# taz.de -- Verfassungsreferendum in Chile: Aus alt mach alt | |
> Beim Volksentscheid in Chile blieb die Veränderung dem Altbekannten | |
> unterlegen. Der Prozess hat allerdings einen demokratischen Diskurs | |
> angeschoben. | |
Bild: Eine Gegnerin der Verfassungsreform in Chile feiert am 4. September in Sa… | |
Politik braucht Imagination, Vorstellungskraft, Veränderungswillen – sonst | |
gleitet sie ab in die Verwaltung des Status quo, was dann fast automatisch | |
dazu führt, dass sie Interessen vertritt und nicht Prinzipien. Und es ist | |
jetzt schon ein großer Erfolg des chilenischen Verfassungsprozesses, auch | |
wenn der so vielversprechende Neuentwurf gerade in einem Referendum | |
abgelehnt wurde, dass diese Imagination befreit wurde aus der Enge des | |
Denkens der vergangenen Jahre und Jahrzehnte. | |
Wir leben, das wird in diesen Tagen wieder klar, wo Liz Truss laut [1][New | |
Statesman] die rechteste britische Premierministerin mindestens seit | |
Margaret Thatcher sein wird, wir leben am Ende des neoliberalen Zeitalters. | |
Was nicht heißt, dass der Neoliberalismus am Ende ist; es heißt vor allem, | |
dass die Verfassung der Welt, so wie der Neoliberalismus sie geschaffen | |
hat, zu Verheerungen in den Menschen und in der Natur geführt hat, deren | |
Folgen immer deutlicher werden – das Ende der Welt scheint da leichter | |
vorstellbar als das Ende des Kapitalismus. | |
Und das Verwirrende dieser Situation ist, dass Dringlichkeit und | |
Notwendigkeit der Veränderung immer deutlicher werden, die Folgen des | |
Raubbaus der vergangenen Jahre und Jahrzehnte für Klima, Natur, | |
Gerechtigkeit – dass die Kraft und der Mut aber oft genau denen zu fehlen | |
scheint, die unter der Ungerechtigkeit des gegenwärtigen Regimes am meisten | |
leiden. Die Abstimmung in Chile hat gezeigt, woran das liegen könnte. | |
Sie hat auch gezeigt, dass es eine neue, andere, offene Linke gibt, die es | |
versteht, die verschiedenen Themen zusammenzuführen und neue politische | |
Lebensentwürfe zu entwickeln, umfassend und menschenfreundlich. Es war, wie | |
so oft, ein Kampf des Alten gegen das Neue. Der neue Verfassungsentwurf | |
markierte die Grenze zur Vergangenheit, eine Vergangenheit unterstützt | |
durch mächtige Interessen: | |
## Mediale Kampagne im In- und Ausland | |
Chiles derzeitige Verfassung ist ein Produkt der Diktatur von General | |
Pinochet, 1980 erdacht, um der Privatisierung und dem radikalen Staatsabbau | |
den Weg zu bereiten – das Land wurde zum neoliberalen Labor erklärt, | |
unterstützt von US-Ökonomen, die kein Problem damit hatten, Grundrechte wie | |
Bildung, Gesundheit, Zugang zu sauberem Trinkwasser zu kommerzialisieren. | |
Wie mächtig diese Strukturen der Vergangenheit sind und bleiben, zeigte | |
sich etwa in der medialen Kampagne gegen die neue Verfassung: In Chile | |
selbst, wo der politische Diskurs massiv verengt ist, aber auch in | |
internationalen Medien, die mit grenzüberschreitender Parteilichkeit – man | |
könnte es auch Aktivismus oder Lobbyismus nennen – das Alte gegenüber dem | |
Neuen favorisierten. | |
[2][The Economist] etwa, lange Leitmedium einer Umverteilung von unten nach | |
oben, brachte Schreckenstexte mit Krawallbildern. Und die [3][Washington | |
Post], im Besitz des Internet-Milliardärs Jeff Bezos, warnte davor, dass | |
Chile seine reichhaltige Lithiumproduktion durch die neue Verfassung | |
anders, womöglich gerechter oder weniger umweltschädlich, gestalten könnte; | |
Lithium treibt die Internet-Ökonomie an. | |
Während also die Kräfte der Vergangenheit und des Status quo mächtig und | |
gut organisiert waren, war auch der Kampf um die Zukunft nicht leicht, | |
bleibt nicht leicht – auch das ist eine Lektion dieses | |
Verfassungsprozesses, der schon deshalb inspirierend war, weil er eben über | |
lange Zeit ein gesellschaftliches Großgespräch ermöglichte, wie die Wunden | |
der Vergangenheit, koloniale Ausbeutung von Mensch und Natur, Unterdrückung | |
der indigenen Bevölkerung, Frauenfeindlichkeit, mit den Möglichkeiten und | |
Erfordernissen des 21. Jahrhunderts in Einklang gebracht werden könnten. | |
## Von Lateinamerika lernen | |
Der Verfassungsentwurf bleibt exemplarisch, weil er eine Ordnung nach dem | |
Nationalstaat entwirft, einen plurinationalen Staat, in dem die souveränen | |
Rechte der indigenen Bevölkerung anerkannt werden. Wobei der Gedanke eines | |
sehr viel weiter gefassten politischen Rahmens eben auch für | |
Nationalstaaten in Europa oder anderswo eine Inspiration sein sollte – der | |
demokratische Diskurs ist in vielen Ländern so veränderungsscheu | |
heruntergefahren, die politische Imagination des sogenannten Westens könnte | |
so viel von Chile, aber auch [4][Kolumbien] und anderen | |
lateinamerikanischen Ländern lernen, es ist ein Jammer, dass eine direktere | |
Kraftübertragung ausbleibt. | |
Denn dann würden vielleicht viele verstehen, was eine Verfassung im 21. | |
Jahrhundert sein kann – ein Dokument, das eine ethische Dimension hat, | |
umfassend und holistisch gedeutet, über die Rechtefrage hinaus. Der | |
Verfassungsentwurf in Chile etwa sah die Philosophie des „Buen Vivir“, des | |
guten Lebens als zentral an für die Menschen und ihre Ordnung, für das | |
Verhältnis zur Natur auch, mit der die Menschen in einem „harmonischen | |
Gleichgewicht“ leben sollten: Chile als ökologischer Staat war gleich in | |
Artikel 1 der abgelehnten Verfassung klar benannt. | |
Der chilenische Verfassungsentwurf ist damit über sein Scheitern hinaus | |
exemplarisch, als Lebensentwurf, wie ein gutes Leben im 21. Jahrhundert | |
gelingen kann, und als Gegenentwurf zur Schicksalsergebenheit in die | |
Unveränderbarkeit der Dinge. Er ist ein emphatischer Text, der davon | |
handelt, was Menschen gemeinsam bewegen können – und es ist die neue | |
Generation, zu der auch der chilenische Präsident Gabriel Boric gehört, | |
die, womöglich in radikalem Bruch mit der älteren Generation, diese neue | |
Zeit gestalten wird und muss. | |
Chiles Verfassungsprozess war damit nur ein Zwischenstadium, eine Phase im | |
globalen Kampf für eine andere, gerechtere Ordnung. Das US-Magazin Time, um | |
hier auch etwas Positives zu sagen, hat das erkannt und Boric aufs | |
Titelbild gebracht. „[5][Die neue Garde]“ ist die Zeile, Boric schaut ernst | |
und entschlossen, die Apple-Watch an einem Arm, ein großes Tattoo am | |
anderen Arm. Die neue Zeit hat längst begonnen. | |
7 Sep 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.newstatesman.com/politics/uk-politics/2022/08/andrew-marr-liz-t… | |
[2] https://www.economist.com/by-invitation/2022/09/02/chiles-draft-constitutio… | |
[3] https://www.washingtonpost.com/business/energy/minings-uncertain-future-ele… | |
[4] /Gustavo-Petro-folgt-auf-Ivan-Duque/!5868273 | |
[5] https://time.com/6209557/gabriel-boric-transcript/ | |
## AUTOREN | |
Georg Diez | |
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