# taz.de -- Wenig Platz im Kirchenasyl: Es wird eng im Gotteshaus | |
> Kirchenasyl ist ein letzter Ausweg für Härtefälle. Einer jungen Mutter | |
> drohte die Abschiebung. Sie hatte Glück, eine Münchner Kirche nahm sie | |
> auf. | |
Bild: Auch in Italien (hier Lampedusa) sind die Kirchen in Rettungsaktionen fü… | |
München | taz | Die Himmelfahrtskirche in München-Sendling ist ein flaches | |
Gebäude, nach dem Krieg aus Trümmersteinen erbaut, nur wenige Gehminuten | |
südlich der Theresienwiese. Während sich dort das Oktoberfest ergießt, | |
sitzt in einem Zimmer im Erdgeschoss der Pfarrei Amirah Diallo*, 25, aus | |
Sierra Leone, mit ihrer Tochter Aisha, sechs Monate. Als Kind wurde Diallo | |
genitalverstümmelt, als junge Frau drohte ihr Zwangsheirat. Deswegen sei | |
sie hier, sagt sie. Diallo lebt im Kirchenasyl, sonst wäre sie längst | |
abgeschoben. | |
Die letzte Statistik zum [1][Kirchenasyl in Deutschland] stammt vom April | |
2022. 594 Personen, davon 121 Kinder, waren da im Kirchenasyl, fast alle | |
sogenannte Dublin-Fälle. Sie sollen nicht ins Herkunftsland, sondern in den | |
EU-Staat ihrer Einreise abgeschoben werden und dort um Asyl ersuchen. Doch | |
die schieben sie oft weiter ab. Das Kirchenasyl ist ein letzter Notnagel | |
für Härtefälle, die das Glück haben, eine offene Gemeinde zu finden. | |
2014 hat Diallo Ebola überlebt, ihre Mutter starb an der Infektion. Diallo | |
wird Krankenschwester, 2019 macht sie den Abschluss. Ein Jahr später habe | |
ihr Onkel sie an einen lokalen Politiker verkaufen wollen, sagt sie. Diallo | |
verlässt Sierra Leone allein, im März 2020. Im November 2020 gelingt ihr | |
die Überfahrt aus Marokko nach Spanien. Nach einem Monat darf sie das Lager | |
dort verlassen. Per Zug fährt sie weiter, bis nach Sachsen. „Sie sagten, | |
für Ausgebildete gibt es in Deutschland Arbeit“, erzählt Diallo. | |
Kurz nach ihrer Ankunft in Sachsen lernt sie den Vater ihres Kindes kennen. | |
Auch er stammt aus Sierra Leone, ist abgelehnter Asylbewerber, geduldet. Er | |
lebt seit 2015 in Chemnitz, arbeitet als Krankenpfleger, hat eine kleine | |
Wohnung. Die beiden kommen sich näher und Diallo beantragt, dort bleiben zu | |
dürfen. Doch im Dezember 2020 wird sie in ein Asylheim im bayerischen | |
Deggendorf verlegt. Der Mann kommt immer am Ende des Monats für drei Tage | |
zu Besuch. | |
## Behörden streichen Sozialleistungen auf null | |
Im Februar 2021 wird Diallos Asylantrag abgelehnt. Spanien sei zuständig. | |
Die deutschen Behörden ersuchen das Land, Diallo als Dublin-Fall | |
zurückzunehmen. Sie soll ihren Asylantrag dort stellen. „Aber die schicken | |
mich zurück nach Sierra Leone“, sagt Diallo. | |
Einen Monat später stimmt Spanien zu. Ab jetzt hat Deutschland sechs Monate | |
Zeit, sie dorthin abzuschieben. Es sei denn, sie taucht unter. Dann | |
verlängert sich die Frist auf 18 Monate. | |
Diallo trifft den Mann aus Chemnitz weiter. Sie wird schwanger. Im Juli | |
2021, sie gilt als untergetaucht, streichen ihr die Behörden die | |
Sozialleistungen auf null. Kurz vor dem Geburtstermin vermittelt ihr eine | |
Sozialarbeiterin des Bayerischen Flüchtlingsrates den Platz in der | |
Himmelfahrtskirche. | |
Am 7. März 2022 wird ihre Tochter geboren. Diallo hat keinen Pass, die | |
Ärzte im Klinikum rechts der Isar geben ihr keine Geburtsurkunde. Es gibt | |
einen Rechtsanspruch, als Familie zusammenleben zu dürfen. Aber weil der | |
Vater nur geduldet ist, greift der in ihrem Fall nicht. Diallo klagt | |
dagegen. Die Familie könne auch per Smartphone Kontakt halten, befindet das | |
Gericht. | |
18.429 sogenannter Übernahme-Ersuchen stellte Deutschland 2021 an andere | |
EU-Staaten. Stimmen die zu, ist Kirchenasyl praktisch der einzig | |
verbleibende Weg zu einem Asylverfahren in Deutschland. Die Nachfrage nach | |
Plätzen ist enorm, das Angebot klein. | |
Thomas Brandt ist einer von drei Beratern des ökumenischen Netzwerks Asyl | |
in der Kirche Nordrhein-Westfalen, das Schutzsuchende an Gemeinden | |
vermittelt. „Wir sind völlig überrannt“, sagt Brandt. Die Zustände bei | |
seiner wöchentlichen Sprechstunde in Köln seien „absurd“. Teils würden 40 | |
Menschen bis zu 10 Stunden warten. „Vor dem Winter graut uns“, sagt er, | |
denn das Büro sei so klein, dass die Menschen im Hof warten müssen. | |
Freie Plätze in Kirchen gebe es „eigentlich gar nicht“, sagt Thomas Brandt. | |
„Wir haben hier viele Leute mit sehr viel Angst und Druck, denen wir immer | |
weniger versprechen können.“ Der Krieg gegen die Ukraine hat die Lage | |
verschärft. Viele Gemeinden haben in ihren Räumen Geflüchtete von dort | |
aufgenommen. „Legitim und cool“, sagt Brandt dazu. „Aber das macht es für | |
uns schwerer. Es bräuchte viel mehr Gemeinden.“ | |
In der Himmelfahrtskirche macht Amirah Diallo Wasser heiß, gießt es in eine | |
Plastikflasche, holt eine Dose mit Milchpulver aus dem Regal. Das Kind | |
sitzt auf der Matratze auf dem Boden und schaukelt mit den Händen. Nach | |
einer Weile tropft Diallo etwas Milch auf ihr Handgelenk. Dann gibt sie dem | |
Kind die Flasche. | |
Es sei schwierig ganz allein mit einem Baby. „Man kann nicht mal in Ruhe | |
duschen.“ Hilfe hat sie nur, wenn ihr Partner aus Chemnitz kommt. Doch der | |
kann sich die Reise nur ein Mal im Monat für wenige Tage leisten. „Das | |
Leben hier ist besser als im Lager. Aber ich kann hier nicht raus“, sagt | |
Diallo. In zwei weiteren Räumen der Kirche sind drei Männer aus Syrien | |
untergebracht. Verlassen können sie alle die Kirchenräume nicht. | |
Etwas Abwechslung bietet das Kochen. Was die Syrer zubereiten, mag Diallo | |
nicht, also kocht sie für sich allein, Erdnuss-Suppe oder Yamsbrei mit | |
Okra-Schoten. Am Vormittag bietet die Gemeinde den Gästen einen | |
Deutschkurs. Die Pfarrerin lebt im Obergeschoss, kommt jeden Tag auf einen | |
Plausch herunter. Sie heißt Stephanie Höhner, hat das Amt 2019 im Alter von | |
33 Jahren übernommen. | |
## Keine Sozialleistungen | |
Schon 2015 hatte der Vorstand der Gemeinde entschieden, dauerhaft | |
Kirchenasylplätze anzubieten. Anders als viele andere Geistliche muss | |
Höhner deshalb nicht jedes Mal um Zustimmung bitten. „Breit unterstützt“ | |
werde das in der Gemeinde, sagt Höhner. | |
Wer im Kirchenasyl ist, kriegt keine Sozialleistungen. 600 bis 700 Euro im | |
Monat wendet die Gemeinde für Lebensmittel und Drogerieartikel für die fünf | |
Gäste auf. „Wir merken die Inflation dabei auch.“ Ein Arzt im Ruhestand | |
übernimmt kleinere Untersuchungen. Hin und wieder kommen dennoch | |
Arztrechnungen hinzu. | |
Montags und donnerstags schreiben die Gäste Einkaufszettel. Zwei | |
Ehrenamtliche kaufen ein. Donnerstags gibt es ein gemeinsames Mittagessen | |
mit den Kirchenmitarbeitern. Auf den Tisch komme dann „europäisches Essen“, | |
sagt Höhner. „Wir wollen ein bisschen den kulinarischen Horizont | |
erweitern.“ Und die Geburtstage werden gefeiert. Mit Kuchen, sagt Diallo. | |
Am meisten fürchtet sie, dass auch ihre Tochter genitalverstümmelt wird, | |
wenn sie nach Sierra Leone zurückmuss. „In meiner Familie ist das Pflicht.“ | |
Sie könne daher nicht schlafen. | |
372 Gemeinden bieten laut der „Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der | |
Kirche“ Plätze an. Für Höhner heißt dies auch, viele Anfragen ablehnen zu | |
müssen. Dafür Kriterien zu finden ist nicht leicht. „Wir schauen uns den | |
Einzelfall an“, sagt sie. In der Regel hätten Anfragen von Menschen eine | |
bessere Chance, denen die Abschiebung nach Osteuropa droht. „In Ländern wie | |
Kroatien oder Ungarn sind nicht nur die Aufnahmebedingungen unzumutbar, es | |
gibt auch praktisch keine Aussicht auf Asyl.“ | |
2015 haben Bundesamt für Migration und Flüchtlinge BAMF, die evangelische | |
und die katholische Kirche eine Vereinbarung getroffen, die dem Kirchenasyl | |
erstmals feste Regeln gab. Sie sieht vor, dass [2][jede Gemeinde | |
Kirchenasyle] zentral beim Bamf meldet und in einem sogenannten | |
Härtefalldossier begründet, warum das Bamf die Abschiebung noch einmal | |
überdenken sollte. Das Bamf ist zur Prüfung verpflichtet. Allerdings lehnt | |
es mittlerweile fast alle Anträge ab. | |
## Die Pfarrerin schreibt die Härtefalldossiers selbst | |
Pfarrerin Höhner schreibt die Dossiers selbst. „Das braucht keinen | |
juristischen Sprech“, sagt sie. Im Fall von Diallo etwa hat sie | |
geschrieben, dass es unzumutbar sei, Vater, Mutter und Tochter zu trennen. | |
Amirah Diallos Partner hat im August eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. | |
Ein neuer Antrag auf Familienzusammenführung könnte so Erfolg haben. Ob sie | |
heiraten will? Vielleicht, sagt Diallo. Erst einmal will sie nur mit ihm | |
zusammenwohnen. „Wir müssen uns besser kennen lernen, bevor wir das | |
entscheiden.“ | |
Die Frist zur Überstellung nach Spanien ist Mitte September abgelaufen. | |
Diallo darf nun offiziell in Deutschland einen Asylantrag stellen. Sobald | |
die entsprechende Mitteilung vom Bamf da ist, kann sie die Kirche verlassen | |
und wieder nach Deggendorf ins Lager. | |
Juristisch gesehen sind es die Geistlichen der Gemeinden persönlich, die | |
das Kirchenasyl gewähren. In eine rechtliche Grauzone kommen sie, wenn das | |
Bamf den Härtefallantrag ablehnt. Die Asylsuchenden sind dann darauf | |
angewiesen, dass die Gemeinden ihnen trotzdem weiter Asyl gewähren, bis die | |
Überstellungsfrist abgelaufen ist – wie im Fall Diallos. Die | |
Pfarrer:innen dürfen die Gäste nicht ermutigen zu bleiben – sind aber | |
auch nicht verpflichtet, sie vor die Tür zu setzen. | |
Risikolos ist das dennoch nicht. Seit 2015 wurden eine Reihe von | |
Geistlichen, die Kirchenasyl gewährten, wegen Beihilfe zu illegalem | |
Aufenthalt verurteilt, meist in Bayern. Fast alle Urteile wurden in höheren | |
Instanzen aufgehoben. Gegen Höhner gab es bisher fünf Ermittlungsverfahren. | |
Alle wurden eingestellt. Ihre Gemeinde will auch weiter Kirchenasyl | |
anbieten, sagt die Pfarrerin.*Name geändert | |
20 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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