| # taz.de -- Ein Jahr Afghanistan unter den Taliban: Ideologie statt Pragmatismus | |
| > Afghanistan ist international isoliert und wirtschaftlich am Boden. Die | |
| > herrschenden Taliban ignorieren die Probleme und unterdrücken Proteste – | |
| > noch. | |
| Bild: Gesichter Kabuls: Eine verschleierte Frau und ein Talibankämpfer auf ein… | |
| Sie habe schon immer Burka getragen, wenn sie dienstlich über Land fuhr, | |
| erzählt Chatera* am Telefon. „Das war meine eigene Entscheidung. Ich kann | |
| schwer ertragen, dass mir das jetzt aufgezwungen wird“, sagt sie, und meint | |
| damit die Anordnung der Talibanregierung vom Mai, laut der alle | |
| afghanischen Frauen in der Öffentlichkeit ab sofort [1][Körper und Gesicht | |
| verhüllen müssen]. | |
| Für Paschtana*, die in Kabul für eine NGO arbeitet, ändert sich wenig: | |
| „Unsere Eltern waren schon vor den Taliban Muslime, haben darauf geachtet, | |
| was ihre Töchter tragen und dass Frauen sich verschleiern.“ Saleha*, | |
| Lehrerin in Balch, sagt, viele Frauen unterwürfen sich dem Schleierdiktat, | |
| weil sie den Taliban „keinen Vorwand liefern wollen, [2][die Schulen zu | |
| schließen]“. Balch gehört zu den 9 Provinzen – von insgesamt 34 –, in d… | |
| weiterführende Mädchenschulen weiterhin offen sind. | |
| „Die Mädchen in meiner Heimatstadt Bamian kümmern sich nicht darum, was die | |
| Taliban denken“, sagt wiederum Schah Gul*. Dann relativiert die | |
| frischgebackene Uni-Absolventin jedoch: Weil die neuen Herrscher | |
| angekündigt haben, sie würden ihre Väter oder Brüder für die Verletzung der | |
| Vorschrift zur Verantwortung ziehen, befolgten „viele Mädchen“ sie doch, um | |
| ihre Familien zu schützen. | |
| ## Keine Frauenproteste seit März | |
| Diese Variante von Sippenhaft gehört zu dem Instrumentarium, mit dem die | |
| Taliban nach dem schmählichen Abzug des Westens und ihrer Machtübernahme im | |
| August 2021 ihre Vorstellung einer islamischen Ordnung umsetzen wollen. | |
| Dabei wollen sie sich vom Westen nicht hineinreden lassen. Und auch im | |
| Innern erklärten sie jegliche friedliche Opposition, die sich „außerhalb | |
| der Scharia“ bewegt, zur „Rebellion“: Seit März gibt es keine öffentlic… | |
| Proteste von Frauen mehr, die nach der Machtübernahme der Taliban immer | |
| wieder in kleinen Gruppen unter Slogans wie „Brot, Arbeit, Freiheit“ auf | |
| die Straße gegangen waren und damit die politische Hegemonie der Taliban | |
| herausfordert hatten. | |
| Vorerst ziehen sie sich in Privaträume und die sozialen Medien zurück. Eine | |
| junge Kabulerin, Teil der Protestbewegung, sagte der taz, sie nutze den | |
| Schleier, „damit ich von den Taliban nicht erkannt und verhaftet werde“. | |
| Zusätzlich verspielten die Taliban die Chance, die Mitarbeiter der alten | |
| Regierung für sich zu gewinnen und somit ein halbwegs reibungsloses | |
| Weiterfunktionieren des Staatsapparats sicherzustellen. Trotz eines | |
| Amnestieversprechens kommt es immer wieder zu Festnahmen, sogar Morden, von | |
| denen niemand mit Gewissheit sagen kann, ob da alte Rechnungen aus einem | |
| Krieg beglichen werden, den alle Seiten extrem brutal führten – oder ob | |
| das die Politik der Talibanführung ist, um möglichen Dissens zu | |
| unterdrücken. | |
| Damit haben sich die Taliban in ein doppeltes Dilemma manövriert, das ihr | |
| Regime in eine Legitimationskrise stürzen könnte. Zum einen haben ihre | |
| Unterdrückungsmaßnahmen, wie bereits während ihrer ersten Herrschaft von | |
| 1996 bis 2001, in die internationale Isolation geführt. Und die bedingt | |
| einen Zusammenbruch großer Bereiche der Wirtschaft. | |
| Denn der Westen versagt dem Talibanregime die politische Anerkennung. Die | |
| sogenannten Geberstaaten verhängten Sanktionen und froren afghanische | |
| Guthaben im Ausland ein. Dadurch bleiben Entwicklungszahlungen aus, die | |
| unter der alten Regierung drei Viertel der Staatsausgaben deckten. In | |
| bisher regierungsgeführten Bereichen wie dem Gesundheits- und Bildungswesen | |
| sowie bei NGOs fielen seitdem massenhaft Jobs weg. Zudem drängten die | |
| Taliban beziehungsweise die Angst vor ihnen viele Frauen aus der | |
| Lohnarbeit. Das alles führte in eine wirtschaftliche und humanitäre Krise. | |
| ## Die Armutsquote liegt bei über 90 Prozent | |
| Laut UNO verzeichneten seit August 2021 acht von zehn Haushalten einen | |
| „drastischen“ Einkommensrückgang. Die Armutsquote liegt über 90 Prozent u… | |
| die Hälfte der Bevölkerung ist weiter am Rande des Hungers. Das seien „mehr | |
| Menschen als in jedem anderen Land der Welt“, [3][so Martin Griffiths], | |
| UN-Koordinator für Humanitäres, im Juni vor dem Weltsicherheitsrat. Er | |
| befürchtet ein ähnliches Szenario zum Jahresende: „Die meisten ländlichen | |
| Haushalte werden ihre Nahrungsmittelreserven in diesem Jahr gefährlich früh | |
| aufgebraucht haben – wegen der schlimmsten Dürre seit 30 Jahren.“ | |
| Da der Westen diese humanitäre Krise nicht ignorieren kann, hat sich | |
| unterhalb der Schwelle der diplomatischen Anerkennung eine pragmatische | |
| Kooperation zwischen den „De-facto-Autoritäten“, wie der Westen die Taliban | |
| nennt, und Hilfswerken herausgebildet. Die USA gaben Gelder wieder frei, | |
| die über die UNO an ein NGO-Konsortium in Afghanistan – und damit an den | |
| Talibanbehörden vorbei – geleitet werden. Das gab es bereits vorher bei der | |
| Bekämpfung von Covid-19, bei der Polio-Immunisierung und es griff auch bei | |
| der Überwindung der Folgen [4][der Erdbebenkatastrophe im Juni 2022] in | |
| Südostafghanistan. | |
| Normalisieren die Taliban ihr Verhältnis zum Westen nicht wenigstens | |
| teilweise, könnte das zusammen mit der sich verschärfenden zyklischen Dürre | |
| zu einer Dauerkrise führen. Finden sie mittelfristig keine Lösungen für die | |
| Wirtschaftskrise, könnten sich auch jene Teile der Bevölkerung gegen sie | |
| wenden, die ihnen bisher zugutehalten, dass sie den Krieg durch den | |
| erzwungenen Truppenabzug des Westens beendet haben, oder die aus Angst | |
| jetzt noch stillhalten oder sich anpassen. | |
| Letzteres ist nicht neu. Millionen Menschen leben bereits seit Jahren in | |
| Gebieten unter Talibankontrolle und hatten gar keine andere Wahl. „Es gibt | |
| keinen offenen Protest gegen die Taliban“, [5][berichtete der Analyst Sahil | |
| Afghan Ende 2020], „aber nicht, weil es nichts zu beschweren gibt, sondern | |
| weil die Leute es für zu gefährlich halten.“ | |
| Sollten die Taliban dem Wunsch nach mehr Offenheit nachgeben, könnte das zu | |
| Brüchen im eigenen Lager führen. Immerhin hatte ihr Führer Hebatullah | |
| Achundsada angekündigt, dass es bei der Umsetzung der Scharia „keine | |
| Kompromisse“ geben werde. Fraglich ist, wie viele Mitglieder selbst der | |
| inneren Talibanführung diesen Kurs mittragen. Sogar unter ihnen wird immer | |
| wieder die Forderung nach Wiedereröffnung aller Mädchenschulen laut. | |
| Gleichzeitig aber folgen sie bisher weiter der Parteilinie, die Einheit der | |
| Talibanbewegung nicht zu kompromittieren. | |
| ## Kleine wirtschaftspolitische Erfolge | |
| Während die Taliban vor 2001 die Versorgung der Bevölkerung weitestgehend | |
| den UN und NGOs überließen, sind heute immerhin Ansätze einer | |
| Wirtschaftspolitik erkennbar. Ihre Minister verhandeln mit Vertretern | |
| Washingtons und der Weltbank über die Freigabe der eingefrorenen | |
| afghanischen Staatsguthaben. Mit dem deutlich gesteigerten Kohleexport nach | |
| Pakistan, das die weltweite Brennstoffkrise hart traf, ist ihnen ein | |
| kleiner Coup gelungen. Allerdings stagniert der Handel mit den anderen | |
| Nachbarn wie Iran und Zentralasien. | |
| Dafür bekämpfen die Taliban im eigenen Land die Korruption wirksamer als | |
| die alte, westlich gestützte Regierung und erhöhten so die Staatseinnahmen | |
| aus Steuern und Handel, seit das Kriegsende wieder mehr | |
| Wirtschaftstätigkeit erlaubt. Und sie lassen dem aktiven Privatsektor | |
| freien Raum, der neben der agrarischen Subsistenzwirtschaft in allen | |
| kriegsbedingten Krisen der letzten 40 Jahre das Überleben der Bevölkerung | |
| sicherte. Dort dürfen Frauen weiterhin arbeiten. | |
| Denn auch der Ausschluss der Frauen aus der Arbeitssphäre ist keineswegs | |
| total. [6][Laut Internationaler Arbeitsorganisation] (ILO) ging die Zahl | |
| der arbeitenden Frauen seit dem vorigen August zwar um 21 Prozent zurück – | |
| doch hätten damit noch immer vier von fünf der früher arbeitenden Frauen | |
| weiter ein Einkommen. Dem Privatsektor lassen die Taliban offenbar freie | |
| Hand, solange Frauen nicht mit Männern im selben Raum arbeiten. Die meisten | |
| Frauen sind laut ILO im Textilgewerbe beschäftigt. Viele arbeiten auch bei | |
| Privatbanken. | |
| Den Taliban zufolge arbeiten sogar die meisten der zuvor bei | |
| Regierungsstellen beschäftigten 120.000 Frauen wieder. Westliche | |
| Journalist:innen bestätigen dies für technische Abteilungen etwa des | |
| Finanzministeriums. Allerdings ist unklar, ob die Taliban auch jene Frauen | |
| zählen, die sich nur einmal pro Woche an ihrem Arbeitsplatz zum | |
| Einschreiben melden müssen, um weiterhin ihr Gehalt zu bekommen, wie | |
| Schugufa* der taz erzählt, die in Herat bei der Stadt arbeitet. | |
| ## Enorm hohes Verteidigungsbudget | |
| Die Hälfte des Talibanbudgets fließt [7][laut dem Wirtschaftsmagazin] The | |
| Economist allerdings in den Bereich Verteidigung, obwohl sich das Regime | |
| nur marginalen inneren und keinen äußeren Bedrohungen gegenübersieht. Die | |
| Talibanführung muss ihre Kämpfer weiterhin bezahlen, denn sie kann sie | |
| nicht demobilisieren, weil die schrumpfende Wirtschaft sie nicht | |
| absorbieren kann. Der Gesamtetat von umgerechnet 2,6 Milliarden US-Dollar | |
| ist schon mit einem Defizit von 500 Millionen belastet. Offenbar hoffen die | |
| Taliban, das Loch durch erhöhte humanitäre Gelder und Entwicklungsgelder zu | |
| stopfen. | |
| Bisher dominiere bei den Taliban „noch die Ideologie über Pragmatismus“, | |
| [8][wie der afghanische Journalist Fazelminullah Qazizai schreibt]. Doch | |
| wie bereits während der ersten Herrschaft der Taliban kommt ihre | |
| Religionspolizei Amr-bil-Maruf kaum hinterher, alle Verbote durchzusetzen. | |
| Allerdings kann niemand in Afghanistan sicher sein, den Häschern nicht doch | |
| in die Arme zu laufen. | |
| Ob und wann ihre Führung begreifen wird, dass der Ausschluss von Frauen und | |
| Mädchen aus weiten Bereichen des öffentlichen Lebens mit der Welt des 21. | |
| Jahrhunderts nicht zu vereinbaren ist, ist unklar. Woher Ärztinnen und | |
| Lehrerinnen kommen sollen, wenn der weibliche Nachwuchs aus den | |
| Universitäten ausbleibt, ist ihr Geheimnis. | |
| Trotzdem sitzen die Taliban ein Jahr nach ihrer erneuten Machtübernahme | |
| mangels einer organisierten Opposition vorerst fest im Sattel. | |
| Afghan:innen, die mit offenem Widerstand nicht ihr Leben riskieren wollen, | |
| bleiben zwei Optionen: das Land verlassen oder sich anpassen und etwas | |
| persönlichen Spielraum bewahren. So wie Schah Gul und ihre Freundinnen, die | |
| sich zwar verhüllen, aber nicht so, wie die Taliban es verlangen. Ihr | |
| Bruder in Bamian, so erzählt Schah Gul der taz, schloss sich unterdessen | |
| der Taliban-Moralpolizei an: „Zögernd, weil es keine anderen Jobs gibt.“ | |
| Mitarbeit: Sayeda Rahimi, Kabul | |
| * Die Namen der interviewten Frauen wurden zu ihrem Schutz verändert | |
| 14 Aug 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Taliban-schraenken-Rechte-weiter-ein/!5853171 | |
| [2] /Bildungsmisere-in-Afghanistan/!5840287 | |
| [3] https://reliefweb.int/report/afghanistan/briefing-emergency-relief-coordina… | |
| [4] /Naturkatastrophe-in-Afghanistan/!5859758 | |
| [5] https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/war-and-peace/living-with-t… | |
| [6] https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---asia/---ro-bangkok/documents/br… | |
| [7] https://www.economist.com/asia/2022/06/08/the-taliban-government-has-proved… | |
| [8] https://newlinesmag.com/newsletter/for-now-ideology-trumps-pragmatism-in-af… | |
| ## AUTOREN | |
| Thomas Ruttig | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Afghanistan | |
| Taliban | |
| Frauenrechte | |
| Scharia | |
| GNS | |
| Podcast „Vorgelesen“ | |
| Schwerpunkt Afghanistan | |
| Schwerpunkt Afghanistan | |
| Schwerpunkt Afghanistan | |
| Jair Lapid | |
| Schwerpunkt Afghanistan | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Anschlag in Afghanistan: Detonation unter der Weste | |
| Bei einem Selbstmordattentat in einer Moschee nahe Herat werden mindestens | |
| 18 Menschen getötet. Laut Berichten habe sich der IS zu der Tat bekannt. | |
| 100.000 Menschen betroffen: Monsun flutet Afghanistan | |
| Durch die Machtübernahme der Taliban ist Afghanistan international | |
| isoliert. Das erschwert die Katastrophenhilfe. | |
| Ein Jahr Afghanistan unter den Taliban: Bunter als erlaubt | |
| Checkpoints, ausgebrannte Autos und Frauen auf der Straße, die nicht voll | |
| verschleiert sind: Ein Roadtrip durch das „Islamische Emirat“ Afghanistan. | |
| Afghanistan und der Strafgerichtshof: Verzögerte Gerechtigkeit | |
| Die Untersuchung der Kriegsverbrechen in Afghanistan stockt. Denn | |
| international ist nicht geklärt, wer das Land diplomatisch vertritt. | |
| Ortskräfte der Bundeswehr in Afghanistan: „Ich weiß, dass sie mich suchen“ | |
| Vor einem Jahr eroberten die Taliban Afghanistan. Noch immer hat | |
| Deutschland nicht alle ehemaligen Ortskräfte der Bundeswehr gerettet. |