekommen. Zuviel Aufregung möchte er seinem Publikum
dann aber doch nicht zumuten. Bevor der Oberhuber Schorsch die
Fernsehzuschauer erschreckt, indem er urplötzlich umblättert oder träge
nach einem Bleistift greift, gibt Johannsen die Anweisung zum Abblenden.
„Nicht auszudenken, was ein plötzlich aufs Papier
gerammter,Abgelehnt'-Stempel bei meinen Landsleuten anrichtet!“, warnt der
Lillehammerer. Stattdessen soll das vorhandene Material später zu einer
14-stündigen Wohlfühlschleife zusammengeschnitten und zur Primetime im
norwegischen Fernsehen präsentiert werden. „Slow TV“ heißt das
bahnbrechende Konzept, das sich in Skandinavien zum Sensationserfolg
gemausert hat und die Öffentlich-Rechtlichen dort mit atemberaubenden
Einschaltquoten beschenkt.
## Dringend frische Drehorte
Weil die Zuschauer aber im Mekka der Entschleunigung von mehrtägigen
Rentierwanderungen über die „Nationale Woche der Holzverbrennung“ bis zur
132 Stunden andauernden Polarkreisreise eines Postschiffes so gut wie alles
im TV gesehen haben, brauchte es für die Erfolgsformatproduktion dringend
frische Drehorte.
„Der schneckenhaft langsame Kampf der Deutschen gegen die Erderwärmung wird
in meiner Heimat schon seit Jahren als Quell von Ruhe und Entspannung
wahrgenommen“, lobt Regisseur Johannsen ausdrücklich die „gediegene“
Klimapolitik der Bundesregierung. „Klar, dass wir in puncto Langsamkeit
auch anderswo in Deutschland verwöhnt werden.“
Einen weiteren Ort aus dem mystischen Nichtstu-Nirvana will uns der „Heinz
Sielmann Skandinaviens“ noch zeigen. Mit dem Übertragungswagen geht es von
Dillingen nach Franken zur verlassenen, völlig überwucherten Bahnhofsruine
von Hundelsheim. Von dort befahren wir die stillgelegte Gleisstrecke ins 30
Kilometer entfernte Unterschwarzbach viermal mit einer handgetriebenen
Draisine. So kommen wir auf eine Gesamtsendezeit von mindestens zehn
Stunden. „Der repetitive Charakter dieser Tour ohne Höhepunkte und in teils
völliger Dunkelheit gilt unter Fans als Leckerbissen und hat den
‚Norwegian-Slow-TV-Award‘ bereits so gut wie sicher“, freut sich Johannse…
Auf seine freundliche Bitte pumpen wir das quietschende Gefährt mittels
Muskelkraft aus der Triebwagenhalle von Hundelsheim in die trostlose
Mondlandschaft. Während wir gelangweilt quadratisch angelegte
Maismonokulturen an uns vorbeiziehen sehen, steigert sich der Regisseur bei
dem Gedanken an das gesamtteutonisch träge Langsamkeitspotenzial in
schwärmerisches Lob.
„Verwaiste Bushaltestellen im ländlichen ÖPNV, endlose Radwege, die ins
Nichts führen, unbewohnte Straßenzüge in brandenburgischen Wüstungen, nie
in Betrieb genommene Kraftwerke und eine riesige Flughafenruine mitten in
der Hauptstadt. Wissen Sie eigentlich, in was für einem wundervollen Land
Sie leben?“, fragt uns der Cineast, bevor er Kamerafrau Ingrid auf eine
näher rückende Kirschlorbeerplantage mit minimal störender Artenvielfalt
hinweist.
Um endgültig in die Ruhmeshalle norwegischer Doku-Kunst aufgenommen zu
werden, hofft der Filmschaffende, dass sich die deutsche Bundesregierung in
der Atomfrage „möglichst schnell“ auf einen Endlagerstandort festlegt.
Dann will Johannsen mit der längsten ununterbrochenen Live-Übertragung
aller Zeiten aus einem Salzstollen heraus Geschichte schreiben und sich im
Slow-TV-Genre unsterblich machen.
„Eine Doku-Dauer von über 200.000 Jahren – das ist selbst für uns
Waldmenschen eine Menge Holz“, zollt der Filmer, der insgeheim auf einen
deutschen Ausstieg vom Ausstieg aus der Atomkraft hofft, dem futuristischen
Mammutprojekt Respekt. „Und mit einem Dutzend neuer Brennstäbe kriegen wir
vielleicht sogar noch die Million voll!“
Als wir bei Kilometer 95 erschöpft den Draisinenbetrieb einstellen und
Johannsen die blutigen Schwielen auf den Handflächen zeigen, leuchten die
Augen des Meisters verzückt auf. „Das schreit nach einer offenen
Facharztsprechstunde mit reichlich Wartezeit“, frohlockt er. „Sie sind doch
Kassenpatient, will ich hoffen?“
8 Nov 2022
## AUTOREN
Patric Hemgesberg
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Die Wahrheit
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