| # taz.de -- Ernährung im Krankenhaus: Es bleibt ein fader Beigeschmack | |
| > Eine ausgewogene Ernährung ist wichtig für die Gesundheit. Trotzdem | |
| > spielt die Ernährung in deutschen Krankenhäusern eine untergeordnete | |
| > Rolle. | |
| Bild: Beim Essen in Krankenhäusern geht es zumeist um die Kosten und nicht um … | |
| Graues Brot, abgepackter Aufschnitt, zerkochte Kartoffeln, pampige Beilagen | |
| aus der Großküche – so darf Krankenhausessen nicht aussehen, findet Marcus | |
| Scherer. „Leckeres und gesundes Essen und körperliches Wohlbefinden gehören | |
| für mich zusammen. Das gilt in besonderem Maße für kranke Menschen“, sagt | |
| der Küchenchef des Israelitischen Krankenhauses in Hamburg. | |
| Das Haus ist unter anderem spezialisiert auf Verdauungskrankheiten und gilt | |
| als Vorzeigestandort in der Ernährungsmedizin. Trotz dieses guten Rufes | |
| sorgte die Verpflichtung von Scherer als neuen Küchenchef vor acht Jahren | |
| für viel Aufsehen. Was will ein [1][bekannter Koch aus der | |
| Sternegastronomie] im Krankenhaus? | |
| Anders kochen, wäre wohl die beste Antwort, mit saisonalen, regionalen und | |
| zu 80 Prozent frischen Zutaten. Die Patienten können sich das Essen nach | |
| dem Baukastenprinzip zusammenstellen, je nach Appetit, tagesaktuell und | |
| digital. Es gibt drei Mittagsmenüs mit frei kombinierbaren Beilagen, | |
| Tagessuppen und Nachtisch. Auf Unverträglichkeiten wird genauso Rücksicht | |
| genommen wie auf den Wunsch nach veganem oder vegetarischem Essen. Für | |
| Patienten mit erhöhtem Kalorienbedarf oder wenig Appetit gibt es | |
| hochkalorische Milchshakes – nicht aus Pulver, sondern aus frischen | |
| Zutaten. Alles in Abstimmung mit Ernährungsmedizinern, versteht sich. | |
| ## Highlight des Tages | |
| „Die Patienten danken uns dieses Engagement. Oft hören wir, dass es bei uns | |
| wie im Restaurant schmeckt oder dass das Essen das Highlight des Tages | |
| gewesen sei. Das ist eine schöne Bestätigung“, sagt Scherer. Mindestens | |
| genauso spannend: Seine Küche sei nicht teurer als eine Großküche mit viel | |
| Tiefkühlkost, sagt der Koch. Gerade durch die digitalen Vorbestellungen | |
| lässt sich der Warenbedarf besser planen. Es wird weniger Essen | |
| weggeworfen. Große Bestellungen bei wenigen Lieferanten und regionale | |
| Produkte machen den Einkauf günstiger. | |
| Und für manche Patienten ist das gute Essen sogar ein Entscheidungsargument | |
| für eine Behandlung im Israelitischen Krankenhaus. Trotz Kostenneutralität | |
| und Standortfaktor im Kampf um Patienten hält sich das Interesse anderer | |
| Kliniken sehr in Grenzen – ein Leuchtturmprojekt statt Vorbild für die | |
| Fläche. | |
| Oder drastischer ausgedrückt: Gesunde Ernährung spielt in deutschen | |
| Krankenhäusern eine völlig untergeordnete Rolle. Laut einer Auswertung des | |
| Deutschen Krankenhausinstituts gaben Kliniken 2018 gerade einmal 5 Euro für | |
| Lebensmittel aus – pro Patient und Tag. Um die Kosten gering zu halten, | |
| setzen viele Häuser auf Tiefkühlkost und Lieferungen aus Großküchen. Dass | |
| dabei nicht nur Geschmack und Ästhetik leiden, sondern eben auch Qualität | |
| und [2][Nährstoffreichtum], dürfte auf der Hand liegen. Leidtragende sind | |
| im schlimmsten Fall die Patienten. | |
| „Krankenhäuser sind heute Wirtschaftsbetriebe mit hohem Kostendruck. | |
| Investitionen müssen sich lohnen“, sagt Jann Arndt, Onkologe und | |
| Ernährungsmediziner von Uniklinikum Freiburg. Mehrausgaben für frisch | |
| gekochtes Essen oder den Einsatz von zusätzlichen Ernährungsexperten seien | |
| eben durch die Abrechnung in Fallpauschalen nicht abgedeckt. Das | |
| kulinarische Wohlbefinden zählt anders als die Behandlung mit Medikamenten | |
| oder eine Operation eher zu einem weichen Faktor, genau wie eine | |
| psychologische Betreuung von Patienten. | |
| „Wir wissen zwar um eine positive Wirkung von ausgewogener Ernährung auf | |
| unsere Gesundheit und können Mangelernährung als Ursache für viele | |
| Krankheiten ausmachen. Studien, aus denen sich klare Leitlinien für | |
| Krankenhausernährung ableiten lassen, sind aber rar“, erklärt Arndt. | |
| So gibt es zwar Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung für | |
| das [3][Klinikessen] – zum Beispiel dreimal täglich Gemüse, zweimal täglich | |
| Obst und zweimal wöchentlich Fisch. Bindend sind diese Maßgaben allerdings | |
| nicht. Schätzungsweise richten sich nur etwa 5 Prozent aller Kliniken | |
| danach. | |
| Nicht besser sieht es mit der ernährungsmedizinischen Betreuung aus. Im | |
| Schnitt ist ein Diätassistent für rund 600 Patienten zuständig. Für eine | |
| ausgiebige Ernährungsberatung oder Begleitung beim Essen bleibt keine Zeit. | |
| Auch Ernährungsteams, die aus verschiedenen Fachleuten bestehen und von | |
| führenden Ernährungsmedizinern eigentlich für jede Klinik gefordert werden, | |
| gibt es nur in rund 5 Prozent der Häuser. Das mag kurzfristig | |
| Personalkosten sparen, ist aber eine Milchmädchenrechnung auf dem Rücken | |
| der schwächsten aller Patienten. | |
| Zu diesem Ergebnis kommt auch eine der wenigen Erhebungen, die gute | |
| Hinweise auf die Bedeutung von Krankenhausessen liefert. Bei der | |
| sogenannten Effort-Studie untersuchten Forschende aus der Schweiz rund | |
| 5.000 Patientinnen und Patienten im Krankenhaus. Bei 2.000 von ihnen fand | |
| man Anzeichen von Mangelernährung. Diese Gruppe wurde aufgeteilt, 1.000 | |
| Patienten bekamen das normale Krankenhausessen, 1.000 bekamen eine | |
| besondere Ernährung – mit mehr Kalorien und Eiweiß sowie zusätzlichen | |
| Vitaminen und Nährstoffen. Das Ergebnis: In der besser versorgten Gruppe | |
| gab es 15 Prozent weniger Komplikationen nach dem Klinikaufenthalt. Auch | |
| die Zahl der Todesfälle war geringer. | |
| „Einen sonst gesunden Menschen machen ein paar Tage mit mäßigem | |
| Krankenhausessen nicht automatisch kränker“, sagt Thomas Frieling, Chefarzt | |
| für Gastroenterologie am Helios Klinikum in Krefeld. Deutlich gefährlich | |
| sei es aber für mangelernährte Patienten, die zum Beispiel durch schwere | |
| Erkrankungen schon vor der Einlieferung an Gewicht verloren haben und denen | |
| wichtige Nährstoffe fehlen. Laut einer Schätzung der Deutschen | |
| Krankenhausgesellschaft (DKG) ist das bei etwa einem Viertel der Patienten | |
| der Fall. | |
| Das Problem: Mangelernährung erkennt man oft nicht auf den ersten Blick. | |
| Eine genaue Anamnese bei Einlieferung wäre nötig. Doch genau die findet | |
| eben nicht statt, vor allem weil es vielen Medizinern am nötigen Wissen | |
| fehlt. Im Medizinstudium kommt die Ernährungsmedizin kaum oder gar nicht | |
| vor. „Mangelernährung durch falsche Ernährung, fehlenden Appetit oder Folge | |
| von Krankheiten ist ein Problem, dass wir sicher nicht mit gutem Essen | |
| allein lösen. Vor allem der Einsatz von ernährungsmedizinischen Teams wäre | |
| hier wichtig“, erklärt Frieling. | |
| ## Mangelernährung erkennen | |
| Diese Fachleute können nicht nur eine Mangelernährung erkennen, sondern die | |
| Patienten auch während des Aufenthalts betreuen. Sie kümmern sich um eine | |
| entsprechende Zusammenstellung von nährstoffreichen Mahlzeiten und Shakes | |
| mit Zusatzkalorien. Sie schauen, ob die Patienten auch wirklich essen, | |
| beantworten Fragen und geben Tipps für eine ausgewogene Ernährung auch nach | |
| dem Klinikaufenthalt – alles, was eben nötig ist, um den Mangel nachhaltig | |
| zu bekämpfen. | |
| Doch auch dieses Engagement – man ahnt es schon – wird mit Fallpauschalen | |
| nicht honoriert, und das, obwohl die Folgen von nicht erkannter | |
| Mangelernährung hinlänglich bekannt. „Mangelernährte Patienten bleiben | |
| länger im Krankenhaus, es gibt mehr Komplikationen nach Operationen und | |
| auch ihr Sterberisiko ist erhöht“, sagt Frieling. | |
| Eine Studie der Unternehmensberatung Cepton schätzt die zusätzlichen | |
| Behandlungskosten für diese Komplikationen auf 9 Milliarden Euro pro Jahr – | |
| allein für deutsche Kliniken. Oder mit anderen Worten gesagt: Die | |
| Investition in mehr Ernährungsexperten und besseres Essen würde sich für | |
| das Gesundheitssystem mehr als auszahlen. | |
| Eigentlich müsste genau das doch ein Argument für die sonst so | |
| kostenbewusste Gesundheitspolitik sein. Doch Pustekuchen: Die | |
| Cepton-Schätzung stammt aus dem Jahre 2007 – in den seither vergangenen 15 | |
| Jahren hat sich bisher kaum etwas getan – sieht man von Studien, die die | |
| große Bedeutung von Ernährung für kranke Menschen unterstreichen, und | |
| dringlichen Appellen von Ernährungsmedizinern ab. | |
| 9 Sep 2022 | |
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| Birk Grüling | |
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