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# taz.de -- Geflüchteter über Warten und die Justiz: „Die Narben begleiten …
> Salah Soliman wollte einen Streit schlichten und wurde dabei schwer
> verletzt. Jetzt hofft er auf ein Gerichtsurteil – bisher aber vergebens.
Bild: Enttäuscht von der deutschen Justiz: Salah Soliman
taz am wochenende: Herr Soliman, Sie sind enttäuscht von der deutschen
Justiz. Um zu verstehen, warum, müssen wir ein paar Jahre zurück schauen.
Die Geschichte begann vor fünf Jahren in einem Einkaufszentrum in
Flensburg. Was passierte damals?
Salah Soliman: [1][Es war Black Friday] im Jahr 2018, und mein Bruder und
ich waren in der Galerie, das ist ein großes Einkaufszentrum in der
Flensburger Innenstadt, mit Freunden unterwegs. Na ja, wir haben Bekannte
gesehen und uns begrüßt. Und dann gab’s Streit …
Wie waren Sie daran beteiligt?
Mein Bruder und ich waren da gar nicht eingeplant. Offenbar hatte das Ganze
eine Vorgeschichte, es hatte schon vorher einen Streit gegeben und auch
einen Whatsapp-Chat. Die Beteiligten und einige ihrer Freunde haben sich
dann in der Galerie getroffen. Wir waren in der Nähe und haben beobachtet,
wie mehrere Leute aufeinander losgegangen sind. Wir sind dann dazwischen
gegangen, um da zu helfen. Also, als Erster ging Abdul hin, mein Bruder,
weil er einige von denen kannte, die da beteiligt waren. Er wollte
schlichten, er ist so einer, der immer helfen will. Na, und ich bin dann
hinterher, um ihn nicht alleinzulassen.
Es war ja ein Messer im Spiel – hatten Sie keine Angst, in so eine
Situation reinzugehen?
Das Messer hatte ich zu dem Zeitpunkt nicht bemerkt. Ich bin meinem Bruder
nach, weil ich gesehen habe, dass er geblutet hat. Ich wollte die anderen
von ihm wegkriegen, ich musste ja etwas machen. Und es ging alles
wahnsinnig schnell.
Sie sind also zwischen die anderen gegangen, dabei wurden Sie verletzt, mit
dem erwähnten Messer. Hatten Sie nicht wahnsinnige Schmerzen?
Ich hatte anfangs keine Schmerzen. Erst war ich eigentlich noch ganz normal
drauf, habe nichts gespürt. Das ist diese Adrenalinsache, der Körper
schützt sich selbst. Dann habe ich gemerkt, wie Blut auf den Boden läuft,
und im nächsten Moment lag ich da. Zum Glück war zufällig ein Arzt in der
Nähe, der in der Galerie eingekauft hatte. Der hat mir gesagt, wie ich
liegen soll, und ist bei mir geblieben, bis die Rettung kam. Die haben mich
dann ins Franziskus-Krankenhaus gefahren.
War Ihnen da bereits klar, wie schwer Sie verletzt waren?
Ja, doch. Das war mir dann schon klar.
Was hätte passieren können, wenn Sie nicht eingegriffen hätten? Wollte der
Mann mit dem Messer auf jemanden einstechen?
Was genau er wollte, kann ich nicht sagen, aber die Szene war schon
dramatisch. Es fielen Schläge von überallher, der Onkel des Angreifers
prügelte mit einem Schlagring auf einen kleineren Jungen ein, und mein
Bruder wurde verletzt. Ich musste was tun. Ist es nicht Pflicht in
Deutschland, dazwischenzugehen, wenn so was passiert?
Na ja, Sie hätten auch zum Beispiel Hilfe rufen können … Nach dem Vorfall
tat sich die Polizei offenbar schwer festzustellen, wer wie an der Tat
beteiligt war. Zumindest klingt es im Bericht in der Lokalzeitung so. Dort
ist von „einem Streit zwischen mehreren Personen“ die Rede, der sich „zu
einer handfesten Auseinandersetzung mit Pfefferspray und mindestens einem
Messer“ entwickelte. Wurden Sie anfangs als Verdächtiger behandelt? Was hat
die Polizei gedacht?
Ich weiß nicht, was die Polizei gedacht hat. Kann sein, dass es für die
anfangs so aussah, als seien alle schuldig. Es waren ja wirklich eine ganze
Menge Leute da.
Stimmt, in der Anklageschrift werden 20 Zeug*innen aufgezählt, plus die
Polizei, die mit mehreren Personen anrückte. Wie haben Sie die Beamten
erlebt?
In der Lage selbst herrschte erst mal Chaos. Die haben mit meinem Bruder
gesprochen, aber es vermieden, mit mir zu reden, ich lag ja auf dem Boden.
Dann kam ich ins Krankenhaus, zu einer Notoperation. Irgendwann habe ich
noch halb in Narkose eine Aussage gemacht. Später kam noch jemand von der
Kripo, das war dann alles fair und okay.
Sie und Ihr Bruder wurden beide verletzt, Sie noch schwerer als er. Was ist
passiert, und wie geht’s Ihnen heute damit?
Ich habe einen Stich in die Seite bekommen, bei der Operation habe ich eine
Niere verloren. Früher war ich fit und sportlich, das bin ich heute nicht
mehr so richtig.
Wie heißt das, können Sie noch Sport machen?
Ach, das ist ein richtig großes Thema für mich. Früher bin ich an einem
langweiligen Tag immer ins Schwimmbad gegangen, auch im Urlaub war ich
immer schwimmen – das mache ich nicht mehr. Die Motivation ist weg, auch
wegen der Narben, die mich im Alltag einschränken. Ich habe immer noch
Schmerzen, ich fühle mich nicht mehr so wohl in meinem Körper. Das
Selbstbewusste, das ich hatte, das ist nicht mehr da. Früher hatte ich kein
Problem damit, mit nacktem Oberkörper rumzulaufen, das mache ich heute
nicht mehr. Diese Narben sind mitten im Bauch, unter der Brust, da werden
die Augen automatisch drauf gelenkt. Ich war fünf Jahre in einer Beziehung,
und ich glaube, die Folgen dieses Vorfalls und die Narben, die mich ständig
begleiten, haben auch die Beziehung kaputt gemacht.
Lässt sich nicht zumindest gegen die Narben etwas machen?
Ich war deswegen in Hamburg in einer Beratung. Da kann man schon etwas
machen, aber es kostet 2.000 Euro, die müsste ich vermutlich selbst zahlen,
weil es als Schönheits-OP gilt. Dabei ist es nicht nur das Aussehen,
sondern es schmerzt ja auch. Aber ich weiß nicht, ob die Krankenkasse das
versteht. Na ja, und auch darüber hinaus muss ich jetzt auf vieles achten
und meine Gesundheit im Blick behalten, denn die verbliebene Niere wird im
Lauf der Zeit schlechter. Aktuell empfehlen die Ärzte, dass ich in eine
Klinik gehe und alles gründlich untersuchen lasse, das würde ich auch gern
tun. Hinzu kommt, dass ich psychisch belastet bin.
Wie wirkt sich das aus?
Ich möchte arbeiten, ich will Karriere machen. Aber solange diese
Geschichte juristisch nicht beendet ist, ist mein Kopf nicht frei. Vieles
beschäftigt und belastet mich. Eigentlich würde ich gern studieren, aber im
Moment schaffe ich das nicht. Zurzeit arbeite ich auch nicht. Ein
Mitarbeiter mit so einer Geschichte ist nicht leicht für einen Betrieb.
Manchmal bin ich gereizt oder nicht konzentriert, ich fürchte, dass ich
nicht gut in das Arbeitsklima einsteigen kann. Und wenn das nicht möglich
ist, belaste ich die Stimmung, und das braucht keiner bei der Arbeit. Ich
möchte meine Chance ergreifen, aber im Moment geht es nicht.
Was machen Sie denn beruflich?
Damals war ich noch in der Ausbildung, als Hotelfachmann in einem Hotel in
Wassersleben, das ist ein Ort nahe der Flensburger Förde und an der Grenze
zu Dänemark. Die lange Ausfallzeit durch Krankenhaus und Reha hat auch die
Ausbildung gefährdet, ich konnte erst nach längerer Zeit nach dem Hamburger
Modell wieder einsteigen. Aber meine Chefs haben das Ganze verstanden, ich
konnte die Zeit nachholen und die Prüfungen später nachmachen.
Sie wohnen hier in Harrislee bei Flensburg mit Ihrem Bruder zusammen –
klappt das gut, diese Männer-WG?
Das klappt gut, ja. Wir wohnen seit vier Jahren zusammen. Anfangs war alles
gut, aber nach dem Vorfall in der Galerie gab es ein paar Probleme, weil
ich durch die Verletzungen im Alltag beschränkt war. Wir reden aber nicht
oft miteinander darüber, das würde mich noch mehr fertigmachen. Immerhin
haben wir beide trotz der Sache unsere Ausbildungen beendet. Mein Bruder
ist Heizungs- und Sanitärtechniker, er arbeitet in einer guten Firma. Ich
arbeite nicht, wie gesagt, und das belastet mich ziemlich. Zurzeit bin ich
viel zu Hause oder beim Arzt.
Sie sind als Jugendlicher als unbegleiteter Flüchtling aus Ägypten nach
Deutschland gekommen. War eine Ausbildung im Hotel Ihr Traum, oder haben
Sie einfach die erste beste Lehrstelle akzeptiert, weil ein Vertrag Ihnen
Sicherheit vor Abschiebung garantiert?
Nein, tatsächlich habe ich mich freiwillig für das Hotelfach entschieden,
weil ich sprachtalentiert bin und weil ich hoffe, dass mir diese Ausbildung
für meine Karriere nutzt. Mein Ziel ist, die Welt zu sehen und ein Studium
zu machen. Wenn es dazu kommt.
Stimmt, Ihr Deutsch ist wirklich sehr gut. Wie haben Sie das gelernt?
In Elmshorn habe ich für ein halbes Jahr die Europaschule besucht, dann bin
ich nach Hörup umgezogen. Das Zusammensein mit den Betreuern in der
Wohngruppe, die Gespräche mit den anderen Kindern haben viel gebracht, und
dann hatte ich diese lange Beziehung zu einer Frau, die mich viel
unterstützt hat. Und Talent kommt dazu: Vokabeln lerne ich auch, wenn ich
vor dem Fernseher sitze. Aber die Schule hat mir viel beigebracht, und ich
bin oft mit Deutsch sprechenden Leuten unterwegs.
Ist es schwer, Deutsche kennenzulernen, wenn man als Asylbewerber hierher
kommt?
Nein, das fiel mir nicht schwer. Zurzeit habe ich eigentlich nur deutsche
Freunde und einige aus EU-Staaten, zum Beispiel aus Norwegen oder
Frankreich. Klar, ich kenne ein paar Ausländer, etwa die Leute aus dem
Heim, in dem ich anfangs gewohnt habe, aber ich suche eher andere Kontakte.
Ich denke, es bringt mir mehr, vor allem sprachlich, wenn ich mit Deutschen
unterwegs bin.
Das klingt alles so ordentlich und diszipliniert, also Eigenschaften, die
manche als typisch Deutsch bezeichnen. Wie deutsch fühlen Sie sich
inzwischen?
Schon einigermaßen. Wobei ich nicht deutsch oder was immer sein will,
sondern nur versuche, meine Meinungen zu haben und mich danach zu
verhalten. Aber es stimmt, eigentlich habe ich mit meiner ägyptischen
Kultur nichts mehr zu tun. Sogar zu Hause mit meinem Bruder spreche ich
meistens Deutsch. Das liegt auch daran, dass er eine deutsche Freundin hat,
und die soll uns ja verstehen.
Und Musik und Bücher – was mögen Sie da für Sachen, und in welchen
Sprachen?
Ich höre hauptsächlich englische Lieder, was so im Radio läuft, und ich
lese deutsche Bücher.
Was denn grade?
So eine Novelle, was Romantisches. Meine Ex hat mir das zur Trennung
geschenkt.
Aber Kontakte zu Ihrer Familie oder auch Freunden in Ägypten haben Sie
noch?
In Ägypten direkt zu niemanden. Meine Familie ist in verschiedenen Ländern
verstreut, aber wir rufen uns an.
Ihr Bruder und Sie kamen als Minderjährige ohne Begleitung nach
Deutschland. Wann war das, und warum sind Sie geflohen?
Ich möchte darüber gar nicht so viel erzählen, nur so viel: Für Touristen
ist Ägypten ein tolles Land und auch wir hatten eigentlich ein schönes
Leben, mit Haus und allem. Aber mein Vater hat sich gegen Unrecht
ausgesprochen – er ist wie mein Bruder, er musste auch dazwischengehen –
und dann kam die Familie unter Druck. Mein Vater hat entschieden, dass wir
gehen sollen. Im April 2016 kamen wir in Deutschland an.
Ägypten gilt [2][als sicherer Herkunftsstaat]. War es schwer, hier einen
Aufenthaltsstatus zu bekommen?
Wir mussten anfangs um unseren Status kämpfen, ich lebte eine Weile im
Kirchenasyl in Schnarup-Thumby, das ist ein Ort hier in der Nähe. Das war
eigentlich gut da, die Leute haben sich toll eingesetzt. Inzwischen habe
ich einen Aufenthaltstitel. Aber der Status ist nicht dauerhaft.
Sprich, im Moment ist alles unsicher bei Ihnen. Sie hoffen nun auf den
Prozess, um zumindest dieses Thema abschließen zu können?
Ja, ich hoffe, dass endlich der Prozess eröffnet wird. Ich verstehe nicht,
warum das so lange dauert.
Das zuständige Gericht sieht keinen Grund, den Fall beschleunigt zu
behandeln, das teilt der Präsident des Landgerichts auf Anfrage mit. Weil
niemand in Haft sitzt, keine Fluchtgefahr besteht und es nach bisherigen
Erkenntnissen keine Tötungsabsicht gab seien andere Fälle vorrangig. Das
heißt, es wird wohl noch dauern. Sie haben inzwischen einen Anwalt,
richtig?
Ja. Von den anderen Beteiligten hatte der eine oder andere keinen Bock
mehr, einige haben es unter sich geklärt. Ich will es offen und vor
Gericht. Neulich kam immerhin die Einladung zu einem Gütetermin, da geht’s
um Schmerzensgeld. Da gehe ich natürlich hin, aber das Geld ist mir egal,
das gibt man eh irgendwann aus. Einigen will ich mich nicht mit dem, der
mich verletzt hat, ich will nicht mal mit dem in einem Raum sitzen. Schlimm
genug, dass er so schnell aus der U-Haft wieder rauskam damals. Anfangs
habe ich Angst gehabt, ihm wieder zu begegnen.
Ist das mal passiert in den vergangenen Jahren?
Ja, einmal habe ich ihn gesehen. Da war er mit zwei anderen unterwegs, die
haben ihn gleich ins Auto gezogen.
Was wünschen Sie sich, wie sollte es jetzt weitergehen?
Ich will den Prozess und dass der Typ in den Knast geht. Mir geht es um
Gerechtigkeit. Wenn ein Gericht es so entscheidet, dann gibt es am Ende
auch Schmerzensgeld und er muss für den Anwalt zahlen. Zurzeit müsste ich
den selbst zahlen, wenn ich Geld verdienen würde. Also ist es ein
Kompromiss mit mir selbst, nicht zu arbeiten, bis es geklärt ist.
Wenn die Sache hinter Ihnen liegt, was planen Sie für die Zukunft? Wieder
im Hotel arbeiten, eine neue Beziehung anfangen?
Ja, erst mal möchte ich noch Erfahrungen im Job sammeln und mehr von der
Welt sehen, dann würde ich gern BWL studieren. Das geht an einer privaten
Fachschule, ich habe mich schon erkundigt. Mit so einer Ausbildung habe ich
viele Möglichkeiten. Heiraten und Kinder bekommen würde ich gern, eine
Zukunft ohne Familie kann ich mir nicht vorstellen. Ich bin jetzt nicht
direkt auf der Suche nach einer Frau, aber wenn es passiert, freue ich
mich. Einige Leute versuchen zu heiraten, um ihren Status zu sichern, aber
das ist nicht mein Plan, so was würde ich nicht machen.
Wenn Sie zurückblicken auf diesen Black Friday damals: Mit dem jetzigen
Wissen um die Folgen, würden Sie wieder in so eine Szene reingehen?
Nein. Wenn da ein Messer im Spiel ist, dann nicht. Dann hätte ich lieber
eine Faust abbekommen und wäre bewusstlos geworden, aber ein Messer ist
schlimm.
21 Aug 2022
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## AUTOREN
Esther Geißlinger
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