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# taz.de -- Die Wahrheit: Dämmerschlaf der Götterboten
> Immer mit der Ruhe: Das Recht auf Langsamkeit hat mit Wucht die Deutsche
> Post erfasst. Ein schläfriger Müdmannreport.
Bild: Der natürliche Feind jedes Boten: das gemeine Paket
Wir schreien panisch und aus voller Kehle. Gerade noch rechtzeitig kommt
das Dienstfahrzeug von Udo Manzke vor einem jungen Vater mit Kinderwagen
zum Stehen. Der Fachmann für Kurier-, Express- und Postdienstleistungen ist
am Steuer eingeschlafen. Die automatische Notbremsung hat er durch das
ausgebliebene Drücken des Totmannschalters am Lenkrad ausgelöst. Zum Glück
sind die lautlosen Elektroautos der Deutschen Post mittlerweile so langsam
unterwegs, dass der Bremsweg lediglich im Millimeterbereich liegt.
Der Vater scheint den gelben Sprinter nicht als Bedrohung zu empfinden und
überquert mit seiner Säuglingskutsche seelenruhig die Straße im
münsterländischen Örtchen Kleinköttelbach. Derweil räkelt sich der
Zusteller in gemütlicher Frottee-Postuniform und trendigen Lammfellpuschen
auf dem beheizten Fahrersitz und blinzelt schmatzend aus der Frontscheibe.
Die Herbstsonne steht tief. Es ist später Nachmittag, und wir haben seit
Dienstbeginn etwa die Hälfte des knapp fünfzehn Häuser umfassenden
Zustellungsteilbezirks mit Briefen und Paketen beliefert.
Nach der Änderung des Postgesetzes, das Briefträgerinnen und Briefträgern
beim Zustellen ihres Frachtguts jetzt nach all der menschenunwürdigen
Plackerei und den überlangen Schichten ein verdientes, ja gottgegebenes
„Recht auf Langsamkeit“ einräumt, sind die Routen so angepasst worden, dass
sie innerhalb einer Achtstundenschicht problemlos und ohne Zeitdruck zu
bewältigen sind.
## Ausgefallener Schlaf
Damit die Fahrer ausgeschlafen zur Arbeit kommen, beginnt die Schicht erst
um elf. Udo Manzke ist trotzdem müde. „Dieser verdammte Stress!“, gähnt u…
der 46-Jährige entgegen. Wegen des Termins mit uns ist ihm sein
Mittagsschlaf auf der Matratze im Laderaum flöten gegangen. Jetzt hängt
Manzke mächtig durch. Der unfreiwillige Stopp wegen des Kinderwagens kommt
dem Postschaffner dennoch gelegen. Ein etwa 40 Meter langer Schotterweg
führt zu einem Mehrparteien-Mietshaus, wo Manzke ein paar seit April im
Wagen herumliegende Wahlbenachrichtigungen für die NRW-Landtagswahl 2022 in
die Briefschlitze werfen muss.
Der Frachtführer öffnet die Autotür, drückt sich schwerfällig aus dem
Polster. Dann schlurft er träge von dannen, wobei er schon nach ein paar
Schritten stehen bleibt, um intensiv an einem Gardenienstrauch zu
schnüffeln. Keine dreißig Minuten später hat Manzke seine Aufgabe erledigt,
und die wilde Fahrt kann weitergehen.
„Wissen Sie“, leiert der Sendbote, dessen Lebensgeister beim tempolosen
Umherschleichen an der frischen Luft zumindest teilweise zurückgekehrt
sind, „seitdem bei der Post nicht mehr die Post abgeht, haben ich und viele
meiner Kollegen das entschleunigte Arbeiten wirklich schätzen gelernt.
Keine Eilbriefe, keine Expresslieferungen, keine Pünktlichkeitsgarantie.
Nur du, die Fracht und die Ewigkeit“, schwärmt er, während ein freundlich
grüßender Senior am Rollator uns links überholt. Manzke winkt zurück.
## Verspätete Auslieferung
„Dass Sendungen nicht mehr sofort ankommen müssen, hat unseren Beruf total
verändert. Der lang herbeigesehnte Rentenbescheid, der für unmöglich
gehaltene Entschuldigungsbrief, eine nach Jahren überraschende
Liebeserklärung oder einfach nur die allerletzte Aufforderung der
Lottogesellschaft, sich wegen des Millionengewinns zu melden: Wir sind
nicht mehr nur blöde Lieferanten, wir sind zu zeitlosen Schicksalsboten der
Götter geworden. Das ist außerordentlich erfüllend“, frohlockt
Postphilosoph Manzke, der nach eigener Aussage auch abseits der
gesetzlichen Pausen gern mal rechts ranfährt, um ein Sudoku zu lösen oder
Mandalas auszumalen.
„Sie glauben gar nicht, wie dankbar die Leute sind, wenn man urplötzlich
mit etwas vor der Tür steht, auf das sie so lange gewartet haben. Da ist
‚zweimal klingeln‘ oft gar nicht notwendig!“, gluckst Manzke in Anlehnung
an den „schlüpfrigen“ Kinoklassiker und errötet. Da wir bisher im
Schneckentempo unterwegs waren, merken wir erst gar nicht, dass er längst
wieder angehalten hat.
Er muss einen Postbriefkasten leeren und fordert auch uns zum Aussteigen
auf. Überraschenderweise ignoriert Manzke den gelben Klotz aber völlig und
streckt sich stattdessen wohlig seufzend auf der breiten, wellenförmig
geschwungenen Relax-Holzliege daneben aus. Wir sind irritiert.
„Leerung ist erst um 17.30 Uhr“, säuselt der Austräger, indem er die Hän…
hinter dem Kopf verschränkt und die Augen schließt. „Bis dahin sind es noch
dreißig Minuten.“ Wir zögern kurz, beschließen aber dann doch, es uns neben
Udo Manzke gemütlich zu machen. Während wir in einen seligen Dämmerschlaf
hinabgleiten, kommt uns anstelle der sonst omnipräsenten persönlichen
Tretmühle ein ganz anderer Gedanke in den Sinn: Postbote müsste man sein!
Oh, ja.
29 Nov 2022
## AUTOREN
Patric Hemgesberg
## TAGS
Post
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