| # taz.de -- Verfassungsänderung in Chile: Es gibt noch Hoffnung | |
| > Den ersten Entwurf einer neuen Verfassung haben die Chilenen abgelehnt. | |
| > Aber die Abstimmung ist nur der Auftakt des verfassungsgebenden | |
| > Prozesses. | |
| Bild: Ein Wahlhelfer zeigt eine ablehnende Stimme bei der Volksabstimmung in Ch… | |
| Das Ergebnis der Volksabstimmung in Chile zur vorgeschlagenen neuen | |
| Verfassung hat alle überrascht. Selbst die Gegner des Textes hätten nie | |
| gedacht, [1][dass das Ergebnis so klar sein würde]: Zwei von drei Wählern | |
| stimmten gegen den Entwurf. | |
| So endete ein Prozess – [2][oder wenigstens dessen erste Phase] -, der im | |
| Oktober 2019 mit einer der wichtigsten sozialen Bewegungen in der | |
| Geschichte Chiles begann. Das Land möge demokratischere Strukturen | |
| erhalten, war der Wunsch, denen mehr Gleichheit und soziale Gerechtigkeit | |
| folgen sollten, um das neoliberale System zu beenden, das noch durch die | |
| Diktatur Augusto Pinochets geprägt war. | |
| Im Jahr 2020, ein Jahr nach den Protesten, stimmten fast 80 Prozent der | |
| chilenischen Wähler für eine Änderung der Verfassung, für die ein | |
| demokratisch gewählter Verfassungskonvent einen Entwurf erarbeiten sollte. | |
| Der Konvent setzte sich aus Repräsentanten unterschiedlicher | |
| gesellschaftlicher Gruppierungen zusammen, unter ihnen Feministinnen, | |
| Mitglieder der LGBTQ-Community, politisch Unabhängige und Indigene. | |
| Der vom Verfassungskonvent nach zwölfmonatiger Arbeit vorgeschlagene Text | |
| konnte die Mehrheit der Chilenen jedoch nicht überzeugen. Warum? Das ist | |
| eine Frage, die zu beantworten einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Man | |
| muss bedenken, dass der Vorschlag eine Reihe von einschneidenden | |
| strukturellen Veränderungen beinhaltete: Rechtsstaatlichkeit, die | |
| Entprivatisierung der Wasserversorgung, die Anerkennung der indigenen | |
| Völker, das Recht auf Abtreibung und die Gleichberechtigung von Männern und | |
| Frauen. | |
| ## Die Linke hat einige Fehler gemacht | |
| Doch es lassen sich bereits einige Faktoren erkennen, die das verheerende | |
| Ergebnis für die Unterstützer der Verfassungsänderung beeinflusst haben | |
| könnten. | |
| Zunächst einmal war das Plebiszit die erste Wahl seit zehn Jahren, für die | |
| eine Wahlpflicht galt. Und die Linke hat nicht verstanden, dass angesichts | |
| einer Pflicht, wählen zu gehen, die Wählerschaft für die Volksabstimmung | |
| nicht die gleiche sein würde wie jene, die vor einigen Monaten den linken, | |
| liberalen, grünen und feministischen Kandidaten Gabriel Boric ins | |
| Präsidentenamt gebracht hat. | |
| Zudem fällt es großen Teilen der Bevölkerung schwer, eine Verbindung zu | |
| sogenannten fortschrittlichen Themen aufzubauen, während ihr Land in einer | |
| Migrationskrise steckt, die Inflationsrate mehr als 13 Prozent erreicht und | |
| die Kriminalitätsrate hoch ist; Probleme, die seit Jahren keine Regierung | |
| in den Griff bekommen hat. Und das alles zusätzlich zu sich ständig | |
| verschärfenden internationalen Krisen. | |
| Elisa Loncón, Repräsentantin des Mapuche-Volkes und ehemalige Präsidentin | |
| des Verfassungskonvents, sagte, dass „die Niederlage auf individuellen und | |
| kollektiven Fehlern beruht“. Es gab Schuldzuweisungen an Andersdenkende, es | |
| fehlte an Debatten und manchmal trübte das Machtstreben einiger | |
| Konventsmitglieder das Verständnis für die anstehende Aufgabe. | |
| ## Die Rechten haben die Debatte untergraben | |
| Die rechten Parteien in Chile, die im Verfassungskonvent weniger als ein | |
| Drittel der Mitglieder stellten, erwiesen sich der Aufgabe ebenfalls nicht | |
| gewachsen. Im Gegenteil: Viele von ihnen, wenn nicht sogar die meisten, | |
| wollten schlicht den Prozess diskreditieren und die Debatte behindern. | |
| Schlimmer noch, sie produzierten Fake News, verbreiteten Lügen in den | |
| sozialen Medien und schürten Ängste. | |
| Chile war ein deutliches Beispiel dafür, wie gefährlich Fake News während | |
| politischer Kampagnen sein können, die ohne Rücksicht auf die Folgen für | |
| das Land in Umlauf gesetzt werden. In den vergangenen Monaten kursierten in | |
| Chile so viele von ihnen, dass die Befürworter des Verfassungsvorschlages | |
| nicht in der Lage waren, auf alle Falschinformationen zu reagieren und eine | |
| klare Botschaft im Hinblick auf ihre tatsächlichen Vorschläge zu | |
| vermitteln. | |
| Doch es ist nicht alles verloren. Die Chilenen lehnten den Vorschlag | |
| mehrheitlich ab, wollen aber eine neue Verfassung: Die Pinochet-Verfassung | |
| ist für sie inakzeptabel. Chile hat in den vergangenen Jahren einige | |
| Fortschritte gemacht. Das Land versteht, dass es sich modernisieren muss, | |
| um die künftigen Herausforderungen meistern zu können. | |
| Die Politiker haben jetzt die Aufgabe, den wirklichen Bedürfnissen und | |
| Forderungen der Chilenen gerecht zu werden. [3][Das hat auch Präsident | |
| Boric verstanden], der noch am Tag des Plebiszits sein politisches Kapital | |
| zur Verfügung stellte, um einen Dialog zwischen allen politischen Kräften | |
| in Gang zu setzen. Das Ziel ist, zu entscheiden, ob in den folgenden | |
| Jahren, entweder durch Reformen im Kongress oder durch erneute Wahlen zu | |
| einem neuen Verfassungskonvent, das Land vorangebracht werden soll. | |
| ## „Nicht diese Verfassung – eine andere“ | |
| Chile hat eine weitere Chance. Die Rechte hat in ihrer Kampagne | |
| versprochen, sich an einem neuen Verfassungsprozess zu beteiligen. Viele | |
| Unabhängige, die den ersten Vorschlag abgelehnt haben, fordern nun, dass | |
| so schnell wie möglich ein neues Verfahren eingeleitet wird. | |
| Rechte und Unabhängige haben sich bereits zu einer Reihe von Kompromissen | |
| bereit erklärt: Es soll einen Übergang zu einem sozialen und demokratischen | |
| Rechtsstaat geben und eine Frauenquote. Die indigenen Völker sollen durch | |
| einen multikulturellen Staat in der Verfassung anerkannt werden und die | |
| Grundrechte modernisiert werden, insbesondere Bürger- und Gesundheitsrechte | |
| sowie politische Rechte. Wasser soll Menschenrecht werden. | |
| „Nicht diese Verfassung – eine andere“, war am Sonntagabend zu hören. Es | |
| gibt noch Hoffnung in Chile, aber mehr auf die Menschen als auf die | |
| Politiker. Der vergangene Sonntag ist verloren, aber das Land hat eine | |
| Zukunft voller Veränderungen vor sich. Und allen ist klar, dass der | |
| verfassungsgebende Prozess noch lange nicht abgeschlossen ist. | |
| 10 Sep 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Nicolas Guzman | |
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