# taz.de -- Ein Jahr Afghanistan unter den Taliban: Bunter als erlaubt | |
> Checkpoints, ausgebrannte Autos und Frauen auf der Straße, die nicht voll | |
> verschleiert sind: Ein Roadtrip durch das „Islamische Emirat“ | |
> Afghanistan. | |
Bild: Immer wieder Fahrzeugwracks am Straßenrand. Spuren des Krieges | |
Die Fahrt beginnt am frühen Morgen. Um viertel vor fünf sind die Straßen in | |
Kabul deutlich weniger belebt als tagsüber, doch auch um diese Uhrzeit sind | |
schon Autos unterwegs. Fußgänger sind kaum zu sehen. An den Checkpoints | |
schauen sie mit gründlichen Blicken in die Autos – auch auf die Rückbänke … | |
und winken die meisten Fahrzeuge dann durch. Vor uns wird ein Taxi | |
angehalten, die Fahrgäste werden durchsucht. Wir müssen einen Moment warten | |
und werden kommentarlos durchgewinkt. Die Luft, die durchs Fenster | |
hereinströmt, ist noch angenehm kühl. | |
Kurz hinter Kabul wird mein Begleiter für einen Moment redselig. Die | |
Straße, die hier mit einer Brücke beginnt und unter anderem nach Kandahar | |
und Helmand führt, war in den vergangenen Jahren so umkämpft, dass die | |
meisten Menschen sie gemieden haben. Durchs Land gereist wurde, wenn man es | |
sich leisten konnte, bevorzugt per Flugzeug. Nur das letzte Stück ging dann | |
per Auto. Zu Hause, also da, wo seine Familie ursprünglich herkommt, war | |
mein Begleiter zuletzt vor zwei Jahren. Aber auf der Strecke, die wir nun | |
fahren, war er zuletzt 2006 unterwegs, da war er noch ein Teenager. Er | |
rechnet das mit der Brücke und mit der Straße noch mal nach: Genau 16 Jahre | |
ist es her. „And then things got ugly“, sagt er; dann wurden die Dinge | |
hässlich. | |
Es ist Mitte Juli, [1][fast ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban am | |
15. August 2021.] Es ist meine dritte Reise nach Afghanistan, vor einem | |
Jahr war ich das letzte Mal hier, ich wollte endlich mehr vom Land sehen. | |
Mein Begleiter plante seine Rückkehr ins Land zufällig in einem ähnlichen | |
Zeitraum. Wir beschlossen, gemeinsam zu reisen, mit dem Auto, einem roten | |
Toyota Corolla Erstzulassung 1995, bis in die Nähe der iranischen Grenze, | |
nach Herat. Dort wohnt die Familie einer Freundin. | |
Es ist eine Reise, bei der nicht das Ziel der wichtigste Teil ist. Ich will | |
unterwegs sein im Land. Schauen, ob es nun wirklich Reisefreiheit gibt. | |
Nachspüren, was sich verändert hat seit der Machtübernahme der Taliban. Und | |
was nicht. Es ist ein Roadtrip durch ein Land, das sich selbst in die | |
Vergangenheit katapultiert hat. | |
## Kritik ist „unislamisch“ | |
Ich habe mir für diese Reise nach Afghanistan eine offizielle | |
Presseakkreditierung besorgt. Die Regeln für ausländische JournalistInnen | |
wurden inzwischen verschärft. Selbst TouristInnen, die mit Kamera durchs | |
Land reisen, brauchen eine Genehmigung. Trotzdem reise ich nun inkognito. | |
Es war zum einen der Wunsch meines Begleiters, der zu einem Familienclan | |
gehört, in dem ranghohe Taliban vertreten sind. Um ihn und seine Familie zu | |
schützen, nenne ich ihn auch nicht namentlich. | |
Zum anderen musste ich für die Akkreditierung ein Gespräch mit | |
Talibansprecher Abdul Qahar Balkhi führen, der mir in perfektem Englisch | |
deutlich machte, dass kritische Berichterstattung unerwünscht sein würde. | |
Gestenreich und mit einem dauerhaften Lächeln im Gesicht erklärte er mir, | |
dass Pressefreiheit großgeschrieben werde, ich mich aber in jeder Provinz | |
bei der Polizei oder dem Ministerium für Information und Kultur | |
registrieren müsse. Das war der Part auf Englisch. Meinem Übersetzer | |
erklärte er hingegen auf Paschtu: Er möge verhindern, dass ich etwas gegen | |
das „Islamische Emirat“ schreibe. | |
Denn Kritik an der Regierung sehen die Taliban als „unislamisch“ an, [2][so | |
hat es Regierungssprecher Sabiullah Mudschahid im Juli getwittert]. Also | |
sei Kritik untersagt. Die australische Journalistin Lynne O’Donnell bekam | |
das bereits zu spüren. Sie berichtete, dass sie von den Taliban verhaftet | |
worden sei. Man habe sie dazu gezwungen, ihre eigenen Berichte als | |
Falschmeldungen zu bezeichnen. Die [3][UN haben zuletzt in einem Bericht | |
Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban-Regierung] festgehalten. | |
Je weiter wir aus der Hauptstadt fahren, desto surrealer wird die Umgebung. | |
Lange noch begleitet uns der Mond, obwohl die Sonne schon aufging, als wir | |
losgefahren sind. | |
Der Straßenbelag ist an vielen Stellen sichtlich neu; dennoch ist kein | |
zügiges Fahren möglich. Die Straße wurde abschnittweise asphaltiert, | |
dazwischen gibt es immer wieder – oft überraschend – Abschnitte ohne festen | |
Belag oder voller Schlaglöcher. Es fehlen Straßenschilder. Aber verfahren | |
kann man sich hier kaum; es gibt auf den ersten 200 Kilometern keinerlei | |
Alternativen, auch später folgen nur vereinzelt Abzweigungen. | |
Kurz nach zehn liegt am Straßenrand das erste ausgebrannte Fahrzeug. Es | |
sind die ersten eindeutigen Kriegsspuren, die auf dieser Strecke zu sehen | |
sind; die ersten eindeutigen Kriegsspuren, die ich bei dieser Reise | |
überhaupt wahrnehme. Bisher habe ich lediglich Schießereien gehört und eine | |
aus der Nähe miterlebt, aber keinerlei typische Kriegsspuren gesehen, wie | |
ich sie aus Syrien, dem kurdischen Teil der Türkei oder Bosnien kenne. | |
Zerstörte Häuser werden wir später noch zu Gesicht bekommen.Nun also die | |
ausgebrannten Fahrzeuge, mehrere in kurzen Abständen. Dahinter: Berge im | |
Dunst, Schafherden, Frauen in bunten Kleidern. | |
Die BewohnerInnen des Landes scheinen hier wenig davon zu halten, die | |
Bekleidungsregeln der De-facto-Regierung umzusetzen. Frauen in Schwarz oder | |
Dunkelblau sieht man hier draußen nicht. Sie leben bunter, als die Taliban | |
erlauben. | |
Nur vereinzelt trägt eine Bettlerin in der Straßenmitte oder am Straßenrand | |
Burka; das war allerdings schon vor der Machtübernahme ihre übliche | |
Kleidung, bietet Schutz vor Staub und Hitze. Die Luft ist inzwischen fast | |
unangenehm warm geworden; es scheint, als sei der Morgen bereits vorbei und | |
der Nachmittag angebrochen. Da es eine solche irritierende Lichtstimmung | |
hier häufiger gibt, gibt es auf Paschtu dafür sogar einen Begriff dafür: | |
gelber Morgen. | |
Um kurz nach elf streikt der Motor zum ersten Mal, mitten auf der Fahrt | |
geht er einfach aus. Es folgt ein zweites Mal. Beide Male lässt sich das | |
Auto allerdings wieder starten und fährt zunächst weiter. Um halb zwei | |
springt das Auto nach dem Tanken nicht mehr an. Der Tankwart schaut in den | |
Tank, klopft an einige Stellen. Das Problem bleibt. | |
Mehrere Männer versuchen zu helfen, drei Autos geben Starthilfe; erfolglos. | |
Ich soll im Auto sitzen bleiben, bis eine Lösung gefunden ist. Das Auto | |
steht in der Sonne, durch den Fensterspalt kommt nur wenig Wind, durch | |
meinen Gesichtsschleier noch weniger. Ich mache die Tür auf, mein Begleiter | |
bittet mich, das sein zu lassen. Schweigend sitze ich auf der Rückbank und | |
frage mich, was ich mir da eingebrockt habe. | |
## Hier gelten andere Regeln | |
Gleichzeitig ist es eine enorm spannende Erfahrung, nicht die Ausländerin | |
zu sein, die entweder enorm angegeifert oder der sofort der rote Teppich | |
ausgerollt wird und die so oder so viel mehr darf als jede Afghanin. Ich | |
erlebe, wie ich vergessen werde, während die Männer draußen sitzen und | |
reden, sich Hände und Gesicht mit Wasser kühlen. Schließlich hilft ein | |
Taxi, zieht das Auto knapp 60 Kilometer bis nach Kandahar. Im Kofferraum | |
drei Männer, die die gesamte Fahrt nach hinten schauen. Ich kann daher | |
meinen Gesichtsschleier nicht abnehmen und traue mich auch nicht, die | |
Holperfahrt zu filmen oder zu fotografieren. | |
Um kurz nach halb fünf ist da auf einmal ein Schild: Welcome to Kandahar | |
City. Aber da ist nichts. Nur ein paar vereinzelte Industriegebäude und | |
dann wieder Weite. Und in einiger Entfernung: die Berge. | |
Wo Ortsschilder weitgehend fehlen, helfen andere Orientierungspunkte. Wann | |
immer eine Stadt oder eine Provinzgrenze naht, gibt es Checkpoints. Die | |
sind hier anders als in Kabul. Dort reicht das Gesicht einer ausländischen | |
Frau, um weitergewinkt zu werden. Hier draußen gelten andere Regeln. Gerade | |
ein auffälliges Äußeres führt dazu, angehalten und befragt zu werden. Die | |
neue Routine lautet daher: „Bedeck dich. Verhalte dich normal.“ Das heißt | |
in diesem Fall, die Stereotype einer Frau zu bedienen; abgewandt, | |
eingekauert. Es folgen keine weiteren Personenkontrollen – das Schauspiel | |
gelingt. | |
Nach einem langen abendlichen Werkstattbesuch in Kandahar geht es weiter | |
nach Helmand. Auf der Weiterfahrt beobachten wir draußen die Menschen. Es | |
sieht erstaunlich normal aus; wir sehen rasierte Männergesichter und | |
unverhüllte Frauengesichter. Mein Begleiter sagt: „Ich dachte, ich würde | |
hier nur Männer mit Bart sehen, aber es hat sich nichts verändert.“ | |
Bei einem Halt kommen wir mit einer jungen Frau ins Gespräch. Sie erzählt, | |
dass sich zunächst tatsächlich mehr Frauen komplett verschleiert hätten, | |
aber – gerade auf den Dörfern – relativ schnell wieder eine gewisse | |
Normalität eingekehrt sei, was die Bekleidung anging. Die übrigen Regeln – | |
wie etwa weite Fahrten von Frauen nur in männlicher Begleitung, kein | |
Schulbesuch für Mädchen nach der sechsten Klasse – gelten weiterhin. | |
Inzwischen haben wir eine Routine entwickelt: langsam fahren, Musik leise | |
drehen, Gesichtsschleier über die Nase ziehen und ab Dämmerungsbeginn macht | |
mein Begleiter außerdem das Licht hinten im Fahrzeug an. Seine Hand neben | |
dem Schalter reicht als Signal für mich aus, dass ich mich verhüllen und | |
abwenden sollte. Ganz weg ist die Anspannung dennoch nie, auch wenn wir | |
Checkpoint um Checkpoint unbehelligt passieren können. | |
## „Wir werden sonst nicht mitgenommen“ | |
Richtung Helmand wird es nochmals wärmer, obwohl die Sonne bereits | |
untergegangen ist. Im Scheinwerferlicht taucht ein zerstörtes | |
Brückengeländer auf. Hier hat eindeutig Krieg geherrscht. „Es ist so viel | |
zerstört in meinem Helmand“, sagt mein Begleiter. Dass er aus einer | |
Talibanhochburg stammt, wusste ich vorher bereits. Dennoch wird mir kurz | |
mulmig, als wir dann tatsächlich die Provinz erreicht haben, die er – mal | |
mehr und mal weniger scherzhaft – gern „Hell“ statt „Helmand“ nennt. … | |
Unser Zwischenziel ist die Provinzhauptstadt Laschkar Gah, aus der mein | |
Begleiter ursprünglich kommt. Hier übernachten wir. Und dann verbringen wir | |
einen Tag damit, „bald“ loszufahren. Das Auto hat insgesamt fünf | |
Werkstattbesuche nur an diesem einen Tag nötig; der Motor stirbt viermal | |
auf dem kurzen Weg zwischen Werkstatt und Unterkunft. Helmand bleibt beim | |
ersten Besuch eine vage Idee. Ich verbringe die Zeit in einem Zimmer mit | |
fünf bis neun Kindern, die mich anstarren oder versuchen, mit mir zu reden. | |
Immer wieder fällt der Strom aus und damit die Klimaanlage. Es ist | |
unerträglich warm, auch wenn man sich kaum bewegt. | |
Kurz vor sechs in der Frühe geht die Fahrt weiter. An der Straßenkreuzung | |
bereitet sich der diensthabende Taliban auf seine Schicht vor, stellt | |
seinen Stuhl auf, auf dem er den ganzen Tag über Wache halten wird, | |
korrigiert den Sitz seiner Waffe. Die ersten Passanten an diesem Tag | |
ignoriert er. | |
Nach einigen Hundert Metern Idyll – Felder in frischem Grün und kleine | |
Lehmhütten – folgt dann ein Abschnitt der Stadt, der komplett zerstört ist, | |
offenbar durch eine Fliegerbombe. Zum zweiten Mal nach 2006. | |
Am späten Vormittag wird die Luft warm, mittags beginnt sie zu flimmern. | |
Der Fahrtwind fühlt sich an wie ein Föhn, der etwas zu heiß eingestellt | |
wurde. Knapp 50 Grad. Am Horizont spiegeln sich Lkw in der heißen Luft, | |
manchmal auch der Himmel. Dann sieht es ganz so aus, als fehle die | |
Fortsetzung der Straße einfach, als verschwinde der weitere Weg im Nichts. | |
Immer wieder liegen Fahrzeuge am Wegesrand oder werden angeschoben. Auch | |
unser Auto braucht immer wieder eine Pause, muss mit Wasser gekühlt werden. | |
Nach drei weiteren Werkstattstopps erreichen wir Herat. Hier sehen die | |
Frauen anders aus. Sie verhüllen sich hier nicht mit dem schwarzen | |
Hidschab, wie ihn in Kabul einige tragen und dann mit bunten Akzenten | |
auflockern, sie tragen auch keine bunten zweiteiligen traditionellen | |
Gewänder wie in Helmand. Vielmehr hüllen sich die meisten hier in einen | |
Tschador, ein großes Tuch, das nur ihr Gesicht freilässt. Die meisten | |
dieser Tücher sind dunkel; schwarz oder braun gehalten. Vereinzelt tragen | |
Frauen auch farbige oder funkelnde Stoffe. Vor Polizeikontrollen ziehen sie | |
diese weiter hoch, sodass nur ihre Augen freibleiben, und auch in Rikschas | |
und Taxis schauen nur Augenpaare von der Rückbank. „Wir werden sonst nicht | |
mitgenommen“, erklärt eine junge Frau. | |
Die Haushälterin des Hauses, in dem wir unterkommen, sucht mehrfach das | |
Gespräch. Ich versuche ihr klarzumachen, dass ich ihre Sprache nicht | |
spreche. Sie redet weiter; auch morgens, auch wenn wir alleine sind. Sie | |
zeigt mir ihre geschwollenen Knöchel und Füße und Knie. Sie hat Schmerzen, | |
so viel ist klar. Ihre Arbeit verrichtet sie dennoch – am Boden kniend. Da | |
bügelt sie, serviert Essen, faltet frisch gewaschene Wäsche. Später am | |
Abend erzählt sie ihre Geschichte, eine Bekannte übersetzt spontan. | |
Es ist ein kurzes Gespräch vor dem Abendessen, das direkt mitten in der | |
Geschichte beginnt. Khala, so heißt sie, ist eine Drittfrau gewesen. Mit 13 | |
Jahren, erzählt sie, sei sie verheiratet worden, natürlich nicht | |
freiwillig. Aber es sei nötig gewesen, damit sie versorgt ist. Heute lebt | |
sie mit ihren beiden Töchtern zusammen, unterstützt diese mit dem Geld, das | |
sie durch Putzen und Kochen erwirtschaften kann. Insgesamt hat sie 15 | |
Kinder geboren. Manche davon sind früh gestorben, im Alter von zwei oder | |
drei Jahren, sie zählt kurz auf, bricht dann ab. Mühsam richtet sie sich | |
nach dem Gespräch auf. Ich muss an ihre geschwollenen Füße denken. | |
Es geht dieselbe Strecke, die wir gekommen sind, zurück Richtung Kabul. Aus | |
Herat nehmen wir spontan Mitfahrerinnen mit; die Schwester und eine weitere | |
Verwandte meines Begleiters. Letztere setzen wir mitten in der Wüste ab. | |
Hinter einem Tor öffnet sich eine kleine grüne Oase. Hier wachsen – | |
künstlich bewässert – Granatapfelbäume, ein ganzer Hain davon. Riesige | |
Libellen fliegen durch die Luft. | |
## Geschlechtertrennung im Park einhalten | |
In Helmand breche ich dieses Mal auf eigene Faust zum Sightseeing auf, | |
während das Auto wieder mal in der Werkstatt ist. Bekannte aus Kabul nehmen | |
mich mit, sie zeigen mir das Qalai-i-Bost, die Burg der Stadt. Sie ist | |
unterirdisch in einen Hügel gebaut, die oberirdischen Strukturen sind bis | |
auf ein historisches Tor, das durch die Stützkonstruktion im Inneren | |
eigentlich gar keines mehr ist, nicht mehr erhalten. Zu viele Kriege haben | |
hier alles zerstört. Dafür kommt man in die Tiefe der Festung; so weit, wie | |
man sich eben hineinwagt. Absperrungen oder Sicherheitsvorkehrungen gibt es | |
nicht. Im zweiten Untergeschoss schwirren auf einmal Fledermäuse um uns | |
herum, sandsteinblass an ihre Umgebung angepasst. Viele weitere hängen an | |
den Decken der einzelnen kleinen Räume. | |
Wenn man durch Helmand fährt, bekommt man unweigerlich zu sehen, was sich | |
unter der Herrschaft der Taliban verändert hat. Am Kino hängen draußen | |
jetzt die großen schwarzweißen Banner des „Islamischen Emirats“. Was sich | |
dort befindet? „Irgendwas von denen“, bekomme ich nur als Antwort. Nicht | |
weit weg befindet sich eine schöne große Parkanlage; früher der Treffpunkt | |
von Familien im Ort. Heute ist die Grünanlage nur mehr für die Taliban | |
selbst zugänglich. Die übrigen Parks sind sechs Tage die Woche für Männer | |
geöffnet, nur mittwochs ist Frauentag. Allerdings, so erklären meine | |
Begleiter, wagten sich Frauen sowieso kaum mehr nach draußen. | |
Tatsächlich sehen wir auf der gesamten dreistündigen Fahrt nur eine einzige | |
Frau draußen; sonst nur ein paar Mädchen im Grundschulalter und deutlich | |
mehr Jungen und Männer. | |
An das Bild habe ich mich inzwischen fast gewöhnt: Auch in Kabul waren | |
Frauen viel seltener auf der Straße zu sehen. Viele Frauen dort berichteten | |
mir, dass sie das Haus kaum noch verlassen. Zu groß sei die Sorge, für | |
irgendetwas bestraft oder ausgeschimpft zu werden; die Regeln seien | |
unübersichtlich. Mal werde man für dieselbe Kleidung bestraft, die am Vor- | |
und auch Folgetag keine Probleme bereite. | |
Der Terror besteht aus Willkür. | |
Es ist nach wie vor unklar, wie das Hidschabgesetz genau auszulegen ist. | |
Gesicht zeigen ist eigentlich nicht verboten. Da jedoch mit Bildern | |
kommuniziert wird und diese die Komplettverhüllung zeigen, die nur die | |
Augen freilässt, ist die praktische Auslegung häufig eine andere. | |
Während ich in Kabul war, wurde in einem der größten und schönsten Parks | |
der Stadt – Bagh-i-Babur – ein Sichtschutz aufgespannt. Auch Ehepaare | |
sollten hier die Geschlechtertrennung einhalten. Bei Betreten des Parks | |
hieß es für alle Frauen nach rechts und für alle Männer nach links. | |
Insofern ist es wenig verwunderlich, dass sich in Helmand, einer Provinz, | |
die für ihre hohe Talibanpräsenz schon früher bekannt war, die | |
Geschlechtertrennung noch stärker auswirkt. Vollverschleiert bei über 45 | |
Grad kann ich Männern beim Baden im Fluss lediglich neidisch zuschauen. Zum | |
Trost lassen mich meine Begleiter an einem Bach kurz die Füße kühlen. | |
Nach der Sightseeingtour durch Helmand treten wir die Rückreise nach Kabul | |
an. Das Auto hält überraschend durch; vermutlich auch wegen der niedrigeren | |
Temperaturen. Wir haben zum ersten Mal tagsüber kühlen Wind, genießen ihn | |
bei offenen Fenstern. Als wir Kandahar verlassen, beginnt es zu regnen. | |
Erst freuen wir uns darüber. Aber es regnet zu viel, die Straße ist | |
überschwemmt. Es sind noch anderthalb Stunden bis Kabul. Sollen wir | |
weiterfahren oder nicht? Wir entscheiden uns dafür, mit Bauchschmerzen, | |
aber es gibt nur diesen einen Weg. Wenige Stunden danach, das werden wir | |
tags darauf aus den Nachrichten erfahren, wird die Straße vollends | |
unterspült sein und wegbrechen. | |
8 Aug 2022 | |
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[3] http://(https://unama.unmissions.org/un-releases-report-human-rights-afghan… | |
## AUTOREN | |
Lena Reiner | |
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