# taz.de -- Kita-Sprachunterricht in Gefahr: Auf schlecht Deutsch | |
> Lilian Röck sorgt dafür, dass Kinder mit Migrationsgeschichte rasch an | |
> die deutsche Sprache herangeführt werden. Doch der Bund will das Geld für | |
> Sprachkitas streichen. | |
Bild: Erzieherin Lilian Röck mitten bei der Arbeit | |
In Kindertagesstätten ist es selten ruhig, das liegt in der Natur der | |
Sache. In der Berliner [1][Kita Glücksburg] ist es an diesem Mittwoch | |
jedoch außergewöhnlich still. Die älteren Kinder verbringen die ganze Woche | |
auf einem Ferienhof in Brandenburg. Die Jüngeren sind nebenan im | |
Kindertheater, bei den Abenteuern des Pingiunmädchens Patti. Lilian Röck | |
kommt das gelegen. Übernächste Woche steht der Lesenachmittag mit den | |
Eltern an, Kinder und Erwachsene lesen dann gemeinsam in verschiedenen | |
Sprachen. Dafür will die Erzieherin noch geeignete Bücher auswählen. Viel | |
Zeit bleibt Röck an diesem Vormittag nicht. Beim Mittagstisch will sie | |
zurück bei den Krippenkindern sein. | |
Doch schon bald könnte Röcks Arbeit an der Kita beendet sein. Ende des | |
Jahres läuft ihre Stelle aus – eine von rund 7.500 aus dem Bundesprogramm | |
Sprachkitas. Es geht, wie könnte es anders sein, ums Geld. | |
Bis zum Wiedersehen bei Hühnerfrikassee und Reis hat sich die 36-Jährige | |
einiges vorgenommen. Genau genommen: ein umzugskartongroßes Paket voller | |
Kinderbücher. Ein Verlag hat es neulich geschickt. Nun steht das Paket in | |
einem großen Raum mit rotem Teppich. Hier und da liegen Teile eines Kostüms | |
auf dem Boden, vor den Fenstern ist eine Bibliothek eingerichtet. | |
Normalerweise verkleiden sich die Kinder hier oder stöbern nach neuen | |
Büchern. | |
Jetzt kniet Röck – legere Kleidung, tiefe Stimme – auf dem Teppich und | |
fischt ein Buch aus dem Karton. Auf dem Cover ist ein Mädchen als | |
Meerjungfrau abgebildet. „Typisch“, brummt Röck. „Immer sind Meerjungfra… | |
nur Mädchen. Und immer sind sie blond und haben wallendes Haar.“ Röck | |
seufzt und legt das Buch zurück in das Paket. Nur wenige der 52 Kinder an | |
der Kita Glücksburg haben blondes Haar, zusammen bringen sie es auf weit | |
über 20 Sprachen. | |
Als nächstes zieht Röck ein „Vorlesebuch für kleine starke Jungs“ heraus. | |
Auf der Frontseite ist ein weißer Junge im Schneidersitz vor einem Tipi zu | |
sehen. Gekleidet ist er wie ein Indianer. „Schwierig“, sagt Röck, „echt | |
schwierig.“ | |
Lilian Röck ist so etwas wie die Bücherexpertin der Kita Glücksburg. Vor | |
zwölf Jahren hat sie den Quereinstieg von der Schule in die Kita gemacht | |
und seither an verschiedenen Orten im In- und Ausland gearbeitet. In den | |
vergangenen anderthalb Jahren dann hat sie sich verstärkt mit | |
Geschlechterrollen und Vielfalt beschäftigt, passende Fortbildungen besucht | |
– und einen Teil der Bibliothek erneuert. Bücher, die stereotype | |
Rollenbilder bei Jungen und Mädchen verbreiten, hat die Kita aussortiert. | |
Solche, die sie hinterfragen, dazugenommen. | |
Zum Beweis steht Röck auf und kramt mehrere Bände aus den Schubfächern der | |
Bibliothek hervor. „Wir wollen hier Bücher haben, die die gesellschaftliche | |
Vielfalt abbilden“, sagt sie und blättert durch die Seiten. „Wenn die | |
Kinder bei uns Bücher in die Hand nehmen, sollen sie darin Kinder mit | |
Migrationsgeschichte, Patchworkfamilien und Väter auf Spielplätzen | |
entdecken.“ Möglichst alle Kinder sollen sich selbst und ihre Familien in | |
den Geschichten wiedererkennen können. | |
Dass Lilian Röck sich während des wuseligen Kita-Alltags Zeit für diese | |
Themen nehmen kann, hängt mit ihrer Stelle zusammen. Ein Großteil ihrer | |
Arbeitszeit, 20 Stunden die Woche, wird über das Bundesprogramm Sprachkitas | |
finanziert. In dieser Zeit arbeitet Röck als „zusätzliche Fachkraft | |
Sprachkitas“, wie die Stelle offiziell genannt wird. In den übrigen Stunden | |
schreibt sie Dienstpläne oder springt ein, wenn eine Kollegin ausfällt. Mit | |
Kindern arbeitet Röck aber ohnehin nur punktuell – etwa, wenn sie Kinder | |
beim Mittagessen in ein Gespräch verwickelt. Sprachanlässe schaffen, sagen | |
dazu Erziehungswissenschaftler:innen. | |
Röcks Hauptaufgabe besteht darin, das Team für Themen wie | |
alltagsintegrierte Sprachförderung, Inklusion oder Elternarbeit zu | |
sensibilisieren. Wie sprechen die Erwachsenen mit den Kindern? Wie lässt | |
sich ein Mittagessen, das Händewaschen zur Sprachbildung nutzen? Wie lassen | |
sich Familien bestmöglich in die Arbeit der Kita einbeziehen? Oder eben: | |
Welche gesellschaftliche Normalität vermitteln die Lesebücher in der | |
Bibliothek? | |
## Der Bund mag nicht mehr zahlen | |
Die Arbeit als Sprachkraft macht Röck Spaß – und dennoch wird sie für die | |
Erzieherin bald enden. Ende Dezember nämlich läuft die bundesweite | |
[2][Finanzierung für die Sprachkitas] aus, so sieht es der Haushaltsentwurf | |
der Bundesregierung vor. Seit elf Jahren unterstützt der Bund Kitas mit | |
erhöhtem Sprachförderbedarf, indem er ihnen zusätzliches Personal | |
finanziert. | |
Diesen erhöhten Sprachförderbedarf machen die Behörden meist am Anteil der | |
Kinder mit nichtdeutscher Herkunftssprache aus. In Berlin müssen es | |
mindestens 40 Prozent sein, in anderen Bundesländern gelten teils andere | |
Werte. Bundesweit profitiert jede achte Kita von dem Programm. Ob die | |
Länder die Sprachkitas in der bestehenden Form übernehmen, ist jedenfalls | |
mehr als fraglich. Ungeklärt ist vor allem, woher die rund 250 Millionen | |
Euro pro Jahr kommen sollen, die bislang der Bund alleine trägt. | |
Die Lösung von Bundesfamilienministerin [3][Lisa Pau]s (Grüne) sieht vor, | |
die Sprachkitas in das geplante „Kita-Qualitätsgesetz“ zu integrieren. Dann | |
aber müssten die Länder bei anderen Ausgaben sparen. Der Gebührenfreiheit | |
für Kitas beispielsweise. | |
Was die Länder von den Ampelplänen halten, konnte man am vergangenen | |
Freitag beobachten. Einstimmig forderten sie im [4][Bundesrat die | |
Bundesregierung auf], das Programm der Sprachkitas fortzusetzen und zu | |
verstetigen. Das Bundesfamilienministerium konterte umgehend: Kitas sind | |
Ländersache, eine dauerhafte Finanzierung des Bundes komme nicht infrage. | |
Einzig eine sechsmonatige Übergangsfinanzierung hat Paus bislang in | |
Aussicht gestellt. | |
Und dieser Streit über das Geld geschieht nun ausgerechnet zu einer Zeit, | |
in der besonders viele nichtdeutsche Kinder in den Kitas dringend einer | |
Sprachförderung bedürfen. Hunderttausende Geflüchtete aus der Ukraine haben | |
in den letzten Monaten die Bundesrepublik erreicht. Nach einer Statistik | |
von Anfang September drängen sich derzeit allein in den Schulen 172.787 | |
ukrainische Kinder und Jugendliche. | |
Kaum vorstellbar, dass die Ampel zum Regierungsstart noch eine bessere | |
Zusammenarbeit bei Bildungsinvestitionen, gar ein Kooperationsgebot, | |
versprochen hat. Von diesem Geist ist nicht viel übrig geblieben. Aktuell | |
schieben sich Bund und Länder gegenseitig die Verantwortung für die Misere | |
zu. | |
## Die ersten Erzieherinnen kündigen ihre Stelle | |
Bei den Kitas kommt das nicht gerade gut an. Seit Wochen kritisieren Träger | |
und Kita-Leitungen das absehbare Ende der Sprachkitas. Und sie mahnen zur | |
Eile. Wenn nicht bald eine Lösung für die gefährdeten Stellen gefunden | |
werde, schaue sich das Personal nach Alternativen um. Dass dies keine | |
Panikmache ist, bestätigen Erzieher:innen, die selbst von dem drohenden | |
Ende des Programms betroffen sind. Von sechs Sprachfachkräften, mit denen | |
die taz für diesen Text gesprochen hat, haben drei bereits eine neue Stelle | |
sicher oder in Aussicht. Zwei können in jedem Fall bei der Kita bleiben, | |
weil sie bereits vor der Arbeit als Sprachkraft eine unbefristete Stelle in | |
der Kita hatten. Allerdings verlagert sich dann nur das Problem. Denn wenn | |
die Bundesgelder enden und die Fachkraft plötzlich Personalkosten beim | |
Träger verursacht, muss die Kita an einer anderen Stelle sparen. | |
Wortwörtlich. | |
Vor diesem Problem steht auch Wenke Stadach. Und zwar gleich doppelt. Weil | |
ihre Kita Lütt Matten in Neubrandenburg mit 250 Kindern besonders groß ist, | |
wurden ihr gleich zwei zusätzliche Stellen aus dem Sprachkita-Programm | |
bewilligt. Wenn es dumm läuft, muss Stadach im Januar also zwei halbe | |
Stellen einsparen. Was sie dann macht, weiß sie noch nicht. | |
Trotz dieser Aussichten ist Wenke Stadach erstaunlich gut gelaunt, als sie | |
die taz in ihrer Kita empfängt. Vielleicht liegt es an der [5][Petition zur | |
Rettung der Sprachkitas], die Stadach in den Bundestag eingebracht hat und | |
die gerade durch die Decke geht. Als die 48-Jährige in ihrem Büro | |
türkischen Mokka anbietet, hat ihre Petition gerade die 90.000 | |
Unterschriften geknackt und damit locker die erforderliche Hürde von | |
50.000. Eine Woche später sind es schon über 180.000. Damit ist sicher: Die | |
Bundesregierung muss Stadach im Oktober vor dem Petitionsausschuss anhören. | |
„Das wird bestimmt aufregend“, sagt Wenke Stadach in ihrem Büro und muss | |
schmunzeln. Sie, die mit 16 von der Schule gegangen ist, um erst in der | |
Kaufhalle zu arbeiten, mischt heute in der Berliner Bildungspolitik mit. | |
Ihre Botschaft an Lisa Paus, oder wer auch immer vom Familienministerium | |
zum Petitionsausschuss aufkreuzen mag, hat sich Stadach jedenfalls schon | |
zurechtgelegt. „Na, dass kein Programm mehr für die Chancengerechtigkeit | |
leistet als die Sprachkitas.“ | |
Das sehe sie auch hier in Neubrandenburg, wo viele Kitas keine Kinder | |
aufnähmen, dessen Eltern Transferleistungen beziehen. Dann dürften sie dem | |
Kind nämlich nur einen Teilzeitplatz anbieten – und würden dadurch spürbar | |
weniger Ressourcen erhalten. Bei einem Krippenplatz macht der Unterschied | |
rund 700 Euro im Monat aus, bei älteren Kindern knapp 200. „Mit gut | |
bezahlten Ganztagskindern kann man natürlich besser wirtschaften“, sagt | |
Stadach. „Wir nehmen aber alle Kinder.“ | |
Damit das auch künftig so bleibt, nimmt Stadach den Bund bei den | |
Sprachkitas in die Verantwortung. Es ärgert sie, dass der Staat erst über | |
Jahre sinnvolle Strukturen aufbaut, um sie dann der föderalen Ungewissheit | |
preiszugeben. Woher ihr Bundesland plötzlich die Gelder für die Sprachkitas | |
nehmen soll, weiß sie nicht. Mecklenburg-Vorpommern hat im | |
Länderdurchschnitt die geringsten Löhne, aus diesem Grund hat die | |
Schweriner Landesregierung in er Vergangenheit die Kitamittel des Bundes in | |
die Gebührenfreiheit gesteckt. „Auch das ist wichtig für die | |
Chancengerechtigkeit“, findet Stadach. | |
## SPD-Bundestagsabgeordneter macht Hoffnung | |
So ähnlich sieht es [6][Erik von Malottki]. „Das Dilemma ist, dass die | |
Länder jetzt in so ein Dilemma kommen.“ Der SPD-Bundestagsabgeordnete aus | |
Greifswald hat sich von Beginn an hinter den Erhalt der Sprachkitas | |
gestellt. „Ohne zusätzliche Mittel wird es nicht gehen“, sagt von Malottki | |
am Telefon. Die Bedingungen für Kitas vor Ort kennt von Malottki nur zu | |
gut. Nach seinem Studium arbeitete er beim Projekt „Ein Quadratkilometer | |
Bildung“ in einer sozial benachteiligten Wohnsiedlung. Als Gewerkschafter | |
bei der GEW unterstützte er später die Gebührenbefreiung an Kitas, weil | |
erst dadurch auch der Lohn für Erzieher:innen steigen durfte, ohne dass | |
gleich die Kita teurer wurde. | |
„Ich glaube daran, dass man etwas verändern kann in diesem Land“, sagt von | |
Malottki. Das beweise der große Zuspruch zur Petition im Bundestag. Wird er | |
mit seinem Optimismus recht behalten? Spätestens Mitte November, bei der | |
Bereinigungssitzung für den Haushalt 2023 im Bundestag, werden die Würfel | |
fallen. Von Malottki verspricht, dass die SPD-Fraktion „geschlossen“ dafür | |
kämpfen werde, dass die Sprachkitas auch im kommenden Jahr fortbestehen. | |
Egal wie es ausgeht – Lilian Röck von der Berliner Kita Glücksburg wird | |
nicht mehr lange dabei bleiben. Sie zieht es in die Erwachsenenbildung. | |
Noch im Oktober wird Röck ihre Nachfolgerin einarbeiten und das | |
Sprachkita-Projekt übergeben. Mindestens noch für ein paar Wochen. | |
21 Sep 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.gluecksburgberlin.de/ | |
[2] /Sprachfoerderung-in-Kitas/!5864015 | |
[3] /Neue-Bundesfamilienministerin-Lisa-Paus/!5847039 | |
[4] /Sprachfoerderung-an-Kitas/!5882012 | |
[5] /Petition-der-Woche/!5866867 | |
[6] https://erikvonmalottki.de/ | |
## AUTOREN | |
Ralf Pauli | |
## TAGS | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Erziehung | |
Kita | |
GNS | |
Wochenkommentar | |
Frühkindliche Bildung | |
Kitaplätze | |
Kita-Ausbau | |
Kita-Finanzierung | |
Petition der Woche | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Fortbestand der Sprachkitas: Eine Schonfrist, nicht mehr | |
Der Bund verlängert die Förderung für die Sprachkitas bis Mitte 2023. | |
Darauf darf sich Berlin jetzt nicht ausruhen. | |
Studie über Grundschulkinder: Bildungsmisere mit Ansage | |
Eine neue Studie offenbart große Wissenslücken bei Viertklässler:innen. Das | |
Problem beginnt schon in den Kitas, dort muss die Politik handeln. | |
Chancengleichheit für Kinder: Neukölln sucht nach Worten | |
Viele Kinder mit Sprachdefiziten besuchen keine Kita. Linke-Fraktion in | |
Neukölln sieht ein „Anspracheproblem“ seitens des Bezirks. | |
Kitaplätze und Bildungsföderalismus: Deutschland versteinert | |
Kitaplätze fehlen, die Sprachförderung wurde gestrichen: Warum es | |
hierzulande einen neuen Bildungsföderalismus braucht. | |
Sprachförderung an Kitas: Bundesrat will Sprachkitas retten | |
Die Bundesförderung der Sprachkitas läuft Ende des Jahres aus. Der | |
Bundesrat fordert nun einstimmig die Fortsetzung des Programms. | |
Petition der Woche: Sprach-Kitas weiterhin fördern | |
Der Bund beendet ein Förderprogramm für Sprachbildung in Kitas. Daran gibt | |
es viel Kritik. Nun fordert eine Petition die Verlängerung des Programms. |